Dienstag, 30. April 2024


Bonn-Karlsruher Streitgeschichten

Seit seiner Gründung 1951 steht das Bundesverfassungsgericht immer wieder im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen. Zwischen Karlsruhe und Bonn entstand ein institutionelles Spannungsverhältnis, daß sich auch auf das neue politische Machtzentrum der Republik übertragen wird.

Von Michael Reissenberger | 15.05.1999
    50 Jahre Grundgesetz, das sind auch 50 Jahre Streitgeschichte zwischen den Zentren des Rechts und der Politik

    Edmund Stoiber: "Vom Soldaten-Urteil, meine Damen, meine Herren, bis zum Sitzblockaden-Urteil bis zum Hasch-Urteil, das sind alles Urteile, die im Grunde genommen an dem Mehrheitsgefüge der Menschen in Deutschland vorbeigehen, sonst fühlt sich die Mehrheit geistig nicht mehr zu Hause und das ist eigentlich das Problem."


    Der Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber heizt die Empörung über Kruzifix und Soldaten-Mörderbeschluß an. Konservative Politiker mit und ohne Staatsamt leisten sich im Jahre 1995 gar den Sprachgestus der Revolte.

    Wie sich doch die Töne gleichen. Unliebsame Urteile und Ungehorsamkeitsparolen gab es auch schon 20 Jahre früher.

    Ernst Benda (Atmosphäre Bundesverfassungsgericht, Stimmen, Kameras klicken) "Ich bitte Sie zum 2. Mal hier den Platz freizugeben ..."


    Verfassungsgerichtspräsident Benda ermahnt die Fotografen. Nervöse Stimmung vor der Urteilsverkündung im Normenkontrollverfahren zu § 218. Selten zuvor ist ein Spruch des Verfassungsgerichts mit solch innerer Anteilnahme erwarten worden.

    Ernst Benda: "... im Namen des Volkers folgendes Urteil verkündet: § 218 des Strafgesetzbuches ist mit Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes insoweit unvereinbar und nichtig ..."

    Das Urteil zum § 218, das 1976 anstelle der Drei-Monats-Fristenlösung ein sogenanntes Indikationsmodell in Kraft setzte, fand heftigen Widerspruch in Bonn. Die Vizepräsidentin des Bundestages, Liselotte Funke, äußerte, die Frauen könnten diesen Richterspruch Zitat: "nicht akzeptieren und respektieren", und Bundeskanzler Helmut Schmidt sah das Gericht schon auf dem Pfad des Ersatzgesetzgebers. Die Schärfe der Auseinandersetzungen verdeutlicht die Provokation, die die Verfassungsgerichtsbarkeit für jedes Parlament und jede Regierung darstellt.


    Bereits Hermann Höppker-Aschoff, der erste Präsident des Bundesverfassungsgerichts, markierte in seiner Antrittsrede, das ewig junge Thema, wo überschneiden sich die Einflußsphären von Politik und Recht. Mit einem Zitat der Konstitutionen von Melfi aus dem 13. Jahrhundert.

    Hermann Höppker-Aschoff: "Wir Richter des Bundesverfassungsgerichts sind Knechte des Rechts und dem Gesetze Gehorsam schuldig. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen. Unsere politisch sachlichen Erwägungen an die Stelle der Erwägungen des Gesetzgebers zu setzen."


    Die Nagelprobe kam Anfang der 50er Jahre beim Streit um die sogenannten Westverträge, dem später gescheiterten Projekt einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft unter deutscher Beteiligung. Der erste Bundesjustizminister Thomas Dehler attackierte das Gericht damals, als eine mögliche Barriere für die Verträge, er hoffe, daß keine politischen Willensentscheidungen sondern Rechtsentscheidungen fallen und sich beim Bundesverfassungsgericht der Geist des Sozialismus nicht auswirke. Eine Provokation, die der Bundesverfassungsgerichtspräsident Hermann Höppker-Aschoff am 9. November 1952 mit einer Erklärung des ganzen Gerichts beantwortete.

    Hermann Höppker-Aschoff: "Das Bundesverfassungsgericht betrachtet diese Äußerungen, die in anderen Staaten aufgrund ...... als Mißachtung des Gerichtes geahndet werden würden, also ein bedauerliches Zeichen für die mangelnde Achtung vor dem Eigenwert des Rechts."

    Justizminister Dehler schäumte und verfiel schließlich im Bundestag dem Wortrausch. Am 4. März 1953 erklärte er:

    Thomas Dehler: "Das ist die eine, nach meiner Meinung sehr gefährliche Auffassung, daß das Bundesverfassungsgericht seinem Wesen nach eine politische Funktion besitze. Diese Meinung geht dahin, daß das Bundesverfassungsgericht eine Überregierung und ein Überparlament sei. Dann kommt die große Frage Quis custodiet custodes ipsos?, wer bewacht am Ende die Wächter des Staates?"

    Thomas Dehler mußte seine Übergriffe schließlich mit dem Verlust der Ministerwürde bezahlen. Das Karlsruher Gericht hatte sich im Kräftespiel der Verfassungsorgane endgültig behauptet. Verfassungsrecht entfaltet politische Wirkkraft auch, wenn man die Ziele der Politik nicht selbst definiert, so heißt es in der heute noch gültigen Studie des damaligen Verfassungsrichters und Staatsphilosophen Gerhard Leibholz. Mit kleinen Reparaturen der Gesetzgebungsmaschine ist es oft nicht getan. Ob längst fällige Steuerentlastung für Familien oder mehr Datenschutz für überfleißig registrierte Bürger. Oft sorgen Gerichtsentscheidungen erst nach langer Untätigkeit des Gesetzgebers für Gerechtigkeit oder für eine notwendige Modernisierung.


    Und selbst in ureigenen politischen Materien macht sich die Politik den Zwang des Gerichts eine Entscheidung treffen zu müssen, regelrecht zunutze, entmündigt sich dabei selbst. Wie etwa zu Beginn der 90er Jahre bei den Auseinandersetzungen über UNO- und NATO-Pflichten der Bundeswehr. Das Gericht mußte da eine verbindliche Streitkräftphilosophie für Regierung und Parlament entwickeln. Wer von einer allzu üppig gewucherten Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland spricht, muß deshalb auch den Eigenanteil der Politik an dieser Entwicklung mitbedenken.