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Grenzerkreis von Abbenrode
Die Erinnerung an die tödliche Grenze wachhalten

Bis zum Mauerfall patrouillierten sie zu beiden Seiten des Todesstreifens - Grenzer aus Ost und West. Was damals undenkbar war, halten sie heute für ihre Pflicht: sich treffen, miteinander reden und Bildungsarbeit leisten. Der Grenzerkreis von Abbenrode ist ein einzigartiges Versöhnungsprojekt.

Von Christoph Richter | 08.11.2019
Der frühere Bundesgrenzschützer Lothar Engler (l.) und ehemalige DDR-Grenzsoldat Andreas Weihe
Treffen an der ehemaligen Grenze: Ex-Bundesgrenzschützer Lothar Engler (l.) und der frühere DDR-Grenzsoldat Andreas Weihe (Dlf/Christoph Richter)
"Die Grenze ging genau hier, an der Graskante entlang, am Acker, hier ging de entlang. Der Weg gehört zu Niedersachsen. Wir vom Bundesgrenzschutz sind hier Streife gefahren…"
Der frühere Bundesgrenzschützer Lothar Engler spaziert genau an der Stelle entlang, wo Europa einst geteilt war. Früher befanden sich dort Minen, Selbstschussanlagen, Streckmetallzäune und Wachtürme; heute ein Fleckchen friedliche Natur. Auf der einen Seite ein frisch bestelltes Feld, auf der anderen Seite eine Blumenwiese. 1989 war das unvorstellbar, sagt der heute 65-jährige Lothar Engler. Damals war er auf niedersächsischer Seite an der innerdeutschen Grenze stationiert.
"Ich habe hier auf diesem Weg mal in einer Spätstreife erlebt, wie hier von der DDR eine Suchaktion war." Aber es kam glücklicherweise kein Mensch ums Leben, der fliehen wollte. Der Schrecken war groß, erzählt Engler: "Das war schon schlimm. Schlimmer geht’s ja gar nicht."
Die Erinnerung wach halten
Seit einigen Jahren ist Lothar Engler im Grenzerkreis Abbenrode, in dem sich ehemalige Ost- und West-Grenzer engagieren, aktiv; ein einzigartiges deutsch-deutsches Versöhnungsprojekt - DDR-Grenzer auf der einen Seite, und Beamte des Bundesgrenzschutz und Mitarbeiter des Zolls auf der anderen Seite. Als Zeitzeugen wollen sie die Erinnerung an die tödliche Grenze wachhalten, wollen an Zeiten erinnern, als es schlicht unmöglich war – einfach mal so von Abbenrode in Sachsen-Anhalt ins zwei Kilometer entfernte Lochtum in Niedersachsen zu fahren.
Neben Lothar Engler, steht Andreas Weihe. Von 1980 bis 1983 war er Grenzsoldat der DDR. Eigentlich sollte er an die – wie er sagt – "Grüne Grenze", also die innerdeutsche Grenze, kommen. Doch dann hat man ihn an die Berliner Mauer geschickt. Immer mit der Gefahr im Nacken, erzählt Weihe, einen Flüchtling zu erschießen.
"Natürlich hätten wir reagieren müssen. Ich war Gott sei Dank in der Situation, nicht in solche Situation reinzugeraten, wo man schießen musste. Ich bin ja auch als Unteroffizier da gewesen. Ich musste teilweise einen Grenzabschnitt leiten. Immer wenn neue Leute – alle halbe Jahre - kamen, war es nie sicher, wer mit dir da rausgeht."
327 Menschen starben an der innerdeutschen Grenzen
Sieben DDR-Grenzsoldaten sind von anderen Grenzern, die in den Westen fliehen wollten, erschossen worden. Die Gefahr hatte er immer im Hinterkopf, erzählt Weihe. Und trotzdem sah er seinen Dienst als seine Pflicht an:
"Wir wurden erzogen, die DDR zu schützen, damit der Frieden gewahrt wird. Man hat das akzeptiert. Hier war Schluss, da drüben waren andere Menschen."

Laut Angaben des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin sind 327 Menschen an der innerdeutschen Grenze umgekommen, weil sie statt in Frankfurt/Oder in Frankfurt/Main, weil sie in Niedersachsen, statt in Sachsen leben wollten. Zu den Toten zählen die Experten aber auch Grenzsoldaten, die von Fahnenflüchtigen erschossen wurden, sowie US-Soldaten, Angehörige des Bundesgrenzschutzes.
An der Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt erinnert nur noch eine Grenzsäule und eine Erinnerungstafel an die frühere innerdeutsche Grenze
An der Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt erinnert nur noch eine Grenzsäule und eine Erinnerungstafel an die frühere innerdeutsche Grenze (Dlf/Christoph Richter)
"Heute werden in Europa wieder wieder Grenzen gebaut"
Der Grenzerkreis Abbenrode, der Zusammenschluss von Angehörigen der DDR-Grenztruppen und BGSlern hat sich 2013 zum ersten Mal getroffen. Die Sichtweisen auf die Vergangenheit und auch die heutigen politischen Positionen sind sehr unterschiedlich; die Männer mussten erst Vertrauen zueinander aufbauen. Heute treten sie als Zeitzeugen in Schulen auf. Sie wollen an die Geschichte der mörderischen Grenze, den Todesstreifen, erinnern, die das Land teilte, Familien spaltete, Freundschaften zerstörte.
"Diese Arbeit ist ganz wichtig und wichtiger denn je. Viele fragen danach: Wie war es damals, als ihr nicht mehr nach da und da konntet? Ihr konntet nur Richtung Osten gehen und dann war Schluss. Diese Fragen kommen jetzt. Und das finde ich ganz toll. Wir fördern auch Jugendprojekte. Heute werden in Europa wieder Zäune und sonst was gebaut. Da kommt mir ein kaltes Grausen über den Rücken, wenn ich so was sehe."
Immenser Beitrag zur Geschichtsvermittlung
DDR-Grenzer Andreas Weihe und seine Kollegen im Grenzerkreis Abbenrode leisten einen immensen Beitrag zur Geschichtsvermittlung, unterstreicht Sachsen-Anhalts Beauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker:
"Das sind die Leute, die erklären können, wie die Selbstschussanlagen und Minenfelder funktioniert haben. Insofern bin ich sehr froh darüber, dass die Männer miteinander sprechen. Und auch die Grenzanlagen als Denkmale sichern."
Den Schrecken anschaulich machen
In Abbenrode und Wülperode hat der Grenzerkreis – zusammen mit Schülern - Schautafeln und alte Grenzsäulen aufgestellt, auch Teile des drei Meter hohen Zauns, Betonsperren, Gräben wieder freigelegt. Und man plant jetzt, einen Beobachtungsturm wieder aufzustellen. Man wolle, wie es heißt, den Schrecken von damals einfach anschaulich machen.
Wer die tödliche Grenze von damals kennt, schätzt nichts mehr, sagt der frühere Bundesgrenzschützer Lothar Engler, als einfach so über den ehemaligen Todesstreifen zu schlendern - ohne dass es heißt: Halt stehenbleiben.
"Es ist einfach schön, dass wir heute einfach so rüberkommen nach Abbenrode. Das ist einfach herrlich."