Philosophie der Vergänglichkeit

Warum wir neue Abschiedsrituale brauchen

32:49 Minuten
Auf einer grauen Fläche liegt eine alte schwarz weiss Fotografie, mit einer aus dem Foto herausgeschnittenen Person.
Wenn es Zeit ist, Lebewohl zu sagen... sollte man diesen Augenblick bewusst gestalten, meint die Philosophin Ina Schmidt. © imago images / Photocase
Ina Schmidt im Gespräch mit Stephanie Rohde · 29.12.2019
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Tod und Verlust stellen unsere Vorstellung von Glück und Erfolg in Frage. Doch schmerzliche Abschiede gehören zum Leben, sagt die Philosophin Ina Schmidt. Um ihnen nicht ausgeliefert zu sein, sollten wir sie bewusst gestalten.
Für viele Lebenssituationen fehle uns eine "Kulturtechnik des Abschiednehmens", meint die Hamburger Philosphin Ina Schmidt. Wir verstehen es, Erfolge zu feiern, aber für einen guten Abschied finden wir oft nicht die richtige Form: "Die Frage, wie wir mit dem Ende von etwas umgehen und das kulturell pflegen, in Gemeinschaft mit anderen, da tun wir uns deutlich schwerer."

Scheidung vor Zeugen und in Würde

Daher bleibe es oft den Einzelnen überlassen, wie sie mit einem Verlust umgehen, ob sie sie mit anderen darüber ins Gespräch kommen oder die Erfahrung allein verarbeiten müssen. Wir bräuchten deshalb mehr sozial eingebettete Abschiedsrituale, so Schmidt. Sie könne sich zum Beispiel vorstellen, dass Paare, die sich trennen, ihre Scheidung vor Zeugen in einer würdevollen Zeremonie vollziehen:
"Warum gibt es für Scheidungen keine Rituale, die so eine Beziehung beenden und die Möglichkeit eröffnen, auch für etwas dankbar zu sein - oder etwas gehen zu lassen, was natürlich aus gutem Grund zu Ende geht und trotzdem vielleicht die Chance verdient, auch in einem positiven Licht gesehen zu werden?"

Veränderungen und Verluste sind unvermeidlich

In ihrem Buch "Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds" geht Schmidt der Frage nach, wie wir zu einer positiven Lebenshaltung finden, ohne auszublenden, dass Veränderungen und Verluste unvermeidlich sind. "Das drohende Ende auszuhalten, fällt schwer", schreibt Schmidt, zumal in einer Kultur, die "nach technischem und wissenschaftlichem Fortschritt" strebe, "um unser Leben länger, gesünder und bedeutsamer zu machen."
Das Mittelalter kannte noch eine "Ars moriendi": eine spirituelle Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit, die in feste Trauerrituale eingebunden war. An der Vorbereitung der Toten für ihre Bestattung nahm die ganze Familie teil. Doch dann habe sich in Europa ein modernes Menschenbild durchgesetzt, das mit der Einsicht, dem natürlichen Werden und Vergehen ausgeliefert zu sein, bis heute schwer vereinbar sei, sagt Ina Schmidt:
"Seit der frühen Neuzeit fühlen wir uns einer neuen Idee davon verpflichtet, was uns zu Menschen macht. Wir erleben uns als Wesen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie Dinge erschaffen, erreichen und erkennen können und diese Erkenntnis auch als etwas etablieren, was bleiben soll. Daher ist über die letzten Jahrhunderte der Gedanke entstanden, dass der Tod oder die Endlichkeit so etwas wie eine Kränkung bedeutet - also, dass wir uns verletzt fühlen, dass wir uns manchmal auch vom Leben verraten fühlen, wenn es uns mit dieser Vergänglichkeit konfrontiert."

Ethik der Verletzlichkeit

Der Doktrin von "Leistung und Machbarkeit", die unsere heutige Lebensweise präge, setzt Schmidt eine Ethik der Verletzlichkeit entgegen. Dabei geht es ihr nicht darum, fatalistisch hinzunehmen, dass alles, woran uns im Leben liegt, einmal vergehen muss – und deswegen von vornherein sinnlos wäre. Vielmehr sollten wir uns als Wesen begreifen, "die immer wieder einen Anfang machen können und auch wollen", ohne dabei vor der eigenen Endlichkeit die Augen zu verschließen.
"Bei der Beschäftigung mit dem Thema Vergänglichkeit ist mir immer wichtiger geworden, dass wir sozusagen ins Offene hinein leben", sagt Ina Schmidt. "Wir wissen zwar um ein mögliches Ende, aber wir wissen eben doch nicht so genau, wie es aussieht und wann es kommt."

Ina Schmidt: "Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds"
Edition Körber, Hamburg 2019
280 Seiten, 20 Euro

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