Dienstag, 30. April 2024

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Oscar Strasnoys neue Oper "Fälle"
Stürze aus dem Fenster am Opernhaus Zürich

Das Libretto von Oscar Strasnoys Oper "Slutchai" rekurriert unter dem Titel "Fälle" auf die oft böse-witzige Kurzprosa von Daniil Charms aus der Zeit der jungen Sowjetunion. Diese spielt in absurd erscheinenden Metaphern auf das Vordringen der Staatsmacht im Alltag an.

Von Frieder Reininghaus | 09.05.2015
    Wie beginnt ein schöner Sommertag? Dafür gibt es kein Patentrezept. In der Züricher Studiobühne wird hinter schmalen Oberlichtern zartrosa Licht aufgezogen und davor ein hermetischer Innenraum mit Arbeitslicht erfüllt. Hier, in dieser zu klein geratenen Turnhalle für eine Zeit, die so groß hinauswollte, scheint für einen russisch Uniformierten die Zeit keine Rolle zu spielen. Liegt nicht unbegrenzte Fülle sowjetischer Pionierjahre vor ihm?
    Vorrichtungen für Basketball sowie viele Klappen und Spinde zieren die Wände. Die Stätte der Körperertüchtigung könnte sich in einem Petersburger Neubauviertel befinden, aber auch im Hof einer Kaserne, eines Knasts oder einer Psychiatrie, in dem die Gefangenen sich innerhalb strenger Regeln austoben dürfen. Im Krebsgang treten das Dutzend Musiker, die 13 Solisten und dazu etliche Statisten aus der rückwärtigen Wand – das Grammophon kratzt, krächzt und ächzt von links oben dazu. Es entrollt sich ein fein gezeichnetes Gesellschaftsbild der späten 1920er Jahre.
    Inszenierung mit vielen Details
    Die dynamische und artistische Personenführung spielt bevorzugt auch mit simultanen Vorgängen. Jan Eßingers Inszenierung erinnert mit vielen Details an das pulsierende Leben, den gesellschaftlichen Gärungsprozess und den Irrwitz in der westlichsten Metropole der jungen Sowjetunion. Der Alltag damals war nicht gerade ein Zuckerschlecken, das junge Leben mit den starken Zügen des Irrealen aber eine Lust. Ob die Schreie, die der russisch-argentinische Komponist Oscar Strasnoy seiner Partitur einschrieb, von ihr herrühren oder von den Schmerzen, die den Individuen angetan werden, bleibt unbestimmt. Jedenfalls werden die Momente des Nicht-Fassen-Könnens der Wirklichkeit durch einen hochsensiblen surrealistischen Mutwillen noch gesteigert. Denn dass die Ära des wahnwitzigen Um- und Aufbruchs auf der Kippe steht, signalisieren die folgenden Szenen.
    Keine Unterwäsche
    Fedja nähert sich Irina, die grundsätzlich keine Unterwäsche trägt. Noch bevor er annähernd zum Ziel kommt, stürmt ein Trio der von Iain Milne angeführten Ordnungskräfte in die Gymnastikecke, um der sich anbahnenden Unzucht durch Verhaftung ein Ende zu bereiten. Dass die Menge gafft, wie ein halbes Dutzend alter Frauen aus Neugier oder anderen Mangelerscheinungen aus den Fenstern höher gelegener Etagen stürzt, ist eine imposante Kollektiv-Szene.
    Das Ensemble des Internationalen Opernstudios Zürich erweist sich durch die Bank als kompetent und treffsicher. Mit diesem so dynamisch, reaktionsschnell und quirlig agierenden Team geht es auch des Weiteren turbulent und deftig zu: Da entwickelt einerseits die Körper-Artistik des „neuen Menschen" an zwei Strapaten ihre Faszination, wird andererseits aber Lynchjustiz praktiziert. Ein Obdachloser wird mit Benzin übergossen und abgefackelt. Kiefer werden vorsätzlich zertrümmert. Der fast beiläufige Tod, der um sich greift, ohne dass jemand von ihm Notiz nähme, entwickelt sich zur gespenstischen Bedrohung.
    Schärfe durch luzide Musik
    Strasnoys feingliedrige Komposition hat sich weitgehend von Modellen der musikalischen Grotesken aus den 20er und 30er Jahren gelöst. Mit Einsprengseln von Tango-Ton - vor allem bei den Akkordeon-Einlagen, aber auch im Zusammenwirken von Kontrabass, Klarinette und Schlagzeug - scheint der argentinische Hintergrund des Komponisten auf, der aber insgesamt einen bemerkenswert eigenständigen Weg geht und aufs Gestische ebenso setzt wie auf die Integration der vielfältigen Geräusche, die der DJ beisteuert. Penetrante Repetitionen, chorischer Sprechgesang, Trompetensignale und wunderschön karge Violinsoli (Yuka Kiryu) sorgen für starke Effekte. Insbesondere aber bringen sich die Charms-Texte mit ihren prognostischen, ja: prophetischen Qualitäten aufs Neue in Erinnerung – geschärft durch eine luzide Musik.