Frankreichs Sozialisten wollen Arbeitnehmerrechte in EU-Verfassung

Moderation: Burkhard Birke und Ulrich Ziegler · 13.01.2007
Der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten in der französischen Nationalversammlung, Jean-Marc Ayrault, fordert einen neuen Vertragstext für die EU-Verfassung. In die Neufassung müssten soziale Kriterien wie Arbeitnehmerrechte, Zugang zu Bildung, Chancengleichheit und das Ziel eines garantierten Mindesteinkommens eingeführt werden, sagte Ayrault.
Deutschlandradio Kultur: Lieben Sie Asterix-Hefte?

Jean-Marc Ayrault: Ja, ich kenne alle und ich lese sie wieder, denn das ist sehr interessant.

Deutschlandradio Kultur: Wir fragen Sie deshalb, weil Sie ja nicht nur Fraktionschef der Sozialisten hier in Paris sind, sondern auch seit 17 Jahren Bürgermeister von Nantes. Das Ganze geht auch ohne Zaubertrank.

Ayrault: Warum?

Deutschlandradio Kultur: Weil Sie zwei Aufgaben haben.

Ayrault: Das ist in Frankreich oft der Fall, dass der Abgeordnete auch OB oder Bürgermeister ist. Aber es ist ein Thema, das kann man auch allgemein erläutern: Wie kann man in Frankreich mehr Demokratie in Gang bringen? Das gehört zu einer ganzen Reform, nicht nur für das Mandatproblem, das Sie erwähnt haben, sondern auch für mehr Rechte, für mehr Dezentralisierung und vielleicht auch für mehr Platz für die Sozialdemokratie.

Deutschlandradio Kultur: Jean-Marc Ayrault, das sind ja sehr wichtige Stichworte – mehr Demokratie, mehr Bürgernähe, keine Mandatshäufig. Das sind auch Stichworte, die auf europäischer Ebene eine große Rolle spielen. Jetzt haben die Deutschen mit Kanzlerin Merkel die Ratspräsidentschaft zum 1. Januar übernommen und ich glaube, Frau Merkel wünscht sich was von Frankreich. Können Sie ihr helfen? Können Sie ihr ein Geschenk machen?

Ayrault: Ich bin sowieso davon überzeugt, dass die deutsch-französische Zusammenarbeit für einen neuen Kurs für Europa notwendig ist. Das hat es in der letzten Zeit zu wenig gegeben.

Deutschlandradio Kultur: Woran lag das?

Ayrault: Also, wir haben gute Beziehungen, Chirac, Schröder oder auch mit Merkel, das geht. Aber das ist fast automatisch gelaufen. Der richtige Wille, sich für bestimmte Projekte für die Zukunft Europas zu engagieren, war nicht erkennbar. Es fehlt eine Vision. Was die Außenpolitik betrifft, da war die Zusammenarbeit sehr gut. Vor allem in der Irak-Frage waren wir einig und wir haben Recht gehabt. Das haben auch die Bürger mitgemacht. Sie waren dafür. Aber wir haben die gleiche Arbeit für die Zukunft Europas nicht genauso intensiv diskutiert und abgestimmt. Frankreich hat vor allem nicht immer das gute Einvernehmen gegenüber den neuen Mitgliedsländern gehabt. Und nach dem Nein für die Verfassung hat sich die Rolle Frankreichs bestimmt geschwächt. Frankreich ist heute nicht so gut respektiert, wie in der Vergangenheit, als Frankreich immer als der Motor des europäischen Aufbaus betrachtet wurde. Das wollen wir ändern.

Um das ändern zu können ist ein gutes Verständnis zwischen den Deutschen und den Franzosen notwendig, wir brauchen mehr Austausch, müssen uns besser verstehen um gemeinsam klare Ziele erreichen, um diese deutsche Präsidentschaft zu einem Erfolg machen zu können. Erfolg heißt nicht unbedingt sofort ein Ergebnis. Das braucht noch ein bisschen Zeit. Das Ergebnis können wir vielleicht in 2008, wenn Frankreich die Präsidentschaft der Union übernehmen wird, vorlegen. Aber wir können es zusammen vorbereiten.

Deutschlandradio Kultur: Die Kanzlerin hat klar gesagt, dass sie den Verfassungsprozess wieder beleben möchte. Siw will dass Frankreich sich aktiv daran beteiligt. Ist das überhaupt denkbar in Zeiten, wo Frankreich sich mit sich selbst und den Präsidentschaftswahlen im kommenden Frühjahr beschäftigt?

Ayrault: Europa, die Europäische Union hat manche Fehler gemacht.

Deutschlandradio Kultur: Welche?

Ayrault: Zum Bespiel die ungenügend erklärte Erweiterung. Im vergangenen Oktober haben wir, die französischen Sozialisten in Nantes mit den Kollegen von der SPD und anderen sozialistischen Parteien in der Europäischen Union darüber diskutiert. Wir haben versucht zu verstehen, was in Europa nicht gut läuft, warum die Europäische Idee von den Bürgern nicht mehr so positiv gesehen wird.

Deutschlandradio Kultur: Was denken Sie?

Ayrault: Ich denke vor allem an Arbeitslosigkeit, die Krise unseres Sozialsystems, unseres Sozialstaates. Das ist eine Realität, die von den Bürgern, vor allem von den Arbeitnehmern hart erlebt wird. Franzosen, Deutsche oder Holländer, die Gründerländer des europäischen Projekts waren, sind von Europa nicht mehr so überzeugt wie früher. Das ist für uns eine große Verantwortung.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, man muss, wenn man über die neue Verfassung redet, soziale Garantien einbauen


Ayrault: Ja. Manche Leute fürchten die Globalisierung. Hier stellt sich die Frage. Wie kann sich die Europäische Union, der europäische Kontinent, weiterentwickeln und Werte vor allem der sozialen Gerechtigkeit weiter vorantreiben? Das ist heute ein Problem.

Deutschlandradio Kultur: Wie kann das gehen? Es muss ja jetzt mit der EU-Verfassung weitergehen. Man muss eine Lösung finden. Der alte Vertrag kann nicht wieder dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Muss man einen neuen Vertrag machen, auch mit einem sozialen Element, mit einer Sozialgarantie?

Ayrault: Ja. Ich glaube, wir brauchen sowieso eine neue Verfassung, aber nicht den gleichen Text. Wir können dem französischen Volk nicht damit kommen und sagen: Ihr habt schlecht gewählt, wählt noch mal und dann wird es schon gehen. Das ist unmöglich. Wir müssen Respekt vor den Bürgern haben, die sich entschieden haben. Das ist eine demokratische Notwendigkeit. Wir brauchen eine Neufassung, die sich auch auf eine soziale Dimension verständigt. Zum Beispiel könnten wir manche soziale Konvergenzkriterien bei Arbeiterrechten einführen, auch beim Zugang zu Bildung oder bei der Herstellung von Gleichheitschancen. Das ist möglich, wenn wir es gemeinsamwollen.

Deutschlandradio Kultur: Wie soll das konkret aussehen, Herr Ayrault? Brauchen wir beispielsweise ein garantiertes Mindesteinkommen für alle Bürger in der EU?

Ayrault: Das werden wir versuchen und das kann sich allmählich verwirklichen. Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen den Ländern Zentraleuropas und Osteuropas, aber das können wir allmählich in Gang bringen, wenn wir es wollen. Das Problem des Mindestlohns wird zurzeit nicht nur in Frankreich diskutiert, wir haben ihn schon, sondern auch in Deutschland, und beispielsweise in Schweden. Mit der Übergangsfreiheit stellen sich neue Fragen. Das bedeutet auch, dass wir mit der Erweiterung zunächst einmal eine Pause einlegen müssen. Bei der Türkei-Frage beispielsweise glaube ich, dass die Europäer Recht hatten, wenn sie zum Beispiel bei der Zypernfrage von der Türkei eine klare Haltung forderten.

Deutschlandradio Kultur: Kann man die Türkei definitiv draußen lassen oder muss man das Versprechen einlösen?

Ayrault: Wir müssen klar sein. Wir müssen sagen: Wenn wir Mitglied einer Union sind, die sich auf gemeinsame Werte gründet, dann müssen alle, die beitreten wollen, diese Regeln, diese Werte anerkennen. Das kann gar nicht anders sein.

Deutschlandradio Kultur: Wenn die Türkei diese annimmt und Ségolène Royal sozialistische Präsidentin ist, dann kommt die Türkei rein?

Ayrault: Nein, das bedeutet, dass wir die Verhandlungen weiterführen können und müssen, weil wir sie schon angefangen haben. Am Ende des Prozesses werden wir sehen, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union sein kann oder nicht. Diese Frage ist sehr interessant, weil die Türkei sehr daran interessiert ist, neues Mitglied der Europäischen Union zu werden. Aber das ist auch für uns ganz wichtig, weil wir den Kulturkonflikt, oder die Fragen, die zwischen dem Westen und dem Islam bisher nicht geklärt wurden, an diesem Punkt besprechen müssen.

Aber wir haben noch ein weiteres Problem. Wir haben ein zu schwaches Wachstum in Europa. Das ist ein Problem für die Arbeit. In Deutschland verbessert sich die Lage ein wenig, Stichwort Exportweltmeister, aber Deutschland nach der Wiedervereinigung, aber auch Frankreich und Italien, wir alle leiden unter der Massenarbeitslosigkeit, vor allem wenn es die jungen Leute trifft. Dieses Problem müssen wir unbedingt lösen. Wie können wir Wachstum fördern, um den europäischen Bürgern wieder Hoffnung zu geben?

Deutschlandradio Kultur: Stichwort Zentralbank. Sie wollen zum Beispiel, dass die Zentralbank die Zinsen senkt, wenn die Regierung das will, um damit die Konjunktur zu beeinflussen.

Ayrault: Nein. Wir haben entschieden, die Zentralbank ist unabhängig und muss es bleiben. Darüber gibt es kein Missverständnis. Aber was fehlt und mit der Euro-Währung normalerweise zusammengehen sollte, ist eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik, der Steuerpolitik. Das ist nicht der Fall. Es gibt keine Diskussion über die Harmonisierung unserer Steuersysteme. Das wird unilateral entschieden. Auch Frankreich hat es mit seiner Steuerpolitik in den letzten fünf Jahren so gemacht, ohne richtige Diskussion. Es gibt keine richtige Politik der Euro-Gruppe.

Deutschlandradio Kultur: Reden wir noch einmal über die Verfassungsfrage. Sie haben Punkte angesprochen, die besser koordiniert werden müssen: Der Verfassungsvertrag kann nicht alles regeln. Aber was müsste er im Kern aber klarstellen, damit das passiert, was Sie sich wünschen? Sprich: bessere Koordination, mehr Wirtschaftsleistung, sozialeres Europa.

Ayrault: Wir haben Schwierigkeiten uns zu entscheiden. Mit 27 Ländern wird es immer schwieriger. Deswegen müssen wir neue Regeln einführen in dem Projekt der Verfassung. Für mich ist sehr wichtig, dass wir mit 27 Ländern zusammen entscheiden können – schneller, leichter. Das könnten wir erreichen, wenn wir es wollen.

Deutschlandradio Kultur: Mehrheitsprinzip?

Ayrault: Das war bei der Diskussion mit den Bürgern in Frankreich nicht die Frage.

Deutschlandradio Kultur: Aber Frankreich hat früher gerade in Agrarfragen immer auf seinem Vetorecht bestanden. Glauben Sie wirklich, dass sich Frankreich – wenn nun die Sozialisten an die Macht kommen – dem Mehrheitsentscheidsrecht auf EU-Ebene beugt?

Ayrault: Das kommt darauf an. Wir sind nicht allein vorsichtig, was zum Beispiel die Sozialpolitik betrifft. Die Schweden waren auch vorsichtig, weil sie eine sehr positive soziale Gesetzgebung haben. Sie fürchten, wenn wir alles zusammentun, es geht dann nicht nach oben, sondern nach unten. Das wollen wir nicht.

Deutschlandradio Kultur: Die Institutionen, das soziale Element, was muss noch in diesen "kleinen" Vertrag?

Ayrault: Die Charta der Grundrechte muss bleiben. Der dritte Teil des Textes war in Frankreich in Diskussionen, Debatten mit den Bürgern oft das Kernproblem. Das ist sehr schade, weil auch die Bürger in Frankreich gut verstehen können, dass wir in Zeiten der Globalisierung ein stärkeres Europa brauchen. Wir haben große Probleme zu regeln, das Energieproblem zum Beispiel, aber das müssen wir lösen. Dann Forschung, Bildung, Ausbildung, wir haben zwar diese Lissabon- Strategie, aber was hat es konkret gegeben? Keine konkrete Initiative!

Deutschlandradio Kultur: Beispiel Energiepolitik: Brauchen wir so etwas – auch mit den Erfahrungen, was Russland angeht – wie eine gemeinsame Absprache, eine koordinierte europäischen Energiepolitik? Wird Frankreich oder werden die französischen Sozialisten aktiv werden?

Ayrault: Es gibt das Problem der Lieferungen von Gas und Erdöl. Wir französischen Sozialisten denken, dass wir vielleicht stärker wären, wenn wir zusammen verhandeln. Bis jetzt verhandelt jedes Land – zum Beispiel auch Deutschland – allein. Das ist nicht nur eine Wirtschaftsfrage, das ist auch eine Strategiefrage. Wir brauchen Sicherheit und Investitionen für den Energietransport in Europa. Das müssen wir viel mehr tun. Und wir haben auch die Aufgabe, viel mehr in neue Energien auf europäischer Ebene zu investieren. Jedes Land leistet seinen Teil, aber ich denke, dass im Haushalt der Europäischen Union mehr Geld für Innovationen, Investitionen für Fragen der Umwelt und in erneuerbare Energien zur Verfügung gestellt werden sollte.

Deutschlandradio Kultur: Atomenergie spielt hier auch eine Rolle. Da gibt es unterschiedliche Positionen. Frankreich hat viel Atomstrom, Deutschland möchte aussteigen. Wie kann man da zu einer gemeinsamen europäischen Lösung kommen? Oder müssen das die einzelnen Länder dann doch allein entscheiden?

Ayrault: Wir brauchen nicht alles gemeinsam entscheiden. Wir wissen, dass eine gemeinsame Entscheidung über diese Frage fast unmöglich. ist. Also sollten wir das jedem Land selbst überlassen. Aber wenn wir die anderen Probleme, die ich erwähnt habe, gut regeln, wäre das schon ein sehr großer Fortschritt sein.

Deutschlandradio Kultur: Also brauchen einen europäischen Finanzminister, um die Fragen mit der Zentralbank zu regeln, einen Präsidenten, vielleicht einen Energieminister?

Ayrault: Ja, und das bedeutet, wir brauchen mehr Politik auf der europäischen Ebene. Das habe ich viel besser nach dem Ergebnis der Referenden in Frankreich oder Holland verstanden,

Deutschlandradio Kultur: Mehr, obwohl die Bürger europamüde und euromüde sind?

Ayrault: Wir haben die Kommission und wir haben den europäischen Ministerrat. Von Zeit zu Zeit versammeln sich die Regierungschefs und die Minister, aber oft sind Vertreter auf der diplomatischen Ebene in Brüssel dabei – warum nicht dauernd ein Politiker. Diese Distanz zwischen den Bürgern und den europäischen Institutionen und Entscheidungen ist für den europäischen Aufbau sehr schlecht. Wenn etwas gut ist, ist es unsere Arbeit, wenn es schlecht gemacht ist, dann wird Europa dafür verantwortlich gemacht. Aber das ist nicht die Wahrheit. Manche Regierungen, die gemeinsame europäische Entscheidungen getroffen haben, wollen es vor ihren Bürgern nicht zugeben. Das ist gefährlich. Mehr Demokratie bedeutet auch, dass die institutionelle Seite in diesem Sinne eine Rolle spielt. Das heißt, mehr Macht für das Europäische Parlament.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ayrault, Sie haben gesagt, man muss dem französischen Volk einen neuen Vertrag vorlegen. Ich glaube, das ist auch die Position von der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal. Der wahrscheinliche Kandidat der Konservativen, Innenminister Nicholas Sarkozy, will auch einen neuen Vertrag. Wo liegt denn da der Unterschied zwischen den beiden Positionen?

Ayrault: Das ist noch nicht ganz klar, was Nicholas Sarkozy hier vorschlägt. Ich weiß es noch nicht genau. Er hat von "Mini-Vertrag" gesprochen, was die institutionelle Seite betrifft. Was die Charta der Grundrechte betrifft, so weiß ich nicht, was er denkt. Ich weiß nicht, was er über die Sozialpolitik, über die Koordinierung der Wirtschafts- und Energiepolitik denkt. Ich weiß es noch nicht.
Ich jedenfalls bin für ein konkretes Europa – für Ausbildung, Forschung, Innovation.

Deutschlandradio Kultur: Auch für Migrationspolitik?

Ayrault: Migrationspolitik ist auch notwendig. Die Herausforderung für alle überzeugten Europäer ist, ein bestimmtes Zivilisationsmodell zu verteidigen, für das die verschiedenen demokratischen Kräfte in Europa schon sehr lange gekämpft haben. Das gehört zu einem gemeinsamen europäischen Modell. Aber was sehen wir? Wir sehen in manchen Teilen unseres Kontinents, in unseren Städten oder in manchen Vierteln viel zu viel Armut, zu viele Integrationsprobleme. Das dürfen wir nicht nur als ein nationales Problem betrachten, sondern müssen es auch als ein gemeinsames Problem sehen. Es gibt schon manche europäische Politik in dieser Richtung, aber man könnte vielleicht mehr tun.

Ich denke an die Jugend, die zum Beispiel oft ohne Ausbildung ist. Das ist nicht nur ein Problem für Frankreich oder für Deutschland, Italien, Spanien, sondern auch für die neuen Länder. Nach der Wiedervereinigung sind die Ausländer auch für Deutschland ein großes Problem. Wenn hier nicht genug getan wird, dann haben die Völker, die Bürgerinnen und Bürger, vor allem die Jungen keine Hoffnung mehr und sie hören mehr den Abenteurern, zum Beispiel den Rechtsradikalen, zu. Das ist gefährlich, auch in Deutschland, auch in Frankreich, wo Le Pen immer so stark ist, aber auch in Polen und so weiter.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, wir brauchen zum einen mittelfristig sicherlich die Verfassung für Europa, damit Europa insgesamt handlungsfähig bleibt. Andererseits, wenn ich Sie richtig verstanden habe, plädieren Sie auch für diese ganz konkreten Projekte, sozusagen Europa zum Anfassen.

Ayrault: Wenn wir allein mit einem neuen Verfassungsvertrag das ideale Europa bauen wollen, werden wir scheitern. Wir haben die Aufgabe, die besten Entscheidungsregeln zu finden. Das ist unsere Aufgabe für 2008. Das bereiten wir mit der deutschen Regierung jetzt vor, um uns dann in konkreten Projekten zu engagieren. Wir sind im Januar. Die Arbeit fängt an. Wir haben manches Rendezvous. Das größte Rendezvous ist 2008.

Deutschlandradio Kultur: Was passiert bis 2008 konkret?

Ayrault: Ich denke zum Beispiel an die Energiepolitik. Neue Energie können wir doch ohne einen neuen Vertrag entscheiden. Das kann man tun. Es ist die Frage des politischen Willens. Gibt es noch in unseren Regierungen, in unseren verschiedenen Ländern einen richtigen Willen, eine richtige Überzeugung, ein Feuer für Europa? Die europäische Europa muss wiederbelebt werden. Das ist die Aufgabe der deutschen Ratspräsidentschaft und von den nächsten, und auch von den französischen Regierenden, an der Spitze. Der Motor muss wieder in Gang kommen.

Deutschlandradio Kultur: Die Begeisterung fehlt Ihrer Meinung nach?

Ayrault: Ja, die Begeisterung fehlt und die Überzeugung, dass wir eine historische Aufgabe haben, vor allem, weil wir heute in Zeiten der Globalisierung leben, was am Anfang der europäischen Konstruktion nicht der Fall war. Wir brauchen noch mehr Europa als früher.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ayrault, Sie haben gesagt, der deutsch-französische Motor muss wieder laufen. Das wird natürlich auch davon abhängen, wer nächster Präsident in Frankreich wird. Morgen wird die Regierungspartei UMP ihren Kandidaten, Innenminister Nicholas Sarkozy, bestimmen. Wünschen Sie sich oder würden Sie sich freuen, wenn Jacques Chirac noch mal antritt?

Ayrault: Ich glaube es nicht, ich hoffe es auch nicht. Er ist ein sympathischer Mann, aber es ist nicht das Problem der Person, das ist das Problem der Politik. Er war kein überzeugter Europäer. Das heißt, das Europamodell von Sarkozy ist das von Chirac – viele, viele Versprechungen, aber ohne politische Vision für Europa.
Wir brauchen heute Politiker, die Mut haben, die Visionen haben und davon überzeugt sind, dass wir unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Zeiten der Epoche neue Hoffnung geben wollen, dass das europäische Projekt wieder in Gang gebracht werden muss. Das müssen wir auch im Wahlgang – was die Sozialisten betrifft – ganz klar erklären.

Deutschlandradio Kultur: Gehen wir mal davon aus, dass Frankreich im Frühsommer die erste Präsidentin hat. Wird Sie Ihrer Meinung nach das Feuer entfachen, von dem Sie reden? Wird sie Europa wieder voranbringen, mit dazu beitragen, dass es ein sozialeres Europa gibt?

Ayrault: Ja, ich glaube schon. Sie ist in der Tradition von Francoise Mitterand.

Deutschlandradio Kultur: Herr Ayrault, wir danken recht herzlich für dieses Gespräch.