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"Die Praxisgebühr ist das größte Ärgernis der Deutschen"

Die Praxisgebühr habe ihren eigentlichen Zweck nicht erreicht, nämlich die Zahl der Arztbesuche zu reduzieren, sagt Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP). Stattdessen habe sie Bürokratie und Belastungen verursacht.

Daniel Bahr im Gespräch mit Friedbert Meurer | 05.11.2012
    Friedbert Meurer: Gestern Abend langes Ringen im Kanzleramt. Bis tief in die Nacht hinein haben die Spitzen der Koalition von CDU/CSU und FDP beraten. Anschließend gab es dann um zwei Uhr tief in der Nacht eine Pressekonferenz über die Ergebnisse des Koalitionstreffens.

    Stephan Detjen, danke schön nach Berlin zu diesen Informationen, über die ich mich jetzt und die Ergebnisse unterhalten will mit Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr von der FDP. Guten Morgen, Herr Bahr.

    Daniel Bahr: Ja schönen guten Morgen, Herr Meurer!

    Meurer: Stephan Detjen meinte eben, die Abschaffung der Praxisgebühr ist am besten zu verkaufen. Ist es ein Wahlgeschenk, das Ihnen helfen soll zum Beispiel in Niedersachsen?

    Bahr: Nein. Die Praxisgebühr ist nach allen Umfragen das größte Ärgernis der Deutschen. Und da die Finanzlage in der gesetzlichen Krankenversicherung so gut ist, ist doch berechtigt, dass man sich dann auch um das größte Ärgernis der Bürgerinnen und Bürger kümmert.

    Ich glaube, das war ein ganz starkes Signal der Koalition, dass wir diese gute Finanzlage in der gesetzlichen Krankenversicherung zur Entlastung der Patienten nutzen und gleichzeitig Bürokratie abbauen, denn die Praxisgebühr hat ihren eigentlichen Zweck, die Zahl der Arztbesuche zu reduzieren, nicht erfüllt, sondern hat zu viel Ärger und zu viel Bürokratie und Belastung geführt. Und ich glaube, dass das insofern das beste Signal und die beste Entlastung der Bürgerinnen und Bürger ist.

    Meurer: Geht das jetzt, Herr Bahr, so schnell auf Knopfdruck, dass schon ab dem 1. Januar oder faktisch dem 2. Januar die Praxisgebühr nicht mehr erhoben wird?

    Bahr: Wir haben ja nicht erst in diesen Wochen darüber diskutiert, sondern schon länger. Sie wissen, dass die FDP und auch meine Person schon seit langem sich für einen Verzicht auf die Praxisgebühr einsetzt. Und insofern haben wir im Bundesgesundheitsministerium auch schon die entsprechenden Formulierungshilfen erarbeitet, das gesetzlich umzusetzen. Die Möglichkeit haben wir noch, das müsste der Bundestag dann jetzt zügig beraten und beschließen, so dass ich sehr zuversichtlich bin, dass wir dieses Entlastungssignal der Bürgerinnen und Bürger auch am 1. Januar wirklich erreichen und die Bürgerinnen und Bürger dann ab dem 1. Januar in der Arztpraxis spüren, dass es diese Mautpflicht, wie die Praxisgebühr ja letztlich wirkt, dann nicht mehr gibt. Das ist, glaube ich, auch für nächstes Jahr dann ein ganz gutes entlastendes Signal.

    Ich glaube, die Bürgerinnen und Bürger verstehen doch nicht, dass sie hohe Beitragssätze zahlen für die Krankenversicherung, dort Überschüsse aufgehäuft werden, und das, was sie im Alltag spüren, nämlich die Praxisgebühr, wenn sie den Arztbesuch nehmen, was sie nicht verstehen, weil sie keinen Zusammenhang sehen, dass darauf jetzt verzichtet wird. Wir verzichten ja damit nicht auf Zuzahlung oder Eigenbeteiligung. Da wo sie sinnvoll wird, erhalten wir sie, wie bei den Arzneimitteln und Krankenhäusern.

    Meurer: Wieso sind sie denn da sinnvoll? Wieso sind sie denn bei Medikamenten sinnvoll, aber nicht beim Arztbesuch?

    Bahr: …, weil sie da eine steuernde Wirkung haben. Bei den Medikamenten zahlen Sie eine Zuzahlung auch abhängig des Medikamentenpreises. Das heißt, es gibt auch einen Anreiz, bei den Medikamentenpreisen darauf zu achten, gibt es nicht das billigere, was genauso wirkt. Aber bei der Praxisgebühr wird dieser Zusammenhang nicht gesehen, es hat den Zweck nicht erfüllt offenbar.

    Meurer: Man hätte die Modalitäten ändern können, pro Arztbesuch fünf Euro beispielsweise.

    Bahr: Aber ich mache doch was Schlechtes nicht dadurch besser, wenn ich jetzt die Maut bei jedem Arztbesuch verlange. Und die bisherigen zehn Euro haben doch gezeigt, dass sie keine Lenkungswirkung haben. Es gibt ja auch keinen in Deutschland noch, der die Praxisgebühr inhaltlich verteidigt und sagt, das ist ein sinnvolles Instrument, sondern es gibt allenfalls welche, die gesagt haben, wir können auf das Geld nicht verzichten. Das haben wir doch jetzt aber nun belegt, dass wir uns das leisten können für die kommenden Jahre und damit auch die Bürgerinnen und Bürger entlasten können.

    Meurer: Aber es bleibt, Herr Bahr, bei der derzeitigen Höhe der Beiträge für die gesetzliche Krankenversicherung? Da hätten Sie ja alternativ die Lohnnebenkosten ein bisschen runterschrauben können.

    Bahr: Der Beitragssatz ist seinerzeit festgeschrieben worden. Wir hatten erwartet, dass die wirtschaftliche Lage sich nicht so früh bessert und dass unsere Einsparmaßnahmen, die wir auch vorgenommen haben, nicht so gut wirken. Wir sparen ja jedes Jahr zwei Milliarden bei den Arzneimittelausgaben. Aber der Beitragssatz ist festgeschrieben worden auch als klares Signal an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und an die Arbeitgeber, darauf können sie sich jetzt verlassen. Deswegen bringt es nichts, ihn jetzt kurzfristig auch wieder zu verändern. Er ist im Gesetz festgeschrieben. Ich glaube, dass die spürbarere Entlastung der Bürgerinnen und Bürger auch wirklich der Verzicht auf die Praxisgebühr ist. Alles miteinander geht nicht. Das ist jetzt aber ein guter Weg, der, glaube ich, auch im Interesse der Bürgerinnen und Bürger ist.

    Meurer: Schon im Vorfeld des Koalitionsausschusses gab es aus der Wirtschaft Kritik an den sich abzeichnenden Ergebnissen. Da hieß es, warum gibt man Geld für soziale Wohltaten aus und spart nicht, das, was man den südeuropäischen Ländern verordnet. Was ist denn Ihre Antwort?

    Bahr: Das ist ja Unsinn. Erstens wird ja gespart. Wir haben ja diese Überschüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung auch durch unsere Arbeit erreicht. Und wenn ich an unser ehrgeiziges Arzneimittel-Sparprogramm denke, wo wir die Ausgaben um jedes Jahr zwei Milliarden Euro gesenkt haben, daran sehen Sie ja schon, dass das gegenfinanziert ist. Wenn ich daran denke, dass wir die Zuwächse bei Krankenhäusern und Ärzten am Anfang begrenzt haben, dass wir mit Augenmaß ein Landärztegesetz gemacht haben, wo wir gesagt haben, da geben wir gezielt Geld für aus, also insofern ist ja wirklich auch strukturell etwas vorangebracht worden.

    Meurer: Aber beim Betreuungsgeld geben Sie mehr Geld aus.

    Bahr: Das Betreuungsgeld ist seit langem vereinbart worden. Die Mitschuld trägt auch die SPD, denn schon in der letzten Legislaturperiode wurde das in das Gesetz geschrieben. Sie wissen, dass es kein Herzensanliegen der FDP ist. Ich glaube, wir haben unter den Rahmenbedingungen jetzt noch einiges herausgeholt, denn erstmals ist das Betreuungsgeld eben nicht nur eine Barzahlung, sondern es ist kombiniert mit einer Bildungskomponente. Das heißt, es kommt den Familien und den Kindern damit auch unmittelbar für ihre Bildungschancen zugute. Das heißt: Diejenigen, die vielleicht am Start nicht so gute Chancen haben, können auch durch diese Bildungskomponente ihre Chancen verbessern, können Anteil haben, Teilhabe an Gesellschaft, ihre Situation verbessern, können in Bildung investieren. Ich glaube, deswegen ist das noch mal deutlich besser geworden, als ursprünglich diskutiert wurde, und damit kann die FDP auch leben.

    Meurer: Muss man damit rechnen, dass die meisten Eltern nicht doch lieber cash nehmen als eine Überweisung für die Ausbildung ihrer Kinder?

    Bahr: Ich glaube, man sollte die Eltern nicht im Vorhinein diffamieren. Auch das Kindergeld wird ja bar ausgezahlt und das wird gesamtgesellschaftlich akzeptiert und hier nicht kritisiert. Wir haben hier einen guten Anreiz gesetzt. Es lohnt sich, es als Bildungssparen zu nutzen, das heißt, in die Bildung der Kinder zu investieren. Und ich gehe davon aus und das ist auch mein Menschenbild, dass die Familien das bestmögliche für ihr Kind wollen, sicherlich Anreize brauchen, Unterstützung brauchen. Deswegen ist es ja auch sinnvoll, dass die Einführung des Betreuungsgeldes gekoppelt wird mit dem 1. August an den Ausbau der Kinderbetreuung. Da ist ja auch der Zusammenhang. Es macht ja alles nur Sinn, wenn wir wirklich den Familien auch die Möglichkeiten geben, dass sie vor Ort ausreichend Kinderbetreuung finden. Da sind die Länder gefordert, jetzt auch das Nötige umzusetzen, damit die wirkliche Wahlfreiheit für die Bürgerinnen und Bürger auch erreicht wird.

    Meurer: Herr Bahr, helfen die Beschlüsse von gestern Abend beziehungsweise von heute Nacht im Bundeskanzleramt der FDP wieder auf die Beine?

    Bahr: In erster Linie helfen sie den Bürgerinnen und Bürgern, und darum geht es. Ich mache mir jetzt nicht so sehr Gedanken um die Umfragen, ob die jetzt in einer Woche besser oder schlechter sind, ist nicht entscheidend, sondern ob wir die richtigen Entscheidungen für Deutschland treffen. Das ist mit den Entscheidungen gestern gelungen: ausgeglichener Haushalt, Bildungssparen, Praxisgebührverzicht und vieles andere mehr ist gestern auf den Weg gebracht worden.

    Das zeigt, die Koalition ist handlungsfähig, denkt an die Alterssorgen der Menschen und kommt weiter. Wissen Sie, gestern hat Herr Vettel aufgeholt von ganz hinten, das hat man ihm nicht zugetraut, und hat noch Platz drei erreicht. Vielleicht ist die FDP auch ein bisschen so wie Herr Vettel: man hat ihr lange nichts zugetraut und dann überrascht sie doch wieder alle.

    Meurer: Also Herrn Vettel vergleichen Sie mit Philipp Rösler, als Weltmeister, den alle schon abgeschrieben haben?

    Bahr: Ich glaube nicht, dass der personelle Vergleich jetzt das Entscheidende ist. Ich will nur sagen: Entschieden ist erst bei der Bundestagswahl, wie die FDP abschneidet, nicht interessant sind die Umfragen vorher, und deswegen muss man auch einen gewissen langen Atem haben. Vettel hat das gestern gezeigt, er hat sich nicht beeindrucken lassen, im Sport geht das. In der Politik gibt es auch genügend Beispiele.

    Das Entscheidende ist, wenn die Wahl ist, und deswegen bin ich auch ganz zuversichtlich, dass die FDP mit einer sehr starken Leistungsbilanz bei der Wahl antreten kann und zeigen kann, dass sie noch mehr will. Viele Veränderungen, die wir wollten, mussten wir auch dem Koalitionspartner abringen. Das hat ja gestern auch wieder gezeigt, wie ehrgeizig die FDP bei Haushaltskonsolidierung ist, also beim Sparen, wie ehrgeizig die FDP beim Bürokratieabbau ist, bei der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger. Wir würden noch gerne mehr erreichen, aber es zeigt auch, dass erste Erfolge wirklich jetzt vorzuweisen sind.

    Meurer: Daniel Bahr, FDP, Bundesgesundheitsminister und offensichtlich auch Formel-eins-Fan.

    Bahr: Absolut!

    Meurer: Danke schön, Herr Bahr, und auf Wiederhören.

    Bahr: Vielen Dank.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.