Corona in Norwegen

Schneller Lockdown mit Folgen

21:48 Minuten
Ein Schild, das auf die Schließung hinweist, steht im März auf einem Fußballfeld im norwegischen Horten.
Fußballfeld geschlossen: In Norwegen reagierte man in der Pandemie zügiger als anderswo in Europa. © imago images / Bildbyran
Von Michael Frantzen · 22.09.2020
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Das Kontrastprogramm zum Nachbarn Schweden: Kaum ein anderes europäisches Land hat so schnell und drastisch auf die Coronapandemie reagiert wie Norwegen. Lockdown am 12. März: Häfen, Flughäfen, Schulen und Kitas waren dicht. Zu Recht?
Das kann ja heiter werden. Es ist zehn Uhr morgens – und Svenn-Erik Mamelund steht im weißen Bademantel in der Eingangstür seines Hauses in Skedsmokorset, einem verschlafenen Nest eine halbe Autostunde entfernt von Oslo, der norwegischen Hauptstadt. Und schaut verdattert. Wie? Interview? Welches Interview? Sekunden später bricht der Sozialwissenschaftler in schallendes Gelächter aus. Stimmt! Da war doch was.
Doch so leicht ist der Wuschelkopf nicht aus der Fassung zu bringen. Eine Viertelstunde später sitzt Svenn-Erik frisch geduscht an seinem Wohnzimmertisch, links die Kaffeetasse, rechts der Wäschestapel. Homeoffice auf Norwegisch.
Ein Mann in kurzen Hosen und Sweater sitzt vor seinem PC am Schreibtisch.
Forschungsschwerpunkt Spanische Grippe - Svenn-Erik Mamelund, Pandemie-Spezialist von der Städtischen Universität Oslo.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Der Wissenschaftler von der Städtischen Universität Oslo ist dieser Tage ein gefragter Mann, sein Forschungsschwerpunkt: die verheerende Spanische Grippe von 1918-20. Morgen hält er wieder Vorlesung. Über die Urmutter aller Pandemien, online, vor über hundert Studierenden.
"Das ist nicht mehr nur ein Kapitel aus der Vergangenheit. Wir erleben ja gerade selbst eine Pandemie. Meine Vorlesung ist zum Selbstläufer geworden. Ich muss nicht mehr lang und breit erklären, warum Pandemien so interessant sind. Deshalb: Ja, durch Corona ist es einfacher, den Studierenden meine Forschung näher zu bringen."

"Der Lockdown war richtig"

Im 5,5-Millionen-Einwohnerland hat sich Svenn-Erik nicht nur Freunde gemacht. Als einer von wenigen hat der streitbare Forscher den harten Lockdown kritisiert, den die norwegische Premierministerin Erna Solberg im März durchsetzte.
Doch das sieht er inzwischen anders: "Ich denke, der Lockdown war richtig. Ich war ja anfangs skeptisch. Das öffentliche Leben auf null herunterzufahren: Das hat mir Sorgen bereitet. Genau wie die negativen Nebeneffekte, die höhere Arbeitslosigkeit und die damit einhergehenden sozialen und psychischen Folgen. Aber im Nachhinein muss ich sagen, es war die richtige Strategie. Unsere Infektions- und Todeszahlen sind niedrig, es hat funktioniert."
Neben den Bahnhofsgleisen steht am Bahnsteig ein großes gerahmtes Plakat mit Warnhinweisen.
Glimpflich davongekommen - Corona-Warnhinweis am Hauptbahnhof von Oslo© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Nur etwas mehr als 12.000 Covid-19-Infizierte, keine 270 Corona-Todesfälle: Norwegen ist damit relativ glimpflich davongekommen, auch wenn die Zahl der Neuinfektionen langsam wieder steigt. Szenen wie im italienischen Bergamo hat es zwischen Oslo und Nordkap nicht gegeben. Keine Leichensäcke, keine überfüllten Krankenhäuser.
Wirtschaftlich aber sieht die Sache anders aus. Der Billigflieger Norwegian hat Tausende entlassen. Die Arbeitslosigkeit ist zwischenzeitlich auf fast elf Prozent geklettert, so hoch wie zuletzt vor 80 Jahren. Und die Nachfrage nach Öl und Gas, den norwegischen Exportschlagern: coronabedingt eingebrochen.

Corona ist noch lange nicht vorbei

Wirtschaftlich sind andere Länder besser durch die Krise gekommen. Schweden etwa. Mit seinem Lockdown light.
"Über die verschiedenen Ansätze diskutieren wir in den nordischen Ländern intensiv. Es ist wie bei einem Laborversuch: Welches Modell hat wie funktioniert? Wie beeinflusst der schwedische Ansatz die Folgen der Pandemie, wie der norwegische? Was wir bislang festhalten können, ist, dass die Übersterblichkeit wegen Corona in Schweden viel höher ist als bei uns. Besonders unter alten Leuten. Aber es ist noch zu früh für ein abschließendes Urteil. Die Spanische Grippe zeigt: Pandemien verschwinden nicht von heute auf morgen. Wer weiß: Vielleicht kommen wir in zwei Jahren zu ganz anderen Schlüssen. Eines ist klar: Covid-19 ist noch lange nicht vorbei."
Ein Mann mit Nickelbrille und Halbglatze sitzt am Schreibtisch vor seinem PC.
"Jugendlichen fällt es schwer, zu Hause zu bleiben", sagt Knut Sørli von der Internationalen Schule von Oslo.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Knut Sørli nickt zufrieden. Einen neuen Coronafall unter seinen 630 Schülern und Schülerinnen will der Personalchef der Eliteschule unbedingt vermeiden.
Der sportliche Typ im orangen Poloshirt kann sich noch genau erinnern, wie am 13. März nachts um halb zwölf sein Handy klingelte und jemand vom Gesundheitsamt nur etwas von Skiurlaub, Österreich, Corona murmelte. Keine neun Stunden später war seine Schule geschlossen – als erste Norwegens.
Gut ein halbes Jahr ist das her, die Schule längst wieder offen: Doch der Schock sitzt Knut immer noch in den Knochen. Zumal der Herbst vor der Tür steht, möglicherweise: eine zweite Coronawelle. Und dann?
"Schwierige Frage. Ich hoffe, unsere Schule kann offenbleiben", sagt er. "Unseren Kindern und Jugendlichen fällt es schwer, zu Hause zu bleiben, besonders denen, die so und so schon Probleme haben. Ich hoffe, wir bleiben offen, selbst wenn wir erneut einen Coronafall haben sollten. Wir würden nicht die ganze Schule schließen, sondern nur die betroffene Klasse für zehn Tage in Quarantäne schicken. Aber klar ist: Unsere Lehrer müssen flexibler werden um sicherstellen, dass sie die Klassen auch online unterrichten können."

Karotten essen und Hygieneplan entwickeln

In den Sommerferien hat Knut viel Zeit am Computer verbracht: Er hat einen Hygieneplan entwickelt, die Stundenpläne entzerrt – und pfundweise Karotten gegessen. Der Pädagoge zeigt lachend auf das Regal neben seinem Schreibtisch. Seine Nervennahrung: Sie liegt immer griffbereit. Er kann sie gut gebrauchen.
Stress gibt es nämlich auch zu Hause. Der Familienvater verzieht das Gesicht. Schwieriges Thema. Schließlich geht es um seine zwei Töchter. Beide studieren in Schottland, die Ältere Informatik, die Jüngere Psychologie. Normalerweise, denn wegen Corona sitzen sie seit einem halben Jahr in Norwegen fest.
"Corona hat alles verändert", sagt Knut Sørli. "Plötzlich wieder seine zwei erwachsenen Töchter bei sich zu haben, das ist schon speziell. Sie sind es gewöhnt, ihr eigenes Leben zu leben. Die eine geht in ein paar Wochen zurück nach Schottland an die Uni, sie hält es einfach nicht mehr aus. Die meisten Veranstaltungen finden zwar online statt, aber sie will endlich wieder in ihre eigene Wohnung."
Ein kahlköpfiger Mann in Anzug steht vor einer großen blauen Leinwand.
"Die Pandemie traf uns wie ein Tsunami", sagt Bjørn Guldvog, Direktor des "Nationalen Instituts für Gesundheit".© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Testen. Isolieren. Rückverfolgen: So lautet – unweit des Autobahnrings - das Mantra von Bjørn Guldvog, dem Direktor des "Nationalen Instituts für Gesundheit", so etwas wie das Robert Koch-Institut Norwegens.
"Wir waren gut vorbereitet, würde ich sagen. Aber die Pandemie hat uns fast mit der Wucht eines Tsunamis getroffen", meint er. "Wer konnte schon ahnen, dass Corona so schnell Europa erreichen würde – und Infizierte nach Norwegen kommen würden. Das hat uns anfangs einige schlaflose Nächte bereitet. Deshalb: Ja, die Pandemie kam überraschend."

"Natürlich bereitet uns eine zweite Welle Sorgen"

Der Mann im blauen Designeranzug hat in den großen Besprechungssaal geladen. Sicher ist sicher. Draußen quälen sich Teslas und Benziner in Schrittgeschwindigkeit an einer Tagesbaustelle vorbei, drinnen dagegen: kaum ein Mucks. Kein Wunder, die meisten von Guldvogs Kollegen sind im Homeoffice.
Neben der Premierministerin und dem Gesundheitsminister ist der drahtige Wissenschaftler das Gesicht der norwegischen Coronastrategie. Jemand soll erklären, warum das mit den versprochenen 35.000 Tests pro Woche immer noch nicht klappt: Dann tritt Guldvog vor die Kameras. Jemand soll die Norweger überzeugen, Gesichtsmasken im öffentlichen Nahverkehr zu tragen. Bislang ist das freiwillig. Auch das übernimmt er, aus gutem Grund.
"Natürlich bereitet uns eine zweite Welle Sorgen", sagt er. "Wir stochern alle im Nebel. Bislang ist es uns relativ gut gelungen, die erste Welle niedrig zu halten. Einige haben im Sommer schon gedacht, die Pandemie sei vorbei, aber wir haben es nicht geschafft, das Virus komplett auszumerzen. Natürlich haben wir Angst, dass es im Herbst viele neue Infektionsherde geben könnte. Wenn es uns nicht gelingen sollte, diese Herde einzudämmen, könnte möglicherweise eine zweite Coronawelle übers Land schwappen. Unsere Strategie ist deshalb, Coronafälle lokal zu begrenzen und so viel wie möglich zu testen, um die Kontrolle zu behalten."
Eine Frau mit blondem hochgestecktem Haar und Brille sitzt lächelnd an ihrem Schreibtisch vor ihrem PC.
Alle Geburtstagsgäste wegen Corona ausgeladen - Anne-Kari Holm, Bürgermeisterin von Halden.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Alles unter Kontrolle: Das galt lange auch in Halden, der Grenzstadt rund 100 Kilometer südlich von Oslo. Gut 30.000 Einwohner, rund 2500 Industrie-Arbeitsplätze, vier Grenzübergänge ins benachbarte Schweden. Bürgermeisterin Anne-Kari Holm rattert im historischen Rathaus die Eckdaten ihrer Gemeinde nur so herunter. Nicht zu vergessen, vom 23. Mai bis zum 5. August coronafrei. Und dann das.
"Ich muss sagen, ich war schon ziemlich enttäuscht, als wir im August wieder 20 Neuinfektionen hatten", sagt sie. "Ich dachte: Jetzt haben wir wieder den Salat. Aber wir haben die Situation unter Kontrolle. Wir wissen, wo sich die Betroffenen infiziert haben. Es sind Reiserückkehrer und Leute, die beim Campen in Norwegen Kontakt zu infizierten Ausländern hatten. Doch das Ganze hat auch sein Gutes: Wir sind wieder vorsichtiger. Im Sommer dachte auch ich, wir seien aus dem Gröbsten heraus. Doch das stimmt nicht."

Eine 75-jährige Bürgermeisterin im Krisenmodus

Seit gut einem Jahr ist die Frau mit den funkelnden, blauen Augen im Amt – und wegen Corona die halbe Zeit im Krisenmodus. Anfangs, erzählt die Zentrums-Politikerin, habe sie sich schon gefragt, warum sie sich das antue mit ihren 75.
Doch das habe sich gelegt: "Nein, wegen meines Alters mache ich mir keine Sorgen. Ganz und gar nicht. Wie alle anderen wasche ich mir brav die Hände und halte Abstand. Was allerdings schade ist: Ich musste meine Geburtsfeier absagen, ich bin ja im August 75 geworden. Ich hatte 45 Gäste geladen, doch ich musste alle wegen Corona ausladen. Das war schon sehr, sehr traurig."
Hafenansicht der norwegischen Grenzstadt Halden.
Grenzstadt zu Schweden: Halden hat 30.000 Einwohner und liegt rund 100 Kilometer südlich von Oslo.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Anne-Kari geht zum Fenster ihres Büros im ersten Stock. Sie zeigt nach rechts: Da oben auf dem Berg thront sie, Norwegens größte Festung. Und in die andere Richtung liegt schon Schweden. Noch immer sind alle vier Grenzübergänge dicht.
Die mehrfache Großmutter seufzt leise. Sie ist da hin- und hergerissen. Einerseits findet sie die Grenzschließung gut, wegen der viel höheren Infektionen in Schweden. Andererseits: Schon jetzt leiden die einheimischen Export-Unternehmen aus der Papier- und Verpackungsindustrie an der geschlossenen Grenze, ist die Arbeitslosigkeit auf sechs Prozent geklettert. Sechs Prozent: Für eine Stadt wie Halden ist das eine Menge, normalerweise herrscht Vollbeschäftigung. Nur Coop, Kiwi und Co., die Supermärkte, freuen sich.
"Unsere Einzelhändler haben wegen Corona ihren Umsatz verdoppelt", sagt die Bürgermeisterin. "Normalerweise fahren wir ja oft über die Grenze nach Schweden zum Einkaufen, in Schweden ist vieles billiger. In Strømstad, unserer schwedischen Nachbarstadt, wimmelt es sonst von Norwegern, norwegischen Booten, norwegischen Autos. Wir sind überall. Es heißt, einige Einkaufscenter auf der schwedischen Seite ständen kurz vor dem Bankrott. Ihre einzige Hoffnung ist, dass Norwegen wieder die Grenze öffnet."
Eine blonde Frau mit Pferdeschwanz und schwarzer Volant-Bluse steht an einem kleinen Stehtisch.
"Klar bin ich sonst rüber nach Schweden gefahren" sagt Mona Schau vom Verpackungshersteller VPK-Peterson in Halden.© Deutschlandradio / Michael Frantzen
Sehnsucht nach drüben hat auch Mona Schau, Personalchefin beim Verpackungshersteller VPK-Peterson im Industriepark unweit der Grenze.
"Weißt du, wenn dir etwas genommen wird, vermisst du es plötzlich. Klar bin ich sonst rüber nach Schweden gefahren. Fürs Wochenende. Oder um Freunde und Verwandte zu besuchen. Im Sommer ist ein schwedischer Freund von mir gestorben, aber ich konnte nicht zur Beerdigung, wegen der Corona-Einschränkungen. Das war echt traurig. Es ist schon ein komisches Gefühl, dass unsere Freiheit so eingeschränkt wird. Aber umso mehr wissen wir es zu schätzen, wenn wir uns wieder frei bewegen können."

"Ohne Test und Quarantäne läuft gar nichts"

Hinter der 37-Jährigen liegen anstrengende Wochen und Monate. Die mehrere Fußballfelder große weiße Fabrik, sie gibt es noch nicht lange. Im März war Einweihung, sollten die Papierwalzen angeworfen, die Angestellten von ausländischen Experten geschult werden. Doch dann kam Corona, der Lockdown, mussten die Spezialisten aus Deutschland und Japan Norwegen Hals über Kopf verlassen.
Stimmt alles, meint Mona, während sie im Foyer der Fabrik peinlich darauf bedacht ist, gebührend Abstand zu halten, doch jammern hilft auch nicht. Viel lieber verweist sie darauf, dass sich alles wieder halbwegs normalisiert habe, sie in den letzten zwei Monaten sogar mehr verkauft hätten als geplant, wegen der größeren Nachfrage nach Verpackungsmaterialien.
"Wir arbeiten gut mit der Grenzpolizei und der Gemeinde Halden zusammen", erzählt sie. "Seit Juli dürfen unsere ausländischen Mitarbeiter wieder über die Grenze nach Norwegen. Vorausgesetzt, ihr Coronatest ist negativ und sie gehen nach Grenzübertritt zehn Tage in Quarantäne. Ohne Test und Quarantäne läuft gar nichts: Da lassen wir nicht mit uns spaßen. Wenn es in unserer Fabrik einen Coronafall gäbe, würden wir kostbare Produktionszeit verlieren. Das können wir uns nicht leisten. Außerdem ist uns die Gesundheit unserer Mitarbeiter wichtig. Deshalb handhaben wir das so."
Die Frau in der schwarzen Jeans steht auf. Sie will zurück nach Hause. Eine halbe Stunde dauert die Fahrt nach Sarpsborg, ihrer Heimatstadt. Mona dürfte auf der Hut sein. Anfang des Monats sind mehr als 40 Leute in Sarpsborg und der Nachbargemeinde Frederikstad positiv auf Covid-19 getestet worden. Natürlich hat auch Mona davon gehört. Angst, meint sie beim Herausgehen, nein, Angst habe sie keine. Schließlich seien die Infizierten Mitglieder einer Freikirche. Und die blieben gewöhnlich unter sich, denkt Mona.
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