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Wegbereiter der modernen Orthopädie

Er war der Gründer der orthopädischen Heilanstalt Göggingen und führte später die Kurbetriebe in Bad Kissingen und Bad Bocklet zu ihrer ersten Blüte. Obwohl Johann Friedrich Hessing nie Medizin studiert hatte, gehört er zu den Pionieren der modernen Orthopädie.

Von Irene Meichsner | 19.06.2013
    "Tage, Wochen, Monate lang nahm ich ein Gelenk vor und grübelte darüber, wie die Knochen geformt seien, wo die Bänder, wo die Sehnenenden der Muskeln sich ansetzen, wie die Muskeln verlaufen müssen, wenn eine bestimmte Bewegung ausgeführt werden soll. Auch darüber dachte ich nach, wie stark der Knochen sein musste, um die Last zu tragen, die auf ihm ruht. Nun kam die Hauptsache: wie kann der einzelne Knochen, der einzelne Muskel oder das Band künstlich ersetzt und im Falle der Erkrankung entlastet oder ganz ausgeschaltet werden?"

    Johann Friedrich Hessing, Wegbereiter der modernen Orthopädie, war schon früh von der menschlichen Anatomie fasziniert. Am 19. Juni 1838 in Schönbronn bei Rothenburg ob der Tauber geboren, machte er zunächst eine Lehre als Schreiner und Orgelbauer, entwickelte nebenher aber auch schon seine ersten Prothesen – ein Holzbein für einen Müller, der seinen Unterschenkel verloren hatte, künstliche Finger für einen Mann, dem bei einem Unfall die Hand abgetrennt worden war. Dass die Orthopädie in den Händen von Laien lag, war typisch für diese Zeit. Denn, so Hessings Biograf Gerhard Grosch:

    "Das Mechanische war den Ärzten fremd. Teilweise erschien ihnen eine gedankliche Kombination von anatomisch-physiologischen Gegebenheiten mit dem Handwerklichen aus Standesbewusstsein unvereinbar."

    Hessings Erfolge sprachen sich herum. Mit einem persönlichen Darlehen von Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, dem Vorsitzenden des bayrischen Ministerrates, gründete Hessing 1868 in Augsburg eine orthopädische Heilanstalt, in der, wie er es in einer Zeitungsannonce formulierte,

    "die Heilung ... nur auf mechanischem Wege durch Anlegung zweckmäßiger orthopädischer Apparate mit Umgehung operativer Eingriffe angestrebt wird."

    Hessing behandelte alle möglichen Krankheiten und körperlichen Defekte: Deformationen an Knochen und Gelenken, Wachstumsstörungen, Lähmungen, Nervenleiden. Auf einem größeren Gelände in Göggingen, heute ein Stadtteil von Augsburg, baute er seine Anstalt zu einem regelrechten Sanatorium aus. Es gab Werkstätten für Schlosser, Drechsler und Schreiner, Gaststätten- und Gesellschaftsräume, seit 1887 sogar ein "Curhaustheater" im Stil der italienischen Spätrenaissance. Zu den Ärzten hatte Hessing ein gespanntes Verhältnis, er war ein streitbarer, selbstherrlicher Charakter. Manche schimpften ihn einen "Kurpfuscher", doch letztlich musste man seinen Erfolg anerkennen.

    "Er war nicht nur ein gottbegnadeter Künstler, der in meisterhafter Weise es verstand, seine Apparate dem kranken Körper anzupassen, sondern auch ein Vorkämpfer in unserer Wissenschaft. Dadurch hat er Deutschland die Führung in der mechanischen Orthopädie verschafft",

    rühmte ihn Fritz Lange, Vorsitzender der "Deutschen Orthopädischen Gesellschaft" in seinem Nachruf. Insgesamt behandelte Hessing rund 60.000 Patienten aus dem In- und Ausland, darunter viel Prominenz. Der Schriftsteller Max Brod bekam als Kind wegen einer Wirbelsäulenverkrümmung ein "Hessingkorsett". Kaiserin Auguste Victoria, die sich bei einem Ausflug in die Berge eine Bänderzerrung zugezogen hatte, half Hessing mit einem sogenannten "Hülsenverband", seiner besonderen Spezialität. Der Verband schmiegte sich mit Federn, Gummibändern, Schienen und Lederhülsen, die das Bein oder den Arm vollständig umschlossen, so dicht an die Extremitäten, dass sich sogar Knochenbrüche ambulant behandeln ließen, was damals etwas "Unerhörtes" gewesen sei - so der Würzburger Orthopädieprofessor Konrad Port. Er hatte den Heilungsverlauf zweier Patienten Hessings, die Brüche am Unter- und Oberschenkel erlitten hatten, verfolgt:

    "Nach Anlegung der Verbände spazierten beide sofort im Zimmer herum, ohne Schmerzen. Der Patient mit der Oberschenkelfraktur war Malermeister. Er verließ nach wenigen Tagen die Klinik und ging mit dem Schienenhülsenapparat seinem Geschäft nach."

    1896 wurde in Göggingen erstmals operiert. 1899 pachtete Hessing die Staatsbäder Bad Kissingen und Bad Bocklet; vier Jahre später eröffnete er bei Rothenburg ob der Tauber eine luxuriöse Kuranlage. 1913 wurde er als "Ritter von Hessing" in den bayerischen Adelsstand erhoben. Bevor er am 16. März 1918 in Göggingen starb, hatte er verfügt, dass seine Heilanstalt in eine Stiftung überführt werden solle. Als "Hessing Stiftung" lebt sie bis heute fort – eine der führenden deutschen orthopädischen Fachkliniken.