Dienstag, 30. April 2024

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Mosebach trifft Bernhard

Im letzten Stück dieses Essaybandes tritt Martin Mosebach als Kritiker eines berühmten Kollegen auf den Plan. Als Gast eines so genannten Künstlerfestes in Wien begegnet der Autor einer barocken Figur in der Landestracht, im "Grasleinen-Adels-Anzug", wie es heißt, die sich bald, schon durch ihre physische Präsenz, als Hauptperson des Abends entpuppt. "Lange bevor ich den Namen des Mannes hörte, wusste ich, wer er war." Es ist niemand anderes als der Komponist Lampertsberg, den meisten besser bekannt unter dem Namen Auersberger: die Hauptfigur des skandalträchtigen Thomas-Bernhardschen Romans "Holzfällen. Eine Erregung". Der Mann ist zwar merklich betrunken, aber er spielt Klavier, singt und tanzt und unterhält die ganze Künstlergesellschaft derart brillant, dass Mosebach sich verblüfft fragt: "So wenig hat Bernhard aus seinem Modell gemacht?" Genüsslich lässt der Autor Revue passieren, was ein Doderer, ein Dostojewski, ein Proust oder ein Joyce mit so einer unvergleichlichen Vorlage angestellt hätten, um mit der vernichtenden Pointe zu schließen: "In 'Holzfällen’ war dieses kostbare Modell ein laubgesägter Hampelmann geworden, dem die hundertmal wiederholten Epitheta 'widerlich’ und 'abstoßend’ wie ein paar Fetzchen Buntpapier anklebten."

Von Martin Krumbholz | 03.04.2006
    Das sitzt. Mosebach und Bernhard, diese beiden geben ja auch ein wunderbares Antagonisten-Paar ab: Beide sind ausgewiesene Stilvirtuosen, beide wurzeln gewissermaßen im katholischen Humus, nur dass Thomas Bernhard sich zeitlebens davon distanziert hat, während Martin Mosebach, 1951 in Frankfurt geboren, auf markant unzeitgemäße Art der Tradition verhaftet bleibt. Im weiteren Verlauf des Essays wird das Urteil über Bernhard zwar ein wenig relativiert: Der berühmte Romancier habe sich anhand der Auersberger-Attrappe im Grunde an seiner eigenen früheren Künstlerexistenz abgearbeitet, und dieses Schauspiel habe eben so effektvoll inszeniert werden müssen, "dass das Platzen der alten Haut geradezu zur physischen Wohltat auch für den Leser wurde." Desungeachtet macht Mosebach an der überwältigenden Begegnung mit dem authentischen Lampertsberg jedoch eine dezidiert moralische Fragestellung fest. Wenn der Künstler Gott gleiche, indem er eine eigene Welt schaffe, dann komme es auf den Blick an, den der Künstler auf die Schöpfung werfe. "Von den Schöpfungsgesetzen seiner Kunst her muss er sich fragen lassen, wie weit er in der Disziplin der Betrachtung vorgedrungen ist. Hat er sein Modell wirklich so lange und so absichtslos angesehen, bis er sah, dass 'es gut war’?"

    Von Thomas Bernhard sind wir hier natürlich längst weltenweit entfernt, dafür befinden wir uns im Zentrum der Poetologie des Martin Mosebach: In der Moral der Weltbetrachtung liegt für diesen geschliffen formulierenden Literaten und Kritiker "der Glanz und das anziehende Geheimnis der großen epischen Literatur verborgen." Diesem Geheimnis ist der Autor des Essaybandes stets auf der Spur, ob er überraschende Parallelen zwischen den Rüpelszenen aus Shakespeares "Sommernachtstraum" und Kleists "Penthesilea" ausmacht, ob er "Heimito den Großen", also von Doderer zum 100. Geburtstag ehrt oder ob er eine gelungene Ausgabe der Flaubertschen "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit" rühmt.

    Der gewichtigste Aufsatz trägt den schlichten Titel: "Was ist katholische Literatur?" So einfach die Frage klingt, so schwer ist sie zu beantworten, und natürlich sind wir am Ende der Lektüre klüger, aber eine schlüssige Antwort haben wir doch nicht erhalten. "Katholische Literatur ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts" – mit dieser verblüffenden Sentenz fängt es erst einmal an. Mosebach definiert den katholischen Roman als "Unterfall der Gattung der engagierten Kunst", und damit ist auch schon das Dilemma bezeichnet: Denn die engagierte Kunst ist nicht "absichtslos", sie muss sich die Freude an der Absurdität und die Freude am Spiel versagen, mit einem Wort: sie muss humorlos sein. Der Humor ist aber andererseits, und hier beruft Mosebach sich auf den Katholiken Chesterton, den Autor des "Pater Brown", geradezu ein Abzeichen katholischer Weltsicht: es handelt sich um einen gewissermaßen fatalistischen Humor angesichts der Erbsünde, die das Entstehen von Vollkommenheit auf Erden gründlich verhindert. T.S. Eliot spricht von der "großen katholischen Philosophie der Desillusionierung". Damit aber beißt sich die Katze in den Schwanz: Wie soll eine erklärtermaßen humorlose Kunstgattung eine genuin humoristische Weltsicht transportieren?

    Mosebach löst den Widerspruch nicht auf. Er selbst gehört natürlich nicht zu denen, die engagierte Kunst hervorbringen, er macht also keine katholische Literatur, wohl aber ist er ein katholischer Schriftsteller, und Humor hat er zweifellos auch. Darin ähnelt er einigen großen Katholiken bzw. Nicht-Katholiken des 20. Jahrhunderts, allen voran den Giganten Proust und Joyce, die zwar vermutlich nicht gläubig waren, aber doch genussvoll aus dem Repertoire der katholischen Kirche schöpften. Auf eine blasphemische Weise tut es der "Ulysses", mit einer halbwegs versteckten und doch deutlichen Anspielung die "Recherche": Aus Brot und Wein, die den Tod Jesu vergegenwärtigen, werden Lindenblütentee und Madeleine, die es dem Erzähler Marcel ermöglichen, die eigene Vergangenheit lebendig werden zu lassen.

    Martin Mosebach: Schöne Literatur. Essays. Hanser Verlag, 232 S., 19,90 Euro.