Dienstag, 30. April 2024

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Fußgänger werden bei der Verkehrsplanung übersehen

"In verschiedenen Städten auf der ganzen Welt wird der öffentliche Raum in erster Linie dem Auto zugewiesen", kritisiert der Verkehrswissenschaftler Giulio Mattioli. Mit Blick auf Deutschland könnte das hiesige Straßenverkehrsrecht eine Ursache dafür sein, sagte Mattioli im Dlf.

Giulio Mattioli im Gespräch mit Kathrin Kühn | 30.08.2021
Blick auf den Kaiserdamm in Berlin, auf dem zahlreiche Autos fahren.
Autos, so weit das Auge reicht – hier in Berlin. In zahlreichen Städten Nordamerikas sei es meist noch deutlich schwieriger als in Deutschland, sich zu Fuß fortzubewegen, berichtet Verkehrsforscher Giulio Mattioli. (picture alliance/dpa | Michael Kappeler)
In einer Studie im Fachmagazin "Communications Physics" [*] haben Forscherinnen und Forscher untersucht, wie der Verkehrsraum in verschiedenen internationalen Städten aufgeteilt ist.
Demnach ist öffentlicher Raum in den meisten Städten nur sehr selten Fußgängern zugewiesen und in aller Regel Autos. "Ein Grund liegt in den Anfängen der Verkehrsplanung. Sie ist entstanden, um die Probleme der Verbreitung der ersten Autos zu bewältigen", erläuterte Giulio Mattioli. Der Verkehrswissenschaftler von der TU Dortmund forscht u.a. über soziale Aspekte von Mobilität.
Erst in den letzten Jahrzehnten habe man erkannt, dass es sinnvoll ist, auch zu messen, wie häufig die Menschen zu Fuß gehen und mit dem Fahrrad fahren, so der Wissenschaftler.
Selbst in einer Stadt wie Berlin sei der Großteil des Straßenraums Autos vorbehalten. Das deutsche Straßenverkehrsrecht betrachtet der Forscher als mitverantwortlich für die Situation: "Es legt fest, dass der Zweck der Straße der Verkehr ist – und auch geparkte Autos werden als Verkehr definiert, der still steht, und nicht als Objekte, die abgestellt wurden. Das führt dann zu einer Priorisierung von Parkraum gegenüber anderen Nutzern, die denselben Raum beanspruchen könnten."
Die Grafik zeigt das Verkehrsaufkommen mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln in verschiedenen Umgebungen
Die Grafik zeigt das Verkehrsaufkommen mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln in verschiedenen Umgebungen (BMVI / MiD 2017)
Um der Idee von mehr autofreiem Raum allmählich zu erhöhter Akzeptanz zu verhelfen, hält der Wissenschaftler sogenannte Pop-up-Fußgängerbereiche für ein gutes Mittel. Diese Zonen werden zunächst nur vorübergehend eingerichtet und könnten dauerhaft bestehen, wenn die Menschen diese zu schätzen gelernt hätten.
Wie gestaltet man nachhaltige Straßen in (Post-)Pandemie-Städten?

Strategien dafür haben Forschende aus IT, Umwelttechnik und Stadtplanung unter anderem der Universitäten Berkeley, Barcelona und Zürich in ihrer Studie für das Fachjournal "Communications Physics" aus der Nature Serie untersucht.

Sie fragten sich: Was hat es für Folgen, wenn Fußgänger in einer Stadt mehr Platz brauchen, wie jetzt etwa in der Pandemie. Wenn sie mehr Abstand halten wollen. Funktioniert das oder nicht? Sie besorgten sich dann große Mengen an frei verfügbaren Daten aus zehn Metropolen weltweit – und rechneten aus: Wie autofokussiert sind die Städte und welche Folgen hat es, wenn Fußgänger dort mehr Raum bekommen.

Das Ergebnis: In einigen Städten wie Denver oder Boston sieht die Lage eher düster aus, dort gibt es kaum Spielraum. In anderen hingegen könnten durch datenbasierte Planung Flächen umverteilt werden, ohne dass das auf Kosten der Autofahrer geht. Ein Beispiel: Während in Paris rechnerisch mehr als drei Meter Abstand zwischen Fußgängern möglich wären, wäre der Autoverkehr in anderen Großstädten da schon längst zusammengebrochen.

Das Interview in voller Länge:
Kathrin Kühn: Welche neuen Erkenntnisse liefert uns diese Studie?
Giulio Mattioli: Ich denke, die wichtigste Erkenntnis aus dieser Studie ist, dass in verschiedenen Städten auf der ganzen Welt der öffentliche Raum in erster Linie dem Auto zugewiesen wird und eben nur sehr wenig davon den Fußgängern. Vor allem in Städten in Nordamerika. Und dass es nur in einigen europäischen Städten Richtung gleichberechtigter aussieht – etwa in Paris.
Kühn: Um ein Beispiel aus Nordamerika zu nehmen – Boston – da ist das Ergebnis, dass das gesamte Verkehrssystem zusammenbricht, wenn Fußgänger nur ein wenig mehr Platz bekommen sollen. Dass das schon bei einem Abstand von einem halben Meter zwischen den Menschen passiert. Überrascht Sie das?
Mattioli: Nicht nach dem, was ich aus amerikanischen Städten weiß, die in der Regel sehr auto- und mietautoabhängig sind. Und ich denke, das zeigt, dass es ziemlich schwierig ist für Menschen, sich da zu Fuß fortzubewegen. Und wenn sie dann noch Abstand halten wollen, wie eben in einer Pandemie, dann wird es noch schwieriger.

Fortbewegung zu Fuß wird in Verkehrsplanung ignoriert

Kühn: Ein Grund, den das Forschungsteam anführt, ist, dass Verkehrsinfrastruktur vom Straßenverkehr her gedacht wird. Ohne das, was drum herum ist, also Platz für Fußgänger. Da gibt es auch kaum Daten zu. Wird dieses Problem in der Stadtplanung inzwischen angegangen?
Mattioli: Ja, genau. Das ist ein altes Problem. Ein Grund liegt in den Anfängen der Verkehrsplanung. Sie ist entstanden, um die Probleme der Verbreitung der ersten Autos zu bewältigen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat man erkannt, dass man auch messen sollte, wie viel die Menschen zu Fuß gehen und mit dem Fahrrad fahren. Und ich denke, wir haben da schon Fortschritte gemacht, aber vor allem das zu Fuß Gehen wird nach wie vor übersehen. Es wird nicht als Verkehrsmittel betrachtet, das es wert ist, untersucht zu werden, das so viel wert ist, wie die anderen.
Kühn: Das Beispiel Nordamerika, darüber haben wir ja schon gesprochen. Gibt es in dieser Studie auch spannende Ergebnisse über Europa?
Mattioli: Ja. Die Studie bestätigt, dass europäische Städte besser abschneiden als amerikanische, wenn es darum geht, anderen Verkehrsmitteln als dem Auto Raum zu geben. Und das, obwohl die Städte in der Studie - Paris und Barcelona - die auch am besten abschneiden, eigentlich ziemlich außergewöhnliche Städte sind. Was ihre Dichte angeht. Weil sie eine ziemlich alte Stadtstruktur haben aus der Zeit, bevor es Autos gab. Es wäre also interessant zu sehen, welche Ergebnisse wir für Städte erhalten würden, die mehr auf das Auto ausgerichtet sind, wie z. B. einige Städte in Deutschland. Ich denke, sie würden schlechter abschneiden als Paris und Barcelona.
Fußgänger im Visier der Forschung
In den Städten der Zukunft wird es weniger Platz für Autos geben, um Bussen, Bahnen, Radfahrern und Fußgängern mehr Raum zu geben. In einem Reallabor in Karlsruhe testen Forscher in der Praxis, wie Bürgersteige, Straßen und Wege beschaffen sein müssen, damit sich Fußgänger sicher fühlen.
Kühn: Könnten wir das vertiefen? Wie bei deutschen Städten aus bei der Aufteilung des Raums zwischen Autos und Fußgängern?
Mattioli: Es gibt aktuelle Studien, die zeigen, dass selbst in einer Stadt wie Berlin der größte Teil des Straßenraums dem Auto vorbehalten ist. Die anderen Verkehrsträger haben weniger als einen eigentlich gerechten Anteil. Und Berlin ist wahrscheinlich nicht einmal eine der autofreundlichsten Städte in Deutschland. Und ich denke auch, dass es eine Besonderheit das deutsche Straßenverkehrsrecht ist. Es legt fest, dass der Zweck der Straße der Verkehr ist und auch geparkte Autos werden als Verkehr definiert, der still steht. Und nicht als Objekte, die abgestellt wurden. Und das führt dann zu einer Priorisierung von Parkraum gegenüber anderen Nutzern, die denselben Raum beanspruchen könnten.
Die Grafik zeigt die Verkehrsmittelwahl (Modal Split) in verschiedenen Ländern
Die Grafik zeigt die Verkehrsmittelwahl (Modal Split) in verschiedenen Ländern (BMVI / MiD 2017)
Kühn: Mit Blick auf die neue Studie, kennen Sie Beispiele, wo Raum umgestaltet wurde mithilfe solcher Berechnungen vorab?
Mattioli: Ja. Ich glaube, es gab mehrere Beispiele in London. Und es gibt so etwas wie verkehrsarme Viertel in Mailand und in New York, zum Beispiel. Plätze, die für Fußgänger freigegeben wurden, zunächst vorübergehend als eine Art Pop-up-Fußgängerbereich und dann dauerhafter.
Kühn: Könnten Sie das erklären – Pop-up-Fußgängerbereich?
Mattioli: Pop-up-Areas sind ein Weg, um mehr Akzeptanz für so einen Umbau zu bekommen. Was sie da machen: Sie sperren den Platz erstmal vorübergehend. Sie zeichnen Linien, stellen Bänke auf und gestalten die Fläche sehr farbenfroh, so dass die Leute anfangen, dort hinzugehen, das zu nutzen. Und dann, nachdem man das gemacht hat, bekommt man viel mehr Unterstützung von der Öffentlichkeit. Weil die Menschen sehen, dass es eigentlich ganz gut ist, diesen Platz anders zu nutzen, nicht nur für Verkehr. Nach einiger Zeit kann man dann anfangen, die Fläche dauerhaft umzubauen.

"Thema ungenügend politisiert"

Kühn: Die ganze Diskussion ist ja oft ziemlich schnell aufgeheizt, Autofahrer gegen Fußgänger oder Radfahrer, kann Wissenschaft wie jetzt die Ergebnisse aus Zürich und Berkeley helfen, das Gegeneinander mehr zu einem Miteinander zu machen?
Mattioli: Das ist ein interessanter Punkt. Ich denke, paradoxerweise ist einer der Gründe, warum die Debatte im Verkehrswesen so hitzig ist, dass das Thema nicht genügend politisiert wird. Weil der Verkehr schon seit langem als eine Art technisches Thema dargestellt wird. Und wir neigen nicht dazu, das als einen Bereich zu sehen, in dem es verschiedene Gruppen mit konkurrierenden Ansprüchen an ein und dieselbe Sache gibt, also eben den Straßenraum. Wir neigen dazu, davon auszugehen, dass der Stand der Dinge völlig rational ist. Jede Änderung wird dann als gegen den gesunden Menschenverstand verstoßend oder utopisch dargestellt. Und ich denke, dass Studien wie diese dazu beitragen, die Dinge in Frage zu stellen. Warum sollten wir in Städten, in denen viele Menschen das Auto gar nicht so nutzen, diesem Verkehrsträger so viel Raum zuweisen? Ich denke also, es wäre eine gesündere Debatte, wenn wir sagen würden, dass dies nur ein weiterer politischer Bereich ist, in dem es einen legitimen Spielraum für legitime Meinungsverschiedenheiten gibt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

[*] Anmerkung der Redaktion: Wir haben den Namen des Fachjournals und die Bildunterschrift der zweiten Grafik ("Modal Split") korrigiert.