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Sure 4 Vers 11
Die Benachteiligung von Frauen im islamischen Erbrecht

Heutzutage gibt es viel Kritik am Erbrecht im Islam, das Männer und Frauen hinsichtlich ihres vorgeschriebenen Erbanteils ungleich behandelt. Mit Blick auf die Moderne mag diese Kritik berechtigt sein, erläutert Shady Nasser von der Harvard University in den USA. Zur Zeit der Entstehung des Korans vor 1.400 Jahren habe sich die Sache jedoch etwas anderes dargestellt.

Von Dr. Shady Hekmat Nasser, Harvard University, Cambridge, USA | 27.07.2018
    "Gott verordnet euch hinsichtlich eurer Kinder: Auf eines männlichen Geschlechts kommt bei der Erbteilung gleichviel wie auf zwei weiblichen Geschlechts."
    Die arabische Welt vor dem Islam war von einem Erbsystem geprägt, das darauf abzielte, persönliches Vermögen und persönlichen Grundbesitz möglichst innerhalb des eigenen Stammes zu halten. So sollte der Stamm gestärkt werden und der Wohlstand der übrigen Stammesmitglieder bewahrt bleiben.
    Die Sendereihe Koran erklärt als Multimediapräsentation
    Heiratete eine Frau in einen anderen Stamm hinein, wurde sie automatisch dessen Mitglied. Mithin gehörte sie als Individuum samt all ihres Reichtums und ihrer Besitztümer zum neuen Stamm.
    Shady Hekmat Nasser
    Dr. Shady Hekmat Nasser, wechselte von der renommierten Cambridge University in England nach Havard in die USA. (priv.)
    Auch nach dem Aufkommen des Islams blieben die Strukturen der Stammeszugehörigkeit und der Verbundenheit zur eigenen Sippe erhalten. Bis heute sind die meisten arabischen Gesellschaften davon durchdrungen - etwa der Irak, Jordanien, Libyen, Jemen und die Golfstaaten.
    Der Prophet Mohammed wollte diese Strukturen schwächen und dafür die familiären Bindungen stärken. Dazu sollte die Stellung von Frauen im Stammessystem verbessert werden, und zwar indem der Islam fortan das Erbrecht innerhalb der Familie regelt und weiblichen Blutsverwandten - also Mutter, Tochter, Schwester - bestimmte Erbteile zuteilt.
    Einer Überlieferung zufolge kam damals eine Frau namens Umm Kuhha zum Propheten Mohammed. Ihr Ehemann war im Jahr 625 in der berühmten Schlacht von Uhud gefallen. Sie brachte ihre beiden Töchter mit und beklagte sich, dass deren Onkel das gesamte Erbe ihres verschiedenen Mannes an sich genommen habe. Den Töchtern habe er nichts übrig gelassen. Kurz nach diesem Vorfall wurde der Koranvers 4:11 offenbart, um die Erbregelungen zu treffen.
    Heutzutage gibt es viel Kritik am vermeintlich "unfairen" Erbrecht im Islam, das Männer und Frauen hinsichtlich ihres vorgeschriebenen Erbanteils ungleich behandelt. Mit Blick auf die Moderne mag diese Kritik berechtigt sein. Frauen sind heute unabhängig, eigenständig und mit ihren Rechten und Pflichten den Männern gleichstellt.
    Die Gesellschaftsordnung vor 1.400 Jahren aber, war gänzlich anders. In mittelalterlichen Gesellschaften trugen Frauen für gewöhnlich keine Verantwortung für die Versorgung der Familie. Männer mussten dafür sorgen, dass der finanzielle Unterhalt und die Versorgung der Familie sichergestellt war. Daher galt es auch als selbstverständlich, dass männlichen Erben ein größerer Erbanteil zugeteilt wurde.
    Angesichts der heutigen Kritik entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass damals Mohammeds Entscheidung, Frauen ein Erbrecht einzuräumen und das auch noch mithilfe göttlichen Willens durchzusetzen, wahrscheinlich für Empörung gesorgt hat. Es dürfte als völlig ungerechtfertigte Verletzung des Rechts betrachtet worden sein, den eigenen Besitz männlichen Erben zu vermachen und dadurch sicherzustellen, dass das Vermögen im Besitz des eigenen Stammes verbleibt.
    Erwähnenswert ist auch eine Kontroverse unter islamischen Juristen über Fälle, in denen eine verstorbene Person keine männlichen Erben hinterlässt, und nur Töchter erbberechtigt sind. Das sunnitische Recht räumt hier männlichen Verwandten wie Onkels den Anspruch zu erben ein. Das schiitische Recht hingegen gibt weiblichen Erben das Privileg, nicht unmittelbare männliche Verwandte auszuschließen.
    Manchmal konvertieren daher sunnitische Muslime, die nur weibliche Erben haben, nominell zum Schiitentum. So können sie allein an ihre Töchter vererben und verhindern, dass die eigenen Brüder den Erbteil einstreichen, den ihnen das sunnitische Recht einräumt.