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Volksgesetzgebung
Das Für und Wider der direkten Demokratie

Volksgesetzgebung ist nicht gleichzusetzen mit direkter Demokratie. Mit dieser Feststellung beginnt der Politikwissenschaftler Frank Decker seine Streitschrift zum Thema. Volksgesetzgebung sei ein Verfahren, das von Bürgern selber ausgelöst werde. Damit schaffe der Volkswillen Konkurrenz zum parlamentarischen Mehrheitswillen.

Von Moritz Küpper |
    "Wir sagen Nein zur Duchsetzungsinitiaitve" - Protestzug in Zürch gegen den Volksentscheid der Schweizerischen Volkspartei; Aufnahme vom 6. Februar 2016
    „Wir sagen Nein zur Duchsetzungsinitiaitve“ – Protestzug in Zürch gegen den Volksentscheid der Schweizerischen Volkspartei; Aufnahme vom 6. Februar 2016 (picture alliance / dpa)
    In der Schweiz sind es fast alltägliche Nachrichten:
    „Am 28. Februar 2016 wird in der Schweiz über die Volksinitiative ‚Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln‘ abgestimmt.“
    „Nach einer Hochrechnung von Sonntagnachmittag stimmten 68 Prozent der Wähler der sogenannten ‚Volksinitiative gegen die Abzockerei‘ zu.“
    „Die Schweizer Bevölkerung hat gesagt: Statt der freien Personenfreizügigkeit müssen Kontingente eingeführt werden. Herzlichen Dank, das hat es gebraucht.“
    Spekulationen mit Nahrungsmitteln, exorbitante Manager-Gehälter oder eben Zuwanderung. Bei vielen Themen greift die Schweizer Bevölkerung selbst ein – und wird damit häufig als Vorbild für Deutschland gepriesen. Gleichzeitig gilt das Modell als Negativbeispiel. Sollte man bei heiklen Themen dem Volk wirklich die pauschale Ja-/Nein-Frage stellen? Frank Decker, Professor der Politikwissenschaften an der Universität Bonn, hat sich rund 15 Jahre lang mit dem Thema beschäftigt und nun seine Erkenntnisse in Buchform zusammengefasst. „Irrweg der Volksgesetzgebung“, so der Titel, der deutlich macht, dass Decker in diesem komplexen Feld eine klare Meinung hat:
    „Die Volksgesetzgebung ist nicht gleich direkte Demokratie. Sondern die Volksgesetzgebung ist eben genau diese Trias von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Das sind also die Verfahren, die von unten, die von den Bürgern selber ausgelöst werden.“ Differenziert der Politikwissenschaftler.
    „Es gibt andere Verfahren, die Regierung selber kann eine Volksentscheidung ansetzen, das war ja der Brexit etwa in Großbritannien. Oder in der Verfassung selber kann bestimmt sein, dass über bestimmte Dinge automatisch ein Volksentscheid stattfinden muss. Ich habe eine große Skepsis, ausgerechnet gegenüber den von unten ausgelösten Verfahren. Eigentlich müsste man ja sagen, das ist eigentlich das fortschrittlichste Instrument, aber dieses Instrument birgt grundsätzliche Schwierigkeiten der Integration in das vorhandene Regierungssystem, weil eine Konkurrenz aufgebaut wird zwischen dem parlamentarischen Mehrheitswillen und dem Volkswillen. Und ich denke, dass das auf die Dauer nicht gut zusammengeht. Das ist eigentlich die Ausgangshypothese.“
    Das Spannungsverhältnis zwischen Verfassung und direkter Demokratie
    „Das demokratische Paradoxon besteht darin, dass eine Demokratie sich mit den demokratischen Mitteln selbst abschaffen könnte, wenn das Volk beziehungsweise die Mehrheit des Volkes es so beschließt. […] Das Paradoxon des Verfassungsstaates liegt wiederum darin, dass der Geltungsanspruch von Verfassungsgesetzen demokratietheoretisch nicht begründet werden kann. Souverän ist das Volk nur im Akt der Verfassungsgebung selbst. Hat es sich durch die Verfassung erst einmal gebunden, sind deren Veränderbarkeit enge Grenzen gezogen ….“
    Es ist, das zeigt auch dieser Auszug, ein forderndes, mitunter schwer zu lesendes Buch. Die Vielzahl der wissenschaftlichen Begriffe, die mitunter umständlichen Formulierungen, beanspruchen jeden Leser. Decker bleibt, ganz Wissenschaftler – trotz zahlreicher praktischer Beispiele – bei einer theoretischen, abstrakten Darstellung und kommt dann doch – Stichwort Streitschrift – zu einer Bewertung:
    „Diese Verfahren sind ja dann von ihrem Grundcharakter her oppositionell. Sie werden meistens eingesetzt, ich habe das auch empirisch überprüft, um gegen ein bereits beschlossenes Gesetz oder ein geplantes Gesetzesvorhaben gleichsam das Veto einzulegen. Das ist aber in der parlamentarischen Demokratie eigentlich nicht vorgesehen. Die parlamentarische Opposition soll kritisieren, sie soll Alternativen aufzeigen, aber sie soll doch nicht selber die Möglichkeit bekommen, die Regierungspolitik zu durchkreuzen.“
    Direkte Demokratie funktioniert schon auf Länderebene kaum
    Verdienstvoll sind die Passagen, in denen Decker die Linien der direkten Demokratie in der deutschen Verfassungsgeschichte aufarbeitet. Besonders informativ – gerade auch in der aktuellen Diskussion – ist zudem die Übersicht über den Status-Quo in der Bundesrepublik Deutschland auf Länderebene. Ergebnis: eher mager. Wobei auch hier wieder der Mechanismus von Darstellung und folgender Interpretation greift:
    „Das heißt, der Widerspruch zwischen dem Modell und der Einlösung in der Praxis, der schon in den Ländern besteht, wäre auf der Bundesebene eher noch größer. Und das würde – unter dem Strich – denke ich, mehr Frustrationen nach sich ziehen, als die Zufriedenheit mit der Demokratie zu erhöhen.“
    Eine Aufstellung der Volksabstimmungen in Europa von den 50er-Jahren bis heute sowie einige praktische Vorschläge komplettieren das Buch. Decker, selbst Mitglied der SPD, weiß, dass die Befürworter der Volksgesetzgebung, eher im linken, also seinem Lager zu finden sind – weshalb das Buch auch einer programmatischen Idee folgt:
    „Ich denke, es wäre aber ganz wichtig und es gibt Anzeichen für zunehmende Bedenken, auch auf der linken Seite, dass hier auch die linken Parteien ihre programmatische Position korrigieren. Insoweit richtet sich das Buch eigentlich eher an die Befürworter der direkten Demokratie als an die Gegner, die meines Erachtens die besseren Argumente haben – zumindest, was die Volksgesetzgebung angeht.
    Doch wer bei dieser hoch-aktuellen, durchaus emotionalen, aber grundlegenden Diskussion mitreden will, dem empfiehlt sich die Lektüre. Und zwar egal, ob Anhänger oder Gegner.
    Frank Decker: „Irrweg der Volksgesetzgebung. Eine Streitschrift“
    Verlag J. H. W. Dietz, 184 Seiten, 16,90 Euro.