Dienstag, 30. April 2024

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Schriftstellerin Anna Louisa Karsch
Vom Schmuddelkind zur Stardichterin

Die 1722 geborene Anna Louisa Karsch, eine Frau aus einfachen Verhältnissen, wurde Mitte des 18. Jahrhunderts als autodidaktische „Wunder-Poetin“ gefeiert. Heute gilt sie als erste deutsche Berufsschriftstellerin.

Von Gisa Funck | 28.12.2022
Claudia Brandt, Ute Pott (Hrsg.): „Anna Louisa Karsch. Briefe und Gedichte“ und Ute Pott (Hrsg.): „Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch. Leben und Werk“
Die "deutsche Sappho" Anna Louisa Karsch kam aus dem Nichts, gerade deshalb sahen die gebildeten Aufklärer sie als Sprachrohr der Natur (Buchcover: Wallstein Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Wer war diese Frau, die als Tochter eines Bierbrauers vor dreihundert Jahren in der schlesischen Provinz geboren wurde – und danach in Preußen eine Ausnahmekarriere als erste deutsche Berufsschriftstellerin machte? Woher nahm sie als Kuhhirtin und siebenfache Mutter den Mut, die Inspiration und das Selbstbewusstsein, sich von ganz unten in die höchsten Adelskreise und Literatursalons emporzudichten? Ihren Zeitgenossen jedenfalls erschien die Stegreifdichterin Anna Louisa Karsch wie ein Fabelwesen aus einer anderen Welt. Oder wie der Berliner Dichter Johann Georg Sulzer 1761 staunend in einem Brief an den Züricher Literaturpapst Johann Jakob Bodmer schrieb:
„Es hat sich hier im Reich des Geschmacks eine neue und wunderbare Erscheinung gezeiget. Eine Dichterin, die bloß die Natur gebildet hat und die nur von den Musen gelehrt, große Dinge verspricht. (...) Ich zweifle daran, ob jemals ein Mensch die Sprache und den Reim so sehr in seiner Gewalt gehabt hat als diese Frau.“

Naturgenie ohne Schulbildung

Ein wichtiger Hinweis steckt bereits in dieser Aussage Sulzers: Denn für ihn – wie schon bald für viele andere – sprach nichts Geringeres als die göttliche Genie-Natur aus der Lyrik von Anna Louisa Karsch. Welche weiteren Faktoren darüber hinaus deren wundersamen Aufstieg zur preußischen Vorzeigedichterin begünstigten, das kann man nun noch einmal in einem interessanten Sammelband mit Forschungsbeiträgen nachlesen, den die Archivarin des Karsch-Nachlasses Ute Pott zum runden Geburtstagsjubiläum herausgegeben hat. „Plötzlich Poetin!?“ heißt dieser Aufsatzband. Ein Titel, der das Ausnahmephänomen Karsch jedoch nur teilweise erfasst. Denn ganz so plötzlich und wundersam, wie oft beschrieben, war deren Karriere nicht.
Neben einem ausgeprägten Talent zum spontanen Reimen brachte die Autodidaktin Karsch nämlich auch ein außergewöhnliches Geschick fürs Netzwerken mit. Mit Chuzpe und Beharrlichkeit umwarb sie jahrzehntelang in Bittbriefen potentielle Gönner – und baute sich so mit der Zeit einen ebenso finanzstarken wie literarisch renommierten Förderkreis auf. An der Spitze dieses „Karsch-Fanclubs“ stand neben Johann Georg Sulzer vor allem der einflussreiche Lyriker Johann Wilhelm Ludwig Gleim aus Halberstadt.
Im Mai 1761 trafen er und Anna Louisa Karsch dann durch Vermittlung eines adeligen Gönners zum ersten Mal persönlich in Berlin zusammen. Eine Begegnung, die für beide schicksalhaft wurde. Denn der gelehrte Gleim und die ungebildete Karsch verstanden sich auf Anhieb prächtig und empfanden sich künstlerisch als seelenverwandt. Zur großen Lebenskränkung der Selfmade-Dichterin Karsch jedoch wurde, dass sie ihren „Bruder in Apoll“, wie sie ihren Förderer Gleim nannte, nie real als Liebhaber gewinnen konnte. Gleim bestand auf einer rein platonischen Freundschaft, während Karsch offenbar lange auf eine erotische Beziehung mit ihm hoffte. Entflammt schrieb sie ihm jahrzehntelang fast täglich Briefe. Und besang ihn schwärmerisch in ihren „Sapphischen Liedern“. In gereimten Liebesgedichten, die Karsch nicht nur mit Tränenspuren versah, sondern in denen sie sich auch als antike Dichterin Sappho inszenierte:
„Ich kann deinen Anblick nicht ertragen
wie den Blitz in heißen Erntetagen
(...)
Ach, mein Herz und alle Adern zittern,
wie die Blume bei den Ungewittern
Wanket Sappho, stirbt und liebet dich“

Der einflussreiche Karsch-Fanclub

Den gloriosen Beinamen „deutsche Sappho“ konnte Karsch nach diesen Sappho-Gedichten dann niemand mehr nehmen. Und zu ihrem großen Erfolg trug sicherlich auch bei, dass sie als Frau für ihre Zeit ungewöhnlich offenherzig über ihre Gefühle schrieb. Mancher, wie etwa der Aufklärer Moses Mendelssohn, kritisierten das als zu ungelehrt und unprofessionell. Andere Literaten dagegen waren von so viel frech schüttelgereimter Gefühligkeit hellauf begeistert. Schließlich kam damals gerade die Literaturmode der Empfindsamkeit auf, wonach nicht mehr Fleiß und Gelehrtheit als Kennzeichen des Dichtergenies galten, sondern der sogenannt „natürliche“ Herzensimpuls. Avancierte Lyriker sahen in der Stegreifdichterin Anna Louisa Karsch prompt den lebenden Beweis für die Richtigkeit ihrer Theorie von einer naturgegebenen Geniekraft. Oder wie Ute Pott schreibt:
„Es lässt sich sagen, dass Karsch für die Berliner literarischen Kreise zum Experiment wurde. Einerseits lobte man die ‚Natur‘ der Dichterin. Andererseits versuchten viele, sie zu bilden.“
Als erster Untertanin überhaupt wurde Anna Louisa Karsch schließlich sogar eine Audienz beim preußischen König Friedrich II. gewährt. 15 Minuten lang, am 11. August 1763. Und auch dort machte die Berliner Literatursensation keinen Hehl daraus, dass sie sich als Dichterin lieber auf ihr Gefühl verließ als auf Regeln oder klassische Vorbilder.

Keine Verse für die Ewigkeit

Vor allem von der Melodie von Kirchenliedern ließ sich Karsch offenbar für ihre liedhaften Verse beeinflussen, die regelmäßig ihren Förderern oder auch Alltagsphänomenen wie einem Kanarienvogel oder dem Sonnenaufgang gewidmet waren. Sie dichte halt nicht für die Ewigkeit, bekannte die pragmatische Lyrikerin einmal freimütig gegenüber dem jungen Goethe. Und so wusste Anna Louisa Karsch selbst wahrscheinlich am besten, dass ihre spontan inspirierten Poetry-Slam-Verse letztlich zu konventionell waren, um in die Literaturgeschichte einzugehen. Ihre eigentliche Pionierleistung bestand von daher eher darin, dass sie sich als unterprivilegierte Außenseiterin einen dauerhaften Platz inmitten des männlichen Literaturbetriebs des 18. Jahrhunderts erkämpfte.
Ute Pott (Hrsg.): „Plötzlich Poetin!? Anna Louisa Karsch – Leben und Werk“
Wallstein Verlag, Göttingen. 289 Seiten, 24 Euro.
Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung im Gleimhaus Halberstadt vom 2. Dez. 2022 bis 30. April 2023

Claudia Brandt (Hrsg.)/ Ute Pott (Hrsg.): „Anna Louisa Karsch – Briefe und Gedichte“
Wallstein Verlag, Göttingen. 416 Seiten, 34 Euro.