"Spirituelle Demokratie" in Indien

Vielfalt oder Hindu-Nationalismus?

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Silhouette einer Frau in einem traditionellen Hindu-Kostüm.
Die "Spirituelle Demokratie" soll ein friedliches Zusammenleben aller Religionen Indiens garantieren. Tatsächlich kommt es immer wieder zu Konflikten, u.a. in der Stadt Varanasi - hier ein hiesiges Hindu-Ritual. © picture alliance / NurPhoto
Von Antje Stiebitz · 08.08.2021
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Indien gilt als größte Demokratie der Welt. Für ein friedliches Zusammenleben der vielen verschiedenen Volksgruppen entwickelten Vordenker das Konzept der "spirituellen Demokratie". Doch in letzter Zeit wird es von Nationalisten vereinnahmt.
"Es ist schwierig, einen einzelnen Autor auszumachen, der diesen Begriff geprägt hat. Aber davon einmal abgesehen ist der Begriff in Mode und wird in der letzten Zeit sehr oft benutzt", sagt Sharad Deshpande über den Begriff der "spirituellen Demokratie". Der emeritierte Professor hat an der Universität der indischen Stadt Pune Philosophie unterrichtet.
Der US-amerikanische Poet Walt Whitman aus dem 19. Jahrhundert habe den Ausdruck "spirituelle Demokratie" verwendet, so Deshpande, wenn er über Gott, Natur, soziale Gleichheit und Nationalismus geschrieben hat. Auch der indische Unabhängigkeitskämpfer Mahatma Gandhi nutzte den Begriff, denn er forderte eine "Spiritualisierung" der Demokratie. Mithilfe von ethischen Prinzipien wie Wahrheit und Gewaltlosigkeit.

Trennung von Religion und Staat

Demokratie werde auch in Indien, so Deshpande, im Sinne der griechischen Antike verstanden: "Die Idee ist, dass sich alle Bürger beteiligen und es ihnen erlaubt ist, die Regierung mitzubestimmen."
Auch die Trennung von Religion und Staat sei durch die Bezeichnung Indiens als säkulare Republik in der Verfassung verankert. Doch neben dem politischen Leben gebe es auch das religiöse Leben verschiedener Gemeinschaften, die sich nach Gott oder bestimmten ethischen Werten ausrichten.
Da stellten sich Fragen: "Wenn Menschen, die verschiedenen Religionen angehören, zusammenkommen, welche Religion gilt dann? Gelten alle? Oder gibt es eine Hierarchie zwischen den Religionen?"
Damit die verschiedenen Religionen friedlich koexistieren können, fährt der Philosoph fort, sei ein übergeordnetes Prinzip notwendig – das der Synthese: "Dieses Prinzip der Synthese bezeichne ich als spirituelles Prinzip."
Diese spirituelle Synthese verbinde das Geistige mit dem Weltlichen. Im weltlichen Rahmen des Staates beziehe das spirituelle Prinzip der Synthese widersprüchliche Meinungen ein. Eine solche übergeordnete Synthese schließe keine Stimme aus und sei damit die Basis der "spirituellen Demokratie".

Vereinnahmung durch Nationalisten

Die Theorie der "spirituellen Demokratie" ist offen und inklusiv. Doch was passiert, wenn die Philosophie auf politische Realität trifft? Beispielsweise sagte der BJP-Vize-Präsident Vinay Sahasrabuddhe in einem Interview gegenüber dem Magazin "Outlook": "Lassen Sie mich klarstellen, dass spirituelle Demokratie das Kernstück der Hindutva-Philosophie ist."
Die Hindutva-Bewegung setzt auf einen Hinduismus, der die eigene Überlegenheit demonstriert. Andere Glaubensrichtungen und soziale Kasten dürfen nach dieser Vorstellung in Indien leben, aber zu den Bedingungen der hindu-nationalistischen Bewegung.
Ein Beispiel: Varanasi, die heilige Stadt Shivas. Im Kashi-Vishwanath-Tempel findet eine Andacht statt. Das Video der Facebook-Gruppe "Friends of Varanasi" zeigt, wie Priester den Gott Shiva durch Gaben von Sandelholz-Paste und Blumen verehren.
Der Kashi-Vishwanath-Tempel wurde in der muslimischen Periode Indiens mehrfach zerstört und wiederaufgebaut. Zuletzt von dem Herrscher Aurangzeb im Jahr 1664. Auf den Trümmern baute Aurangzeb die Gyanvapi-Moschee. Im Jahr 1780 wurde der Tempel dann in direkter Nachbarschaft zur Moschee wiederaufgebaut.

Auseinandersetzungen um religiöse Kultstätten

Am 8. April dieses Jahres berichtete der Fernsehsender "India Today" folgendes: "Nach Ayodhya und dem Ram-Tempel hat sich die Auseinandersetzung nach Varanasi verlagert. Das Bezirksgericht von Varanasi hat – und das ist bedeutungsvoll – dem staatlichen Archäologischen Institut erlaubt, eine Untersuchung des Komplexes Kashi-Vishwanath-Tempel/Gyanvapi-Moschee durchzuführen."
Das Gerichtsurteil bestärkt diejenigen, die das Land der Moschee für Hindus zugänglich machen wollen und erinnert an den jahrelangen blutigen Streit im nordindischen Ayodhya, wo eine Moschee schließlich einem Hindu-Tempel weichen musste. Dort waren die archäologischen Fakten unklar.
Im Falle der Gyanvapi-Moschee ist die Geschichte der Zerstörung des Tempels weithin anerkannt. Aber im indischen Gesetz ist verankert, dass alle religiösen Kultstätten so erhalten bleiben, wie sie zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im Jahr 1947 bestanden haben. Denn wird die rechtmäßige Existenz einer Kultstätte bezweifelt, entzündet das kommunale Unruhen. Doch davor schreckt die Regierungspartei nicht zurück.

Rechtliche Schritte gegen Muslime

Seit seiner Wiederwahl im Jahr 2019 nimmt Premierminister Narendra Modi verfassungsrechtliche Schritte vor, die sich gegen die Minderheit der Muslime wenden. Beispielsweise die Aufhebung des Sonderstatus von Kaschmir, die Abschaffung des "sofortigen Scheidungsrechts" im Islam, die Staatsbürgergesetze sowie der Bau des Ram-Tempels in Ayodhya.
Birgt die "spirituelle Demokratie" mit ihrem übergeordneten Prinzip der Synthese auch das Potenzial der Verengung? Schließlich bedeutet Synthese so viel wie das Zusammenfassen von mehreren Elementen zu einer neuen Einheit.
Der Journalist und Kolumnist Jug Suraiya glaubt: "Die BJP hat vor, Indien in ein Spiegelbild des islamischen Staates Pakistan zu verwandeln."

Bleibt Indien eine "funktionierende Anarchie"?

Suraiya schreibt seit Jahren gegen diese Politik an. Der Journalist interpretiert "spirituelle Demokratie" als die völlige Wahlfreiheit der eigenen geistigen Überzeugungen – frei von den institutionalisierten Religionen. Er ist davon überzeugt, dass die Pluralität so tief im indischen Denken verwurzelt ist, dass eine Politik der Homogenisierung scheitern wird.
Indien, so der Journalist, werde oft sogar als "funktionierende Anarchie" bezeichnet: "Versuchen Sie mal, diese funktionierende Anarchie in eine staatlich kontrollierte Maschine zu verwandeln. Das ist schier unmöglich."

Demokratie als "Herz des Hinduismus"

Auch viele Gläubige sehen die Vielfalt im Hinduismus angelegt. Nalini Girdhar, Grundschullehrerin aus Neu-Delhi, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Spiritualität. Die 56-Jährige erklärt Folgendes: "Demokratie ist das Herz des Hinduismus. Also bedeutet spirituelle Demokratie, dass es uns freisteht, jedem Bild Gottes zu folgen. Es gibt sehr viele Götter. Uns ist es freigestellt, jedem Gott zu folgen, damit wir die höchste Wahrheit Gottes erreichen. Das kann sehr widersprüchlich und verwirrend sein, aber so ist der Hinduismus."
Der Hinduismus hat also auf jeden Fall basisdemokratische Elemente. Ob die Religionen Indiens dem Land aber wirklich zu einer spirituellen Demokratie verhelfen und wie egalitär diese sein kann und soll, das bleibt dagegen Ansichtssache.
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