"Gebt uns eine Chance!"

Nadine Gordimer im Gespräch mit Jürgen König · 01.09.2009
Die Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer sieht die Zukunft Südafrikas optimistisch, auch wenn die Situation im Land derzeit von Gewalt und Wirtschaftskrise geprägt ist. Das Zusammenleben zwischen Schwarz und Weiss in Südafrika sei für die Menschen unter 15 Jahren mittlerweile ganz normal. Diese Generation gebe ihr deswegen Hoffnung, so die 85-Jährige.
König: Nadine Gordimer wurde 1923 in der Nähe von Johannesburg als Tochter jüdischer Eltern geboren. Die Mutter stammte aus England, der Vater aus Litauen. Schon mit 15 Jahren veröffentlichte sie ihre erste Erzählung. Nach dem Studium der Geisteswissenschaften widmete sie sich ganz dem Schreiben, schrieb Erzählungen und Romane, deren Thema in unendlich vielen Variationen immer dasselbe blieb: die Apartheit, die Politik der Rassentrennung, ihre Überwindung und der Aufbau des neuen Südafrika. 1991 erhielt Nadine Gordimer für ihr Werk den Nobelpreis für Literatur. Gestern Abend habe ich mit ihr gesprochen, natürlich wiederum über ihr Lebensthema. Dolmetscherin war Marei Ahmia.

Wenn von Südafrika die Rede ist, ist immer sehr schnell von Gewalt die Rede, von Einbrüchen, von Überfällen, die immer brutaler werden, die Zahl 20.000 Morde pro Jahr geistert durch die Presse. Am schlimmsten, so liest man es immer wieder, sei es in Johannesburg. Sie leben in Johannesburg, können Sie uns die Atmosphäre dieser Stadt charakterisieren?

Nadine Gordimer: Ja, also es stimmt natürlich, dass Johannesburg eine Stadt mit sehr viel Gewalt ist. Man muss sich allein die Menge an Waffen angucken, die im Umlauf sind, die Anzahl der Leute, die Pistolen unter dem Kopfkissen haben, auch aus Angst vor Überfällen oder so was. Das passiert natürlich auf der ganzen Welt. Zum Beispiel werden in den USA auch Schulkinder von tödlichen Schüssen getroffen, weil die Eltern anderer Kinder Pistolen zu Hause haben und diese Kinder dann wiederum im Fernsehen eine Schießerei sehen und das einmal selbst ausprobieren wollen. Ja, aber in Johannesburg gibt es tatsächlich sehr viel Gewalt.

Ich bin selber mitten am Tag überfallen worden, und was für mich das Traurigste dabei war, war, dass der junge Mann, der mich überfallen hatte, als mein Kopf zwischen seinem Kiefer und seiner Schulter eingeklemmt war, ich konnte nur seinen Arm sehen, und da habe ich festgestellt - und das war für mich eigentlich so traurig -, dass dies ein wirklich schöner Arm eines sehr jungen Mannes war. Man kann ja an einem Körperteil sehr klar das Alter auch einer Person sehen. Und nach dem Schock, der natürlich schrecklich war für mich, und als ich mich davon ein wenig erholt habe, kam die Frage auf: Warum? Warum ist dieser junge Mann kriminell geworden? Warum hat er vielleicht die Schule abgebrochen und warum ist er zum Einbrecher geworden?

Und da kommen wir zur Wurzel allen Übels, was in unserem Land die Armut ist. Und wir - da gibt's auf der einen Seite uns, Schwarze und Weiße, die genug von allem haben, denen es gut geht, und auf der anderen Seite halt diejenigen, die in Hütten wohnen, die in Armut leben. Und diese Situation zu verbessern, hatte unser Präsident Herr Zuma ja eigentlich versprochen, da er selber aus einer armen Familie stammt und die Armut selbst kennengelernt hat.

Und ja, zurück zu diesem jungen Mann. Die Frage war für mich halt: Warum hat er nichts gelernt, warum ist er nicht zum Beispiel Klempner geworden? Das sind doch Jobs, die überall eigentlich noch da sind. Es gibt auch immer einen Mangel an diesen Tätigkeiten. Ich will damit nicht sagen, dass er nur eine solche, dieser schwarze Mann nur eine solche Ausbildung hätte machen können, er hätte ja auch Chef einer Minengesellschaft werden können. Aber was ich sagen möchte, ist, dass der einzige Weg raus aus dieser Armut, aus dem Elend in der Bildung und in der Ausbildung liegt und die Situation sich momentan aber noch extrem verschlimmert hat und noch komplizierter geworden ist durch die große Flut verzweifelter Flüchtlinge aus anderen Ländern, die in unser Land drängen.

König: Wenn Sie sagen, die Situation ist sehr viel schlimmer geworden durch die Flüchtlinge, ich glaube zu wissen, drei Millionen aus Simbabwe alleine, aber auch aus dem Kongo zum Beispiel oder aus Somalia. Man liest hier, Millionen Menschen würden inzwischen in den Elendsvierteln der großen südafrikanischen Städte leben. Justiz, auch die Polizei sollen in einem heillosen Zustand sein, das sagte der südafrikanische Schriftsteller André Brink, Gewalt prägt den Eindruck. Ich las auch von konkurrierenden Taxifahrer, die sich gegenseitig ihre Autos anzünden. Welche Autoritäten gibt es in Südafrika, die an diesen Zuständen etwas ändern könnten?

Gordimer: Zunächst einmal müssen wir akzeptieren, dass die Weltwirtschaftskrise uns betrifft und das wahrscheinlich noch schlimmer als einige andere Länder. Man muss auch bedenken, dass es erst 15 Jahre her ist, seit das System der Apartheid zu einem Ende gekommen ist. Und ich frage oft meine europäischen Freunde: Wie lange hat es denn bei Ihnen im Land gedauert, bis die Demokratie sich stabilisiert hat, bis es wirklich zu einer wahren Demokratie gekommen ist? Und damit möchte ich auch sagen: Gebt uns eine Chance!

Was aber nicht heißen soll, dass ich diese Situation nicht kritisiere. Ich denke, das ist meine Verantwortung zu kritisieren. Ich bin in diesem Land geboren und aufgewachsen, und die einzige politische Verpflichtung, die man wirklich hat, ist, die Zustände zu kritisieren und nicht zu sagen, das, was meine Partei macht, ist immer richtig, oder das, was dieser tut, ist immer richtig, sondern man muss auch in den eigenen Reihen Kritik üben, wie das halt auch mein Freund André Brink und Desmond Tutu zum Beispiel tun oder auch Kadher Asmal.

König: Aber dann frage ich doch noch mal nach: Welche Autoritäten sehen Sie, welche moralischen Autoritäten, welche auch tatsächlichen Autoritäten, von denen Sie wirklich glauben, Sie mit Ihrem unerschütterlichen Optimismus, dass sie in der Lage sind, dieses Land auf einen guten Weg zu bringen? Denn man hat, ich frage das nicht als Kritiker, aber man hat, wenn man hier die Zeitungen liest, den Eindruck, dass dieses Land wirklich dabei ist, aus den Fugen zu geraten.

Gordimer: Ich würde mich selbst als eine optimistische Realistin bezeichnen, und unsere Idee davon, wie das Land sich entwickeln sollte und wie es umgeformt, umgestaltet werden sollte, war halt immer die Perspektive des ANC oder sagen wir mal der Linken in Südafrika. Als Beispiel: Als in Berlin die Mauer fiel, umarmten sich hier alle. Die Sektkorken knallten und alle fielen sich um den Hals. Und nun, es gab dann auch noch einen Morgen danach, und ja, kurz darauf, später, endete auch die Apartheid. Und bei uns war es so, dass damit die Oppositionsparteien legalisiert wurden. Wir haben ebenfalls gefeiert, und es gab aber auch einen nächsten Morgen. Und das war kein Kopfschmerz, der schnell vergeht. Also der Kater, den haben wir sozusagen immer noch.

Hier in Deutschland sind die Probleme natürlich auch nicht gleich verschwunden, aber der große Vorteil, den Sie hier haben, ist der der gemeinsamen Sprache, Sie haben eine Sprache. Und wie man sagt, die Sprache ist ein Zuhause und es ist leichter zusammenzukommen, wenn man die gleiche Sprache spricht. Wir in Südafrika haben elf verschiedene Sprachen, neun verschiedene indigene Sprachen, dann Afrikaans und Englisch. Und da ist es sehr viel schwieriger, zu einem gemeinsamen moralischen Konzept zu kommen, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden.

Und wir kämpfen noch mit den Kopfschmerzen, mit dem Kater, nach dem Ende der Apartheid. Das machen normale Menschen, weniger gewöhnliche Menschen, viele arbeiten daran. Eine großartige Einrichtung ist für mich die Wahrheitskommission gewesen, oder sie ist es noch, und ich finde auch viel besser als das, was in Nürnberg passiert ist. Und die Leute versuchen auch, die Prinzipien dieser Wahrheitskommission umzusetzen.

Wenn ich mich als optimistische Realistin bezeichne, dann bin ich mir durchaus der großen Probleme bewusst, die es in unserer Gesellschaft gibt, und ich sehe sie auch wirklich nicht als gelöst an, ich sehe eher, dass sich die Situation zurzeit verschlimmert. Aber wenn ich optimistisch bin, dann ist das wegen der Dinge, die bereits geschehen sind, wegen der Dinge, die sich bereits verändert haben. Ich bin in dem Land geboren. Als ich zur Schule ging, war das eine Schule, zu der nur Weiße Zutritt hatten. Meine Kinder wären, wenn sie auf eine Staatsschule gegangen wären, auch auf eine Schule gegangen, zu der nur Weiße zugelassen wären. Sie sind dann letzten Endes auf eine andere Schule gegangen, aber das war nicht immer ganz legal.

Und wenn ich jetzt die Straße von meinem Haus runtergehe, sehe ich eine ehemalige weiße Privatschule, und wenn da gerade Pause ist und ich sehe dann einen weißen und einen schwarzen Jungen, die sich so kabbeln oder so was, dann erschrecke ich mich immer noch fast und denke, oh, ein schwarzes und ein weißes Kind, na nu. Und wenn man jetzt aber die Mädchen sieht, die zusammen kichern oder Hand in Hand laufen, dann ist das für die Kinder ganz normal. Und es ist diese Generation der unter 15-Jährigen, für die ein Zusammenleben erst normal ist. Und wenn ich davon spreche, dass wir eine Chance haben müssen, dann liegt die in dieser Generation. Also mein Optimismus bezieht sich voll und ganz auf diese Generation.

König: Sie haben, Nadine Gordimer, in früheren Interviews immer wieder beschrieben, wie besorgt Sie seien wegen der möglichen Wahl Jacob Zumas zum Staatspräsidenten. Korrupt sei er, in illegale Waffengeschäfte verwickelt, ein Vergewaltiger, nicht dumm sei er, aber dumm argumentierend. Nun ist Jacob Zuma der Staatspräsident Südafrikas. Was sagen Sie zu den ersten Monaten seines Amtes? Ist es so gekommen, wie Sie befürchtet hatten, oder doch nicht ganz oder noch schlimmer? Welche Erfahrungen haben Sie mit diesem neuen Staatspräsidenten gemacht?

Gordimer: Nun, noch bedauere ich es sehr, dass er gewählt wurde. Seine Vergangenheit ist natürlich sehr bedauerlich. Man braucht sich nur Ihren Nachbarn Italien anzuschauen, Herrn Berlusconi, wenn man sich darum Gedanken macht, womit Politiker alles durchkommen. Also ich denke, dass die beiden sehr viel gemeinsam haben, Jacob Zuma und Berlusconi. Sein Umgang mit der Frau in dem Vergewaltigungsfall war natürlich äußerst bedauerlich, er wurde ja auch noch freigesprochen. Und wenn er dann vor Gericht sagt, als er gehört hat, dass die Frau Aids habe, hätte er schnell noch eine Dusche genommen, so sei das ja nicht so schlimm gewesen, so fragt man sich, was für ein Präsident ist das, der so eine Botschaft an die jungen Leute im Land weitergibt, die ungeschützten Sex haben. Aber das beiseite, das ist seine persönliche Moral, und ich denke, das ist seine Sache letzten Endes, auch wenn es bedauerlich ist.

Aber wichtig ist mir die politische Moral. Wenn er gegen die Rechte der Leute verstößt, die er eigentlich vertritt, und er hat ja zu Beginn versprochen, da er ja nun selbst aus einem armen Elternhaus kam, sich selbst alles beigebracht hat und ein sehr intelligenter Mensch ist, hat er halt versprochen, ich kenne die Armut und ich werde mich darum kümmern. Und die Leute, die in den Slums lebten, die glaubten ihm. Sie glaubten, er würde sie verstehen. Und ich denke, er hat nicht wirklich viel getan, um die Situation zu ändern.

Aber es gab doch Versuche, die große Lücke zwischen oben und unten zu verkleinern. In letzter Zeit zum Beispiel ist er öfter in Townships gegangen und hat dort auch die Nacht verbracht, und ich denke, das spendet vielleicht auch ein bisschen neue Hoffnung. Und man kann nur hoffen, dass er's auch ehrlich meint. Und wenn ich sage, ich bedauere, dass er gewählt wurde, so hoffe ich dabei doch auch, vom Gegenteil überzeugt zu werden.

Übersetzung: Marei Ahmia.