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Wut, Enttäuschung und Angst in Tunesien

In Tunesien, Mutterland des arabischen Frühlings, ist von Elan und Euphorie nach dem Sturz des Diktators Ben Ali im Januar 2011 nichts mehr übrig geblieben. Es wächst die Ernüchterung und der Frust über die Herrschaft der regierenden Islamisten. Viele Tunesier befürchten mittlerweile sogar eine neue Revolution.

Von Claudia Ullrich-Schiwon | 08.12.2012
    "Die Tunesier haben genug von Versprechen, die zu nichts führen. Die Bevölkerung ist sehr gestresst und nicht glücklich. Sie wird zur Stunde Null zurückkehren, und deshalb meine ich werden die Tunesier eine weitere Revolution machen."

    M’hamed Sayadi, Studienrat am Gymnasium von Monastir und Vater zweier Kinder, steht mit dieser düsteren Zukunftsperspektive nicht alleine da. Der 44-Jährige konnte sich bis 2011 ein Leben ohne Unterdrückung im Spitzelstaat des Diktators Ben Ali gar nicht vorstellen. Dann, so sagt er, sei unerwartet die Jasminrevolution gekommen - und mit ihr die Freiheit. Doch jetzt mit der islamistischen Ennadha Partei in der Übergangsregierung sei alles fast so schlimm wie früher. Vor allem beunruhigt ihn die fehlende Sicherheit auf den Straßen:

    "Ehrlich gesagt, Angst macht sich breit, und viele befürchten, dass das alles noch viel schlimmer wird. Wenn man in der Dunkelheit unterwegs ist, gibt es nicht mehr die Sicherheit wie früher. Die Straßen sind gefährlich. Da kann man in einen Überfall geraten und Kriminelle klauen einem die Papiere, das Geld und manchmal auch das Auto. Das ist schon Tausenden nach der Revolution passiert."

    Das moderne Rathaus von Monastir liegt gleich neben der Medina, der Altstadt. Ab und zu kommt die Ärztin Najoua Besbes, ehemalige Stadträtin und jetzt für das demokratische Lager aktiv, vorbei, um mit Gleichgesinnten über die aktuelle Situation zu sprechen. Sie stimmt ihm zu.

    "Das ist wahr, das ist Anarchie, das ist Anarchie! Vor allem die Jungen übertreiben, sie kennen die Grenzen nicht. Das ist auch nicht verwunderlich, sie haben ja nichts anderes als die Diktatur erlebt. Bei den Älteren, vor allem den Gebildeten, ist das anders. Politische Bildung ist jetzt dringend notwendig, und das ist vor allem Aufgabe der oppositionellen Parteien. Aber auch der Medien."

    Die liberalen oppositionellen Parteien sind derzeit allerdings vorrangig damit beschäftigt, die demokratischen Kräfte gegen die islamistische Ennadha zu sammeln. Die existenziellen Probleme, die das Volk umtreibt, bleiben dabei weitgehend außen vor, wie etwa die Arbeitslosigkeit, die heute in Tunesien höher ist als je zuvor, die Wirtschaft läuft nicht, Investoren bleiben aus. Die Lebenshaltungskosten sind bei einem monatlichen Durchschnittsgehalt von 300 bis 400 Dinar, umgerechnet 150 bis 200 Euro, um fast ein Viertel angestiegen und steigen weiter. Neben dem Kampf ums Überleben fürchten die Menschen vor allem die allgegenwärtige Kriminalität.

    Gangster wie Kleinkriminelle können überall Straftaten begehen, ohne dass sie irgendwelche Konsequenzen fürchten müssen. Auch Rafika Bouhri ist über die chaotische Lage im Land entsetzt. Politisch stets aktiv wirkt die 60-jährige Professorin für Arabische Literatur inzwischen ziemlich müde und desillusioniert. Vor einem Jahr im Wahlkampf sprühte sie noch vor Energie und pendelte unermüdlich die 140 km zwischen Tunis und Monastir hin und her. Die Sicherheit im Land sei ein echtes Problem, sagt sie:

    "Immer wenn man die Polizei ruft, kommt sie nicht. Bei Schlägereien steht sie untätig daneben. Und wenn man sie fragt, warum, dann antworten sie, sie hätten keine Befehle. Wir vermuten dahinter Ennadha, die diese Unruhen und Angst schürt, um dadurch politisch zu profitieren und sich dann als die starke Kraft hinzustellen, die Ordnung schaffen wird. Der Innenminister ist ein Ennadha-Mann. Er könnte der Polizei Befehle geben, dann würden sie wohl einschreiten."

    Rafika Bouhri betont, dass sie sich auf keinen Fall einschüchtern lassen wird. Sie fährt auch weiter nach Einbruch der Dunkelheit allein mit ihrem klapprigen Auto nach Tunis oder geht im Badeanzug schwimmen - ganz anders als mittlerweile viele andere Tunesierinnen. In der Innenstadt von Monastir, die im Vergleich zu anderen Städten noch als relativ friedlich gilt, haben die Einwohner zu ihrem Schutz dennoch eine Bürgerwehr eingerichtet, erzählt Zyed Zanned, Architekt und Mitglied des Provisorischen Stadtrates.

    Auch die radikalen Salafisten und eine neue Liga "pour la protection de la révolution" – "zum Schutz der Revolution" - sind in der Bevölkerung ein Dauerthema. Die Liga macht zum allgemeinen Entsetzen wegen ihrer Lynchjustiz an ehemaligen Mitgliedern der Ben Ali Partei von sich reden. Die Salafisten, trainierte Männer, meist mit Stöcken und Knüppeln ausgerüstet, tauchen unter anderem bei politischen Veranstaltungen der Ennadha Partei auf und prügeln auf Demonstranten ein.

    Die gewaltbereiten langbärtigen Männer, im Volksmund: "les barbues", sprengen Pop-Konzerte, verhindern Kunstausstellungen, besetzen Universitäten oder bedrohen Frauen, die ihrer Meinung nach nicht korrekt gekleidet sind. Zyed Zanned:

    "Die Salafisten sind ein Haufen von Übeltätern, von denen die meisten im Gefängnis waren - und solange wir einen Innenminister haben, der zu Ennadha gehört, sind die Salafisten unangreifbar."

    Ennadha soll den Salafisten jetzt auch erlaubt haben, eine eigene Partei zu gründen. So können die Islamisten, die sich als gemäßigt bezeichnen, ganz geschickt die Salafisten weiter für ihre Ziele einsetzen oder aber, sich je nach Situation, von ihnen distanzieren, vermutet die Frauenrechtlerin Fatia Hizem, von der "Association tunesienne des femmes démocratiques":

    "Ennadha hat gar nicht vor, demokratische Verhältnisse zu schaffen. Sie ist an der Macht interessiert und tut alles, um die Schlüsselpositionen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene zu besetzen."

    Auch der Gouverneur von Monastir ist wie selbstverständlich ein Ennadha-Mitglied. Eigentlich ein kleiner Buchhändler, hat er zuvor noch nie etwas mit praktischer Politik oder der Arbeit in Verwaltungsstrukturen zu tun gehabt. An diesem Beispiel wird deutlich: Ennadha fehlen qualifizierte Leute für verantwortliche Posten, sagt Fatia Hizem.

    Aber: Gegen diese Personalpolitik ist die Opposition machtlos. Nur Großdemonstrationen schaffen es bislang, dass Ennadha ihre Pläne noch nicht umsetzen konnte, etwa die Scharia, das islamische Recht, einzuführen oder die Gleichstellung von Mann und Frau wieder abzuschaffen. Fatia Hizem:

    "Das ist heute unsere Forderung, wir die tunesischen Frauen wollen, dass die Gleichberechtigung im Gesetz festgeschrieben wird."

    Es gelte, die Frauen im Land zu politisieren und zu mobilisieren, damit sie im kommenden Juni bei der nächsten, die Zukunft des Landes wohl entscheidenden, Wahl von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen und die Demokratie in Tunesien ihre Chance wahren kann, hofft Fatia Hizem. Immerhin: Dafür gehen tunesische Frauen schon heute zu Tausenden auf die Straße.