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Unrechtsstaat-Debatte
Erfurts Linke und ihre Vergangenheit

In Thüringen wird Rot-Rot-Grün immer wahrscheinlicher. Eine Voraussetzung dafür war ein Papier, das die DDR als Unrechtsstaat klassifiziert, das auch die Linke unterschreiben musste. Doch damit sind nicht alle Genossen einverstanden.

Von Henry Bernhard | 23.10.2014
    Bodo Ramelow, Spitzenkandidat und Fraktionschef der Linken im Thüringer Landtag.
    "Es gibt kein Zurück mehr in eine geträumte DDR", sagt Fraktionschef Bodo Ramelow (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Die Szene: Ein Hoteleingang in Erfurt am zugigen Juri-Gagarin-Ring. Heraus treten die Verhandlungsführer in den Sondierungsgesprächen von SPD, Grünen und Linken.
    "Die Sondierungsgruppen aus Linke, SPD und Grünen haben sich heute noch mal ein weiteres Mal versichert, dass die vereinbarte Erklärung zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte in jedem Wort, in ihrem Inhalt und als Papier in Gänze steht. Es bleibt die Grundlage für einen zukünftigen Koalitionsvertrag."
    Das war vor drei Wochen. Susanne Hennig-Welsow, die Vorsitzende der Thüringer Linken, war bemüht, die Wogen zu glätten, die für die Linken so unangenehme Diskussion, um den Unrechtsstaat DDR zu beenden, die Sondierungen mit SPD und Grünen nicht zu gefährden. Schließlich geht es um die Macht in Thüringen. Die will man nicht durch ein einziges Wort gefährden. Für SPD und Grüne ist die Diskussion mit der linken Unterschrift beendet, ihnen genügt das Lippenbekenntnis. Für die Linken aber gärt das Wort weiter: Unrechtsstaat. Gerade ältere Genossen krümmen sich, wenn sie es hören, schließlich geht es um ihre Vergangenheit in der DDR. Auch Roland Koch aus Sonneberg im äußersten Süd-Thüringen:
    "Im ersten Moment habe ich gedacht: Oh, was ist denn das? Da setzt man uns die Pistole auf die Brust, wie das mal in der Inquisition früher war, wo sie gesagt haben: Entweder, Du gestehst das – oder wir machen mit Dir etwas anderes."
    Debatte um Unrechtsstaats-Formulierung
    Roland Koch ist, wie er selbst sagt, ein "echter Sozialist". Er kommt aus ärmsten Verhältnissen, konnte aber nach der Lehre Abitur machen und studieren. Das wäre, so meint er, im Westen nicht möglich gewesen.
    "Ich kann nicht einfach alles über Bord werfen, was mir 15 oder 20 Jahre Existenz gegeben hat und Entwicklungsmöglichkeiten."
    Sicher, so meint Koch, Unrecht hätte es gegeben in der DDR, aber das wären vielleicht zehn Prozent gewesen. Und auch davon habe er vor 1989 nichts gewusst.
    "Dass solche Dinge aufgetreten sind, das ist sehr peinlich, solche Unrechtmäßigkeiten, das ist sehr peinlich. Das ist mir in meiner Person natürlich nicht passiert, weil ich nicht so veranlagt bin. Ich bin Humanist durch und durch. Und da muss man erst mal mit fertig werden. Aber dass das alles plötzlich ... Also, wenn ich sage, die DDR war ein Unrechtsstaat, dann war ich ja selbst auch ein Unrechtsmensch; und das will ich wirklich nicht behaupten."
    Susanne Hennig-Welsow, die Vorsitzende der Thüringer Linken, kennt diese Befindlichkeiten ihrer Genossen:
    "Der Begriff Unrechtsstaat, der Kampfbegriff, so wie er empfunden wird, pauschal, findet wie ein Pfeil mitten ins Herz der Genossinnen, der ehemaligen DDR-Bürger, und löst eine sehr emotionale Debatte aus."
    Und diese Debatte läuft, wie viele Genossen bestätigen. Kaum noch in der Öffentlichkeit, aber innerhalb der Partei. Denn die Genossen werden im November, wenn ein Rot-Rot-Grüner Koalitionsvertrag steht, befragt werden, ob sie dem zustimmen, und damit auch der Unrechtsstaats-Formulierung, die wohl in der Präambel auftauchen wird. Nun zweifelt kaum jemand daran, dass auch hart gesottene DDR-Nostalgiker die Kröte schlucken werden, um die CDU abzulösen und Bodo Ramelow an die Macht zu bringen. Aber auch die Fraktion muss stehen. Dort reichen aber nicht 51 Prozent Zustimmung, sondern sie braucht angesichts der knappen Verhältnisse im Landtag jede Stimme. In diesem Erfurter Landtag hielt der neugewählte Landtags-Präsident Christian Carius, CDU, vor zehn Tagen seine Antrittsrede. Darin auch eine Passage, die dem Formelkompromiss von Linken, SPD und Grünen sehr ähnelt.
    "Es gab keine freien Wahlen, keine Gewaltenteilung, keine Informationsfreiheit, dafür massenhafte Bespitzelung und Unterdrückung. Dieses Unrecht wurde vorsätzlich und systematisch begangen, zur Macht- und Existenzsicherung des SED-Staates. Richtig ist: Auch in einem Rechtsstaat kann Unrecht geschehen. In einer Diktatur aber hat Unrecht System. Die DDR war ein Unrechtsstaat."
    Ramelow: Kein Zurück mehr in eine geträumte DDR
    Der Beifall zog sich durch alle Fraktionen. Doch bei der Linken sah man nur drei rechte Hände zögerlich klopfen, drei von 28. Die von Johanna Scheringer-Wright war nicht dabei. Die Agraringenieurin stammt aus einer kommunistischen Familie in Bayern und lebt im katholischen Eichsfeld im Norden Thüringens. Sie ist mit der bereits feststehenden Unrechtsstaats-Formulierung für den Koalitionsvertrag unzufrieden, sähe ihn gern geändert. Im Landesvorstand hat sie sich in dieser Frage enthalten.
    "Ich denke, in den Koalitionsverhandlungen gäbe es auch noch bei dieser Geschichte die Chance, etwas besser niederzulegen. Aber insgesamt denke ich schon, dass wir den Koalitionsvertrag in der Fraktion natürlich mittragen."
    Die Chance, die CDU abzulösen, will sie sich nicht entgehen lassen. Unrechtsstaat hin oder her. Ihr Fraktionschef und möglicher Ministerpräsident Bodo Ramelow aber wird deutlicher und will die Diskussion weiter tragen:
    "25 Jahre danach kann niemand leugnen, dass der Bruch mit dem Stalinismus ein unverbrüchlicher Weg ist. Es gibt kein Zurück mehr in eine geträumte DDR. Der Auftrag, den wir uns geben wollen, heißt, die Menschen auch mit in den Dialog zu bringen, auch jetzt darüber zu reden: Was ist dort alles an Unrecht und Willkür praktiziert worden? Auch darüber muss man reden, was das im Alltag bedeutet hat. Und die Diskussion um den Unrechtsstaat zeigt, wie notwendig die Diskussion ist."
    Schon am Wochenende, wenn die Linke in Thüringen ihren Parteitag abhält, wird das Thema eine Rolle spielen. Und möglicherweise auch bei der Ministerpräsidentenwahl: Denn die ist geheim.