Erzählband

Wie böse und verloren der Mensch ist

Ein junges Mädchen steht am Ende eines dunklen Flures.
Kinder sind häufig Opfer einer gestörten Gesellschaft © dpa / Nicolas Armer
Von Maike Albath · 22.10.2014
Dem chilenischen Autoren Roberto Bolaño war keine Kloake zu dreckig: In seinem Buch "Mörderische Huren" taucht er in die Abgründe verlotterter Milieus weltweit und setzt dem Leser eine fundamentale Zivilisationskritik vor.
Der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño, aufgewachsen in Mexiko, bei seiner Rückkehr nach Chile kurzzeitig verhaftet und seit Mitte der siebziger Jahre in Spanien beheimatet, wo er sich als Nachtwächter und Campingplatzwärter durchschlug und 2003 mit nur fünfzig Jahren an Hepatitis starb, hat mit seinen großen Romanen "Die wilden Detektive" und "2666" Weltliteratur geschaffen.
Nun kommt ein Erzählungsband heraus, der im Original bereits 2001 erschienen war: "Mörderische Huren". Der Titel deutet an, in welchem Milieu sich zumindest einige der dreizehn Geschichten zutragen. Bolaño war keine Kloake zu dreckig, kein Abgrund zu düster – im Gegenteil, in genau diese Sphären wollte er vordringen. Er wäre gern Detektiv geworden, der Morde aufklärt und nachts an den Ort des Verbrechens zurückkehrt, bekannte er in einem Interview, und im Grunde betreibt er genau das. Es sind aber nicht nur die verlotterten Peripherien der Metropolen, die Bolaño in den Blick nimmt. Der Chilene kreist um innerseelische Randbezirke: Selbstermächtigung, sexuelle Unterdrückung und triebhafte Enthemmung zählen in "Mörderische Huren" zu seinen großen Themen.
Ein Exilchilene aus Berlin im indischen Rotlichtviertel
Der Erzähler trifft in der ersten Geschichte "El Ojo Silva" mitten in Berlin einen Exilchilenen, den er aus Mexiko kennt. Dieser kultivierte, sanftmütige Mann, Fotograf von Beruf und nur El Ojo, das Auge, genannt, muss etwas los werden. Eine ganze Winternacht lang führt er den Besucher durch Bars und Kneipen, bis er sich endlich zu seinem Geständnis durchringt. In Indien geriet er durch eine Fotoreportage über das Rotlichtmilieu in ein Bordell voller kleiner Jungen. Diese Knaben, die man ihm wegen seiner homosexuellen Neigungen zuführen wollte, waren aber nicht nur zur Prostitution dort interniert. Einige sollten kastriert und bei einem Fest einer Gottheit dargeboten werden, als deren Verkörperung sie dann eine Zeit gelten würden.
Entsetzt entführt El Ojo mehrere Jungen und bringt sie in ein Dorf, wo er sie wie ein Vater beschützt, bis die Kinder an einer Krankheit sterben. Zuvor hatte er sie allerdings fotografiert. Er kehrt nach Europa zurück, ohne sich je von den Bildern der Verstümmelungen befreien zu können. Die Entmannung, so sehr einem die Geschichte in die Knochen fährt, ist, wie oft bei Bolaño, auch symbolisch zu verstehen. El Ojo, das Auge, begegnet der Fratze des chilenischen Putsches: Väter opfern ihre Söhne, die Gewalt dringt in den intimsten Bereich vor und beraubt den Menschen seines Geschlechts. Dass El Ojo, und sei es nur durch ein Foto, ästhetisch daran partizipiert, bringt das Dilemma zeitgenössischen Schreibens auf den Punkt.
Ein Fußballer siegt durch Voodoo-Zauber
Neben den verstörenden Erzählungen mit ihrer fundamentalen Zivilisationskritik gibt es aber auch noch eine komische Spielart. In einer knappen, lakonischen Sprache erzählt Bolaño z.B. von dem afrikanischen Fußballspieler Buba, der dem Fußballclub von Barcelona eine unvermutete Siegesserie beschert, mit Hilfe von Voodoo-Zauber, versteht sich. In einer anderen Geschichte entpuppt sich ein vierschrötiger Tagelöhner als grandioser Schriftsteller. Und in einer dritten taucht mitten in der Wüste ein wundersames Licht auf, ein nachdenkliches, grünes Wogen. Schöner kann man die Verlorenheit des Menschen nicht beschwören.

Roberto Bolaño: Mörderische Huren, Erzählungen.
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Hanser Verlag, München 2014
221 Seiten, 19, 90 Euro

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