Aus den Feuilletons

Die globale Landflucht stoppen

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Eine aufgegebene Bäckerei in Klitten. Das Schild des Geschäfts ist noch zu sehen, aber die Rolläden sind herabgelassen und der Zugang zum Gebäude ist von Unkraut überwuchert.
Landflucht als Zeichen gesellschaftlicher Fehlentwicklung - eine aufgegebene Bäckerei in Klitten. © Florian Gärtner / photothek / imago-images
Von Hans von Trotha · 28.10.2019
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Die "FAZ" weist auf die sich verschärfende Landflucht hin und prognostiziert gesellschaftliche Fehlentwicklungen, falls der Trend nicht abreißt. Die ländlichen Regionen drohten zum Austragungsort "einiger der größten Probleme" unserer Zeit zu werden.
Wo, wenn nicht im Feuilleton, ist der Ort, an dem mal klargestellt wird, welche Probleme künftig zu lösen sind - und wie. Im ganz Kleinen hat die SÜDDEUTSCHE in diesem Zusammenhang für uns den "Tony Marshall der Medizin" ausgemacht, im großen Maßstab Slavoj Žižek eine "leninistische" Aufgabe, an der wir besser nicht scheitern.

Bald leben zwei Drittel der Menschen in Städten

Und im Mittelfeld dazwischen nimmt die FAZ die Thüringen-Wahl zum Anlass, darauf hinzuweisen, dass die Probleme der Zukunft auf dem Land gelöst werden müssen. "Die Wahl in Thüringen hat es gezeigt", meint Uwe Ebbinghaus:
"Viele der großen Probleme unserer Zeit können nicht in den Städten gelöst werden. Der Befund neuer Studien ist überdeutlich: Laut den Vereinten Nationen wird sich die Situation bis zum Jahr 2050 weiter verschärft haben, dann sollen weltweit zwei Drittel der Bevölkerung in Städten leben. Unvermeidlich werden die ländlichen Regionen in den kommenden Jahrzehnten zum Austragungsort einiger der größten Probleme unserer Zeit werden. Wer dem die Kostenfrage entgegenhält, muss erklären, wer den Preis für die absehbaren gesellschaftlichen und ökonomischen Fehlentwicklungen zahlen soll, wenn die Landflucht nicht abreißt."

Ausnahmezustand und zivile Unruhen an der Tagesordnung

Auch Slavoj Žižek beendet seine Darlegungen in der WELT mit einer Warnung, um nicht zu sagen: Drohung. "Vor uns", schreibt der Philosoph, liege "eine schwierige 'leninistische' Aufgabe: Strategien zu entwickeln, um die wachsende Unzufriedenheit in all ihren Formen in eine einzige, große und koordinierte Bewegung zu überführen. Sollten wir daran scheitern, werden wir in einer Gesellschaft leben, in der der Ausnahmezustand und zivile Unruhen an der Tagesordnung sind."
Žižeks Thema sind weltweite Unruhen:
"Mitte Oktober 2019 begannen chinesische Medien eine offensive Kampagne, die die 'jüngsten Demonstrationen in Europa und Südamerika' in direkten Zusammenhang mit der 'westlichen Toleranz' gegenüber den Unruhen in Hongkong brachten. Obwohl die Vorstellung, dass die Demonstrationen in Barcelona und Chile von Hongkong inspiriert waren, weit hergeholt erscheint", findet Žižek es "doch auch zu kurz gefasst, zu behaupten, dass diese Ausbrüche - Hongkong, Katalonien, Chile, Ecuador, Libanon, ganz zu schweigen von den Gelbwesten - nicht doch einen gemeinsamen Nenner haben. In jedem dieser Fälle bestand der Auslöser der Proteste in einem neuen Gesetz oder einer unpopulären Maßnahme, woraufhin die allgemeine Unzufriedenheit begann, sich Bahn zu brechen."

Unzufriedenheit in relativ wohlhabenden Gesellschaften

Doch weist Žižek auf "zwei seltsame Umstände" hin, die "einem ins Auge fallen" müssen:
"Zunächst einmal appelliert das 'kommunistische' China diskret an die Solidarität der Machthaber weltweit – als teile man ein gemeinsames Interesse, nämlich jenes, an der eigenen Macht festzuhalten. Zweitens ist da der", wie Žižek es nennt, "'Ärger im Paradies'-Aspekt":
"Die Proteste finden nicht in armen, heruntergewirtschafteten Ländern statt, sondern in solchen, in denen (zumindest relativer) Wohlstand herrscht. Und so sehen wir in den andauernden Protesten den Ausdruck einer wachsenden Unzufriedenheit, die sich politisch nicht auf etabliertem Wege zum Ausdruck bringen lässt."
Woraus nach Žižek eben die "leninistische" Aufgabe erwächst, "Strategien zu entwickeln, um die wachsende Unzufriedenheit in all ihren Formen in eine einzige, große und koordinierte Bewegung zu überführen". Wie immer das gehen soll.

Eine Zeitschrift "wie eine kaltgewordene Wärmflasche"

Schlichtere Lösungen bietet, wie versprochen, der "Tony Marshall der Medizin", als den Werner Bartens in der SÜDDEUTSCHEN Dietrich Grönemeyer identifiziert:
"Er wirkt ausdauernd freundlich - aber wie der heitere Schlagersänger geht er vielen Menschen gehörig auf die Nerven."
Jetzt hat er eine eigene Zeitschrift: "Grönemeyer - Medizin mit Herz und Seele" (Auflage: 100.000, Preis 6,90 Euro). Ein "heilloses Heft", findet Bartens allerdings, "beliebig und lasch wie eine kaltgewordene Wärmflasche."
Schade. Da werden wir uns doch etwas anderes suchen müssen, was uns stark macht, um den Bedrohungen der Zukunft und der Landflucht angemessen leninistisch entgegentreten zu können.
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