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Urteile zu Staatsfolter in Syrien
Völkerrechtler: Putin schützt das Assad-Regime

Der Internationale Strafgerichtshof sei eigentlich die Instanz für Prozesse zu Staatsfolter in Syrien, doch der russische Präsident Wladimir Putin verhindere diesen Weg, sagte der Völkerrechtler Claus Kreß im Dlf. Kreß fordert die Bundesregierung auf, mehr Geld für Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch bereitzustellen.

Claus Kreß im Gespräch mit Christoph Heinemann | 23.01.2022
Prozess um Staatsfolter in Syrien. Der Angeklagte (r) und die anderen Prozessbeteiligten stehen im Gerichtssaal des Oberlandesgerichts.
Es dürfe keine Immunität für Straftaten geben, die in hoheitlicher Funktion verübt worden, sagte Claus Kreß im Interview (picture alliance/dpa | Thomas Frey)
Der Kölner Völkerrechtler Claus Kreß erwartet von der Bundesregierung, dass sie für Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch zusätzliche Mittel bereitstellt. Allein durch interne Umschichtungen werde die Ampel-Koalition den im Koalitionsvertrag angekündigten Ausbau der Kapazitäten für solche Verfahren nicht erreichen können, denn die anderen Aufgaben von Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt seien zu wichtig, sagte Kreß, der auch als Sonderberater der Anklage beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag tätig ist, im Interview der Woche des Deutschlandfunks.
Am vergangenen Mittwoch hatte vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main ein Prozess gegen einen syrischen Arzt begonnen. Dem Angeklagten wird Folter zu Last gelegt. In vergleichbaren Verfahren wurden in den vergangenen Monaten Urteile von deutschen Gerichten gesprochen.

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Schutz für Zeugen

Kreß sagte, in diesen Prozessen seien wichtige Verfahrensfragen aufgetreten. Diese beträfen den Schutz und die Begleitung von Zeugen oder die internationale Verbreitung solcher Verfahren durch Übersetzung und Dokumentation. Kreß forderte das Bundesjustizministerium oder den zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages zu einer Anhörung von Sachverständigen auf.
Kreß unterstrich die Bedeutung des Verfahrens gegen Anwar R. Das Oberlandesgericht Koblenz hatte den Syrer Mitte Januar wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslanger Haft verurteilt. In dem Urteil stehe, dass diese Taten eingebettet gewesen seien in einen systematischen und ausgedehnten Angriff spätestens seit April 2011 gegen die syrische Zivilbevölkerung, und dass niemand hinter diesem Angriff gestanden habe als das syrische Regime mit Präsident Assad an der Spitze. Eine solche Feststellung von einem Gericht habe eine ganz andere Aussagekraft als die eines nicht-gerichtlichen Gremiums. Kreß warf dem russischen Präsidenten Putin vor, er halte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bis heute seine Hand schützend über Assad.

Keine Immunität für Straftaten, die in hoheitlicher Funktion verübt werden

Kreß sagte, mit dem Koblenzer Urteil und dem von dem gleichen Oberlandesgericht ergangenen Urteil vom Februar 2021 gegen einen Syrer wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei eine Grundsatzfrage des Völkerstrafrechts berührt. Beide Prozesse seien gegen ehemalige Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes geführt worden, also gegen Personen, die in hoheitlicher Funktion gehandelt hätten. Im klassischen Völkerrecht gelte der Grundsatz, dass bei Handeln in hoheitlicher Funktion vor fremden Gerichten funktionale Immunität bestehe. Diese Verteidigung hätten auch die Deutschen bei der Geburtsstunde des Völkerrechts in Nürnberg vorgebracht. Das Nürnberger Militärtribunal habe diesen Einwand der Deutschen zurückgewiesen.
Dieser Grundsatz des Völkerrechts stehe mit dem Völkerstrafrecht nicht im Einklang. Beim Völkerstrafrecht gehe es um die Ahndung von Straftaten, die typischerweise von Staatsorganen begangen würden. Der Bundesgerichtshof habe dieses Nürnberger Vermächtnis, keine Anwendung der funktionalen Immunität in Völkerstrafverfahren, vor dem ersten Koblenzer Urteil bestätigt.
Die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen berate gegenwärtig über diese Frage. Kreß sagte, er wünsche sich, dass die neue Bundesregierung das Nürnberger Vermächtnis zur funktionalen Immunität verteidigen möge.
Völkerrechtler Claus Kreß als "amicus curiae" vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag
Professor Claus Kreß war im September 2018 als „amicus curiae“ vor dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court)

Das Interview im Wortlaut:

Christoph Heinemann: Professor Kreß, als die Tagesschau am 13. Januar über das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz gegen Anwar R. im Zusammenhang mit Folter in Syrien berichtete, und zwar trotz der Corona-Lage als erste, also als Aufmachermeldung, hat Sie das bewegt. Das haben Sie vor unserem Gespräch angedeutet. Wieso?
Claus Kreß: Ja, es hat mich bewegt zunächst mit Blick auf die Opfer, von denen ja nicht wenige sehr mutig in diesem Verfahren ausgesagt haben. Mit ihrem Mut und mit ihrem Leid standen sie nun einmal ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ich habe selbst eine geflüchtete syrische Wissenschaftlerin bei mir im Team und habe deshalb ein wenig eine Vorstellung davon, was dieses Leid für so viele Syrer bedeutet.
Ich habe aber auch an die deutsche Geschichte gedacht und daran, wie schwer sich Deutschland lange Zeit getan hat mit dem Völkerstrafrecht. Es ging ja zunächst, daran müssen wir immer denken, um deutsche Völkerstraftaten, die im Ersten Weltkrieg und dann natürlich vor allem die im Nationalsozialismus. Und dann galt das Völkerstrafrecht gerade auch in Deutschland lange Zeit als naiv, als wirklichkeitsfremd. Ein Gelehrter hat von Glasperlenspielen einer internationalen Juristensekte gesprochen. Das ist alles noch nicht sehr lange her.
Koblenz: Der Angeklagte Anwar R. wird in Handschellen zur Urteilsverkündung in den Gerichtssaal des Oberlandesgerichts geführt.
Der Angeklagte Anwar R. wird in Handschellen zur Urteilsverkündung in den Gerichtssaal des Oberlandesgerichts Koblenz geführt. (dpa/ Thomas Frey)
Und dann gibt es schließlich auch eine kleine persönliche biografische Note. Als das Völkerstrafgesetzbuch vor etwa 20 Jahren ausgearbeitet wurde, da durfte ich einer Arbeitsgruppe angehören, die den Entwurf formuliert hat. Und es ist natürlich etwas Besonderes, dann in der Tagesschau vermittelt zu bekommen, das Völkerstrafrecht ist jetzt in der Praxis angekommen.

"Expertise von Historikern, von Politikwissenschaftlern von Belang"

Heinemann: 108 Verhandlungstage deuten auf ein mühsames Verfahren hin. Welche Hürden mussten vor dem Urteil überwunden werden?
Kreß: Zunächst einmal musste das gesamte Verfahren für den Angeklagten ins Arabische übersetzt werden. Es mussten über 80 Zeugen vernommen werden, davon einige aus dem Ausland. Es stellten sich Fragen des Zeugenschutzes.
Und dann genügte es eben nicht, es ging ja um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, in diesem Verfahren, die einzelnen vom Angeklagten begangenen Taten, also diese 27 Morde, die 4.000 Folterhandlungen, festzustellen, sondern den sogenannten systematischen und ausgedehnten Angriff gegen eine Zivilbevölkerung, hier die Zivilbevölkerung in Syrien, die dahinterstand. Und das erfordert zusätzlichen prozessualen Aufwand. In einem solchen Fall ist typischerweise die Expertise von Historikern, von Politikwissenschaftlern von Belang. Das ist ganz typisch für ein Völkerstrafverfahren. Das ist diese Einbettung der einzelnen Taten in den größeren internationalen Kontext, die die Taten zu einer Tat von internationalem Interesse macht.
Heinemann: Wie arbeiten Ermittlerinnen und Ermittler im Fall syrischer Staatsfolter?
Kreß: Sie sind in drei Stufen vorgegangen. Schon sehr früh, nachdem die brutale Repression des Arabischen Frühlings begann, hat man sich dazu entschieden, die Vorgänge, das Geschehen in Syrien systematisch zu beobachten. In einem zweiten Schritt ist dann aus dieser Beobachtung ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren, das ist ein Fachbegriff der Ermittler, entstanden, und bei diesem Strukturermittlungsverfahren hat man die syrische Situation insgesamt in den Blick genommen. Und aus diesem Strukturermittlungsverfahren ist dann zu einem deutlich späteren Zeitpunkt unter anderem dieses konkrete Verfahren von Koblenz erwachsen.

"Als sich die Möglichkeit ergab, waren die Strafverfolger vorbereitet"

Heinemann: Anwar R. wurde nach seiner Flucht nach Deutschland hier bei uns in Deutschland von Folteropfern erkannt und 2019 dann in Berlin festgenommen. Welche Rolle spielte der Zufall bei diesem Verfahren?
Kreß: Das ist natürlich ein Element des Zufalls, aber das ist nicht der Zufall alleine, sondern hier spielten dann eben diese Strukturermittlungen, von denen ich gesprochen hatte, eine entscheidende Rolle. Als sich die Möglichkeit ergab, waren die Strafverfolger deshalb vorbereitet. Sie können also von einem Element des Glücks sprechen, aber dann würde ich hinzufügen, ein Element des Glücks von Tüchtigen.

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Heinemann: Über welche Erfahrung verfügt die deutsche Bundesanwaltschaft inzwischen, die zuständig ist für die Ermittlung nach dem Völkerstrafgesetzbuch?
Kreß: Die Erfahrungen der Bundesanwaltschaft sind deutlich angewachsen über die Jahre. Es gibt inzwischen zwei Völkerstrafrechtsreferate bei dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe, und dort achtet man nach meinem Eindruck inzwischen auch auf personelle Kontinuität. Das ist bei einem so komplexen Feld wie dem Völkerstrafrecht sehr wichtig. Wir müssen auch an das Bundeskriminalamt denken. Dort gibt es eine Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen seit geraumer Zeit. Auch dort hat sich wichtige spezielle Expertise inzwischen aufgebaut.
Wichtig ist, dass die Ermittler international vernetzt arbeiten. In Europa, im Rahmen der Europäischen Union, gibt es das sogenannte Genocide Network. Das wird in der Praxis sehr geschätzt, und auch im konkreten Fall in Koblenz sind die Ermittler international vernetzt vorgegangen. Es gab eine sogenannte deutsch-französische gemeinsame Ermittlungsgruppe, die es deutschen Ermittlern erlaubt hat, in Frankreich, was eine Besonderheit ist, tätig zu werden. Und dann schließlich kam den Ermittlungen zugute, dass die Generalversammlung der UNO, speziell mit Blick auf Syrien, einen internationalen Mechanismus eingerichtet hat, speziell zur Unterstützung der nationalen Strafverfolgung.

"In dem Koblenzer Verfahren war die Rechtsmedizin von ganz herausragender Bedeutung"

Heinemann: Welche Expertise steht den Strafverfolgern sonst noch zur Verfügung?
Kreß: In dem Koblenzer Verfahren war die Rechtsmedizin von ganz herausragender Bedeutung, und das liegt an der berühmt gewordenen sogenannten Caesar-Akte. Caesar ist der Deckname für einen früheren syrischen Militärfotografen, der die Aufgabe hatte, man glaubt es kaum, die zu Tode gefolterten Menschen, also die Leichname dieser Menschen aufzunehmen für interne Dokumentationszwecke. Und er hat diese Dateien, mehr als 25.000 Bilder von über 6.800 Leichen, das sind fürchterliche Bilder, er hat diese Dateien ins Ausland geschmuggelt, wenn man so sagen will, und sie sind dann in den Zugriffsbereich der Bundesanwaltschaft gekommen. Und diese Dateien mussten ausgewertet werden für die Zwecke des Prozesses. Das hat die Rechtsmedizin der Universität zu Köln geleistet, das dortige Institut für Rechtsmedizin. Das war eine, wie Sie sich vorstellen können, ungemein aufreibende Aufgabe, die auch sehr, sehr hohen Sachverstand erforderte.
Das war aber wichtig, einmal um die Authentizität dieser Bilder festzustellen und auch um festzustellen, dass sie ein Muster von Folter ergaben. Diesem Kölner Rechtsmedizinischen Institut kamen Vorerfahrungen zugute. Man war dort schon im Zusammenhang mit dem Völkermord in Srebrenica mit Fragen der Untersuchung von Massengräbern befasst. Das hat sich ausgewirkt.
Ich möchte noch auf einen zweiten Aspekt hinweisen. Die Bundesanwaltschaft, die Ermittler können in solchen Fällen inzwischen auf ein robustes Netzwerk von Nichtregierungsorganisationen zurückgreifen. Solche Nichtregierungsorganisationen sind sehr häufig wichtig für den ersten Zugriff, für die erste Auswahl von Opferzeugen. Und sie bringen auch sonstige Expertise rein, in den Prozess. In Koblenz war es etwa so, dass eine sehr professionelle Nichtregierungsorganisation Aufschluss gegeben hat, wichtigen Aufschluss über die internen Abläufe innerhalb des syrischen Regimes.
Heinemann: Wir wissen nicht, ob der Syrer Anwar R. ein Damaskus-Erlebnis durchlaufen hat und vom Folter-Saulus zum Paulus wurde. Vor Gericht hatte man nicht unbedingt den Eindruck, allerdings der Mann ist desertiert. Er hat sich vom Regime abgewandt, das ihn als Verräter betrachtet und sich wegen des lebenslangen Urteils die Hände reiben dürfte. Schmälert das die Wirkung des Koblenzer Urteils?
Kreß: Es mag schon sein, dass das syrische Regime nicht allzu bekümmert ist über die Freiheitsstrafe in diesem Fall, aber das Urteil geht ja deutlich weiter. Ich hatte eben davon gesprochen, dass Feststellungen zum größeren Kontext getroffen worden sind. Was in diesem Urteil steht, ist, dass die Taten eingebettet waren in einen systematischen und ausgedehnten Angriff spätestens ab April 2011 gegen die syrische Zivilbevölkerung, und dass niemand anders hinter diesem systematischen Angriff stand als das syrische Regime mit Präsident Assad an der Spitze. Und eine solche Feststellung von einem Gericht hat noch mal eine ganz andere Aussagekraft als die eines nicht-gerichtlichen Gremiums.
Kinder und Erwachsene graben in einem Flüchtlingscamp im Nordwesten Syriens im Matsch. Ein Kind steht in kurzen Jeans und Flipflops am Rand. Das Foto wurde im Dezember 2021 aufgenommen.
Der Winter 2021/2022 im Nordwesten Syriens: In einem improvisierten Flüchtlingslager graben Kinder und Erwachsene einen Graben in den Matsch (imago / Zuma / Hussein Ali)

"Nicht Strafverfolgung um jeden Preis"

Heinemann: Nur welche Botschaft geht von dem Urteil an potenzielle Abtrünnige aus, wenn sie damit rechnen müssen, etwa in Deutschland vor Gericht gestellt zu werden?
Kreß: Das ist eine ganz schwierige und auch eine schmerzhafte Frage. Es ist ganz schwierig, sich in das Kalkül von denjenigen Syrern, die Sie jetzt ansprechen, zu versetzen. Es ist auch ganz schwierig, über Kenntnisse zu verfügen mit Blick auf die Frage, welche Möglichkeiten bestehen im Moment zur Desertion, aber es ist natürlich auch eine grundsätzliche Frage an dieser Stelle, und der will ich nicht ausweichen.
Nehmen wir einmal an, dass ein Mitglied des syrischen Geheimdienstes jetzt zu dem Entschluss käme, mit Blick auf solche Verfahren in Deutschland nicht zu desertieren, dann würde sich die Frage stellen, sollte man deshalb auf die Durchführung solcher Völkerstrafverfahren verzichten. Was würde das bedeuten für die Opfer? Und welches gravierende Signal für die Völkerrechtsordnung insgesamt würde das aussenden?
Von Hitler ist ein Satz überliefert im Hinblick auf die Verbrechen an den Armeniern im Osmanischen Reich. „Wer spricht heute noch von den Armeniern?“ Und es ist dieses Kalkül von Machthabern, gegen das sich das Völkerstrafrecht wendet. Ich sage damit nicht Strafverfolgung um jeden Preis, aber wenn die Entscheidung getroffen wird, auf Strafverfolgung zu verzichten, dann müssen die gegenläufigen Interessen sehr, sehr schwer wiegen.

"Im UNO-Sicherheitsrat hält bis heute Putin seine Hand schützend über Assad"

Heinemann: Im Februar 2020 hat das Oberlandesgericht in Koblenz bereits einen ehemaligen Mitarbeiter des Assad-Regimes in Syrien zu viereinhalb Jahren Haft wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Am vergangenen Mittwoch begann in Frankfurt ein Prozess gegen einen Syrer, einen mutmaßlichen Folterarzt. Ende November hatte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main einen aus dem Irak stammenden 29 Jahre alten Anhänger der Organisation IS unter anderem wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge zu lebenslanger Haft verurteilt. Der Angeklagte hatte 2015, es ging damals durch die Presse, zusammen mit seiner aus Deutschland stammenden früheren Ehefrau ein fünf Jahre altes jesidisches Mädchen verdursten lassen. Drei Urteile, ein weiteres Verfahren jetzt, warum, Professor Kreß, häufen sich gegenwärtig die Fälle vor deutschen Gerichten?
Kreß: Das hat eben mit diesen eben angesprochenen Strukturermittlungsverfahren zu tun, auch in dem Fall der Verbrechen des sogenannten Islamischen Staats. An der religiösen Gruppe der Jesiden gab es ein solches Ermittlungsverfahren, und die resultieren dann irgendwann in solchen Verfahren mit Blick auf das Verfahren mit Bezug zu den Jesiden. Das Urteil des OLG Frankfurt ist wichtig hervorzuheben. Es ist die erste Verurteilung wegen Völkermordes nach dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch.
Heinemann: Warum urteilt über Verbrechen in Syrien nicht ein internationaler Strafgerichtshof?
Kreß: Wir haben tatsächlich seit 1998, seit 2002 ist dieser Vertrag in Kraft, einen internationalen Strafgerichtshof, den ersten ständigen Internationalen Strafgerichtshof der Rechtsgeschichte, und der wäre tatsächlich in der Sache auch hervorragend berufen zur Aburteilung, allerdings ist Syrien nicht Vertragspartei, und in einem solchen Fall kommt alles auf den UNO-Sicherheitsrat an. Und im UNO-Sicherheitsrat hält bis heute Putin seine Hand schützend über Assad, jedenfalls einstweilen.

"Treuhänderisch für die internationale Gemeinschaft tätig zu werden"

Heinemann: Auf welcher juristischen Grundlage können denn dann Syrer, die in Syrien mutmaßlich schwere Straftaten verübt haben, in Deutschland vor Gericht gestellt werden?
Kreß: An dieser Stelle ist das sogenannte Weltrechtspflegeprinzip entscheidend. Bei Völkerstraftaten wie den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, um die es hier geht, geht man davon aus, dass die internationale Gemeinschaft insgesamt betroffen ist, und deshalb erlaubt das Völkerrecht auch jedem Staat in einem solchen Fall, man kann dann sagen, gewissermaßen treuhänderisch für die internationale Gemeinschaft tätig zu werden, und Deutschland hat sich entschieden, im Völkerstrafgesetzbuch von dieser völkerrechtlichen Erlaubnis Gebrauch zu machen. Der Fall Syrien ist ein Paradebeispiel für eine Situation, in der das sinnvoll ist, weil ein internationaler Strafgerichtshof, wie eben besprochen, nicht zur Verfügung steht und Strafverfolgung am Tatort nicht aussichtsreich ist.
Heinemann: Also Voraussetzung sind Völkerstraftaten. Bei welchen Straftaten kann man von solchen Völkerstraftaten sprechen?
Kreß: Das sind zum einen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord, von denen wir eben gesprochen haben. Hinzu treten die Kriegsverbrechen und auch der Angriffskrieg, heute Verbrechen der Aggression genannt. Das sind die Straftaten in der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs, und darauf bezieht sich auch das Völkerstrafgesetzbuch.
Heinemann: Was können deutsche Gerichte unternehmen, wenn ein Folterregime sein Folterpersonal schützt?
Kreß: In einem solchen Fall ist eine Grundsatzfrage des Völkerstrafrechts berührt. Die Prozesse von Koblenz sind ja auch deshalb so bemerkenswert, weil sie geführt worden sind gegen ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter, also gegen Personen, die in hoheitlicher Funktion gehandelt haben. Der Grundsatz des klassischen Völkerrechts gilt, dass bei Handeln in hoheitlicher Funktion vor fremden Gerichten sogenannte funktionale Immunität besteht. Das ist nun ein Grundsatz, der mit der Grundidee des Völkerstrafrechts ersichtlich nicht im Einklang steht, denn hier solle es ja gerade gehen um die Ahndung von Straftaten, die typischerweise von Staatsorganen begangen werden.

"Manche Staaten bestehen entgegen dem Nürnberger Vermächtnis auf funktionale Immunität auch bei Völkerstraftaten"

Heinemann: Also konkret, der syrische Geheimdienst ist immun aus Sicht der Syrer?
Kreß: Das ist das klassische Dogma, wenn Sie so wollen, und diese Verteidigung haben dann auch die Deutschen in der Geburtsstunde des Völkerstrafrechts in Nürnberg vorgebracht, aber gerade weil es der Idee des Völkerstrafrechts widerspricht, hat das Nürnberger Militärtribunal diesen Einwand der deutschen Verteidigung zurückgewiesen. Der Bundesgerichtshof hat just einen Monat vor dem ersten Koblenzer Urteil dieses Nürnberger Vermächtnis, keine Anwendung der funktionalen Immunität in Völkerstrafverfahren, bestätigt. Und das ist eine ganz entscheidende Weichenstellung für die Durchführung solcher Prozesse.
Diese Frage der Immunität wird uns allerdings weiter beschäftigen. Die Völkerrechtskommission der UNO berät gegenwärtig über diese Frage, und im Zuge der Beratungen hat sich gezeigt, dass manche Staaten entgegen dem Nürnberger Vermächtnis auf funktionale Immunität, auch bei Völkerstraftaten, bestehen. Die Frage bleibt auch in der Wissenschaft umstritten. Ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung, die neue Bundesregierung, das Nürnberger Vermächtnis zur funktionalen Immunität in der Zukunft verteidigt. Das schließt übrigens überhaupt nicht aus, über wirksame Sicherungen gegen politischen Missbrauch nachzudenken.
Heinemann: Auf politischen Missbrauch kommen wir gleich noch zu sprechen. Können Sie noch Beispiele für Staaten nennen?
Kreß: Das sind Staaten wie die Russische Föderation und China, aber, und das stimmt besonders sorgenvoll, es sind eben auch eine ganze Reihe von Staaten, die Zweifel erkennen lassen, die nicht grundsätzlich dem Völkerstrafrecht ablehnend gegenüberstehen, und auch, leider muss man das hinzufügen, hat die Bundesregierung bei früherer Gelegenheit jedenfalls sich nicht in wünschenswerter Deutlichkeit geäußert zu dieser Frage.
Heinemann: Welche Möglichkeiten haben Strafverfolgungsbehörden, wenn sich die Beschuldigten nicht in Deutschland aufhalten?
Kreß: Dann gibt es nur, aber immerhin, den Weg, um die Auslieferung des betreffenden Beschuldigten zu ersuchen. Auch das entspricht dem Geist der Weltrechtspflege, und interessanterweise hat genau das stattgefunden in dem Frankfurter Verfahren zum Völkermord an den Jesiden, nach meinem Wissen erstmals in der Praxis zum Völkerstrafgesetzbuch.

"Die deutsche Bundesregierung hat sehr maßgeblich an der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs mitgewirkt"

Heinemann: Professor Kreß, Sie haben maßgeblich an der Rechtsentwicklung Richtung Koblenz und Frankfurt am Main mitgewirkt. Welche waren die wichtigsten Etappen auf diesem Weg?
Kreß: Wir haben über die Geburtsstunde des Völkerstrafrechts Nürnberg gesprochen. Es folgte der Tokioter Prozess. Es gab dann eine ganze Reihe von nationalen Strafverfahren zu den deutschen und japanischen Völkerstraftaten. Das Nürnberger Tokioter Vermächtnis wurde dann international in den 1990er Jahren wiederbelebt, zunächst vom UNO-Sicherheitsrat mit der Einrichtung der Tribunale für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda. Und dann kam es 1998 zum Durchbruch der Errichtung des ersten internationalen Strafgerichtshofs der Rechtsgeschichte, dem Internationalen Strafgerichtshof.
Und das ist jetzt auch für die Entwicklung der deutschen Haltung von großem Interesse. Ich hatte ja eingangs von der lange währenden Skepsis in Deutschland gesprochen, und Mitte der 1990er Jahre hat sich hier ein durchgreifender Wandel vollzogen. Und die deutsche Bundesregierung, das war damals die Bundesregierung Kohl/Kinkel, hat sehr maßgeblich an der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs mitgewirkt, hat hierzu sogar einen Konflikt mit den Vereinigten Staaten von Amerika in Kauf genommen.
Heinemann: Im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien steht auf Seite 147: „In Deutschland wollen wir die Kapazitäten bei Verfahren nach dem Völkerstrafgesetzbuch ausbauen.“ Was erwarten Sie von der Bundesregierung?
Kreß: Ich erwarte, dass sie diesen Worten Taten folgen lässt, zusätzliche Mittel bereitstellt, denn durch interne Umschichtungen wird das nicht gehen. Dafür sind die anderen Aufgaben von Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt zu wichtig. Man sollte aber zum Zweiten auch grundsätzlicher nachdenken.
Das Völkerstrafgesetzbuch als solches hat sich bewährt, aber zu der Verfahrensweise sind nun doch in diesen neueren Verfahren wichtige Fragen aufgetreten. Die betreffen etwa den Schutz und die Begleitung von Zeugen. Sie betreffen aber auch den großen Bereich des Outreach, also der internationalen Verbreitung, die so wichtig ist, wenn die spezifischen Ziele von Völkerstrafverfahren erreicht werden sollten. Hier sollte man in puncto Übersetzung, in puncto Dokumentation grundsätzlich nachdenken. Ich plädiere dafür, dass das Bundesjustizministerium zu einer Anhörung von Experten zusammenruft oder der zuständige Bundestagsausschuss eine Sachverständigenanhörung anberaumt. Es geht hier um den Eintritt, wenn Sie so wollen, in eine zweite Phase zum Völkerstrafgesetzbuch.

Kreß: "keinen Anhaltspunkt" für politische Einflussnahme

Heinemann: Oder Marco Buschmann ruft Sie einfach mal an. Ist, Professor Kreß, die deutsche Justiz, wir hatten eben über politischen Missbrauch gesprochen, bei der Anwendung des Völkerstrafrechts eigentlich gut genug gegen Einflussnahme der Politik geschützt?
Kreß: Ich habe überhaupt keinen Anhaltspunkt dafür, dass es bislang eine solche Einflussnahme gegeben hat, aber die Gefahr ist im Völkerstrafrecht stets gegeben, und wir haben zwei Elemente, die sind problematisch aus meiner Sicht, zum einen die Möglichkeit externer Weisungen des Bundesjustizministers an den Generalbundesanwalt und dann dessen Stellung als politischer Beamter.
Heinemann: Können Sie konkrete Vorschläge machen, wie man das entschärfen könnte?
Kreß: Mein Vorschlag wäre, das externe Weisungsrecht speziell für den Bereich des Völkerstrafrechts auf den Prüfstand zu stellen.
Heinemann: Das müsste politisch entschieden werden?
Kreß: Ja, das wäre eine Frage für den Gesetzgeber.

"Deutschlands Beitrag sollte mit Blick auf die eigene Geschichte von allem moralischem Hochmut frei sein"

Heinemann:  Professor Kreß, warum sollte gerade Deutschland völkerstrafrechtspolitisch an der Spitze marschieren?
Kreß: Es geht gar nicht um eine Spitzenposition Deutschlands. Die Botschaft, die das Völkerstrafrecht aussendet für die Stärkung des Völkerrechts wird umso stärker sein, je mehr Staaten ihren Beitrag leisten. Es geht also um einen wirkungsvollen Beitrag der deutschen Strafjustiz. Jetzt kann man sich natürlich die Frage stellen, warum gerade Deutschland. Ist Deutschland nicht vielleicht gerade zu disqualifiziert durch die eigenen Untaten, auch durch die ja gar nicht zu bestreitenden deutschen Versäumnisse bei der Ahndung deutscher nationalsozialistischer Verbrechen?
Aber die Frage lautet doch, was ist der richtige Schluss aus dieser Geschichte? Und meines Erachtens wäre es der falsche Schluss, nun deshalb zu sagen, dass die heute rechtsstaatliche deutsche Justiz sich nicht in den Dienst des globalen Systems der Völkerstrafverfolgung stelle sollte, dass deutsche Juristinnen und Juristen, von denen es viele begeisterte und fähige junge gibt, nicht an internationalen Gerichtshöfen tätig sein sollten. Nur eines sollte stets gelten, Deutschlands Beitrag sollte mit Blick auf die eigene Geschichte von allem moralischem Hochmut frei sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.