Donnerstag, 09. Mai 2024

Fachkräftemangel
Was Arbeitsmigration Staat und Wirtschaft bringt

In Deutschland fehlen Fachkräfte. Angesichts des demografischen Wandels wird sich dieses Problem weiter verstärken. Menschen aus dem Ausland sollen die Lücke schließen. Doch welche Vor- und Nachteile hat Arbeitsmigration für Staat und Wirtschaft?

04.05.2024
    Ein Mensch mit Schutzbrille arbeitet an einer Maschine.
    Ökonomen empfehlen, in die Ausbildung von Migranten zu investieren, denn die internationale Konkurrenz um bereits gut ausgebildete Fachkräfte ist hoch (picture alliance / dpa / Christian Charisius)
    Deutschland hat ein demografisches Problem: Seit über 50 Jahren werden zu weniger Kinder geboren, um die Bevölkerungszahl konstant zu halten. In der Folge fehlen in der Wirtschaft mehr und mehr Fachkräfte und auch das Rentensystem gerät aus den Fugen, weil immer weniger Arbeitende immer mehr Rentner finanzieren. Migration hilft Deutschland ökonomisch seit vielen Jahren und könnte zukünftig einen noch wichtigeren Beitrag leisten.

    Inhalt

    Wie viele Migranten arbeiten bereits in Deutschland?

    In Deutschland arbeiten 11,5 Millionen Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, fast die Hälfte von ihnen hat auch einen Deutschen Pass. Eine halbe Million Menschen mit Migrationshintergrund befinden sich zudem in Ausbildung.
    Daten der Bundesagentur für Arbeit zeigen, dass im Reinigungsgewerbe schon jetzt mehr als jeder dritte Mitarbeiter einen ausländischen Pass hat. Auf dem Bau ist es fast jeder Dritte, und in vielen akademischen Berufen ist der Anteil an ausländischen Arbeitskräften auch schon sehr hoch: Nach Zahlen der Bundesärztekammer haben beispielsweise etwa 14 Prozent der in Deutschland praktizierenden Ärzte keine deutsche Staatsbürgerschaft.
    Nicht alle Menschen kommen wegen eines Jobs nach Deutschland. So haben etwa 15 Prozent der Menschen, die zwischen 2010 und 2021 nach Deutschland gekommen sind, hier einen Asylantrag gestellt. Natürlich können auch sie in der Wirtschaft helfen, aber aufgenommen wurden sie aus humanitären Gründen, nicht aus wirtschaftlichen Motiven.
    Der Großteil der Migration zwischen 2010 und 2021 war allerdings Arbeitsmigration und über die Hälfte der Arbeitsmigranten kam aus Ländern der Europäischen Union.
    Im Gegensatz zu Asylbewerbern müssen Arbeitsmigranten im Regelfall ihren Lebensunterhalt selbst finanzieren können, um in Deutschland leben zu dürfen. Manchmal ist das Visum direkt an einen Arbeitsplatz gekoppelt. Wer dann seinen Job verliert, muss ausreisen. Anspruch auf Sozialleistungen besteht für Ausländer nicht ohne Weiteres. Für Menschen aus Nicht-EU-Staaten gilt in der Regel der Anspruch auf Sozialleistungen erst dann, wenn sie länger hier leben und gearbeitet haben.

    Wie groß ist der Fachkräftemangel in Deutschland?

    In Deutschland fehlen Fachkräfte. Im Jahr 2023 gab es rund 570.000 offene Stellen, für die keine passend qualifizierten Arbeitslosen zur Verfügung standen. Das geht aus Zahlen des Kompetenzzentrums Fachkräfte hervor, das im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz arbeitet. Besonders deutlich ist der Mangel an Fachkräften im hochqualifizierten Bereich.
    Grafik zeigt, wie sich die deutsche Bevölkerung in den kommenden Jahren entwickelt: Im Jahr 2022 kamen auf 100 Bundesbürger im Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren 37 Menschen im Alter von 65 Jahren und älter. Dieser sogenannte Altenquotient soll bis 2070 auf 53 steigen.
    Alte Gesellschaft: Wie sich die deutsche Bevölkerung in den kommenden Jahren entwickelt. (dpa-infografik GmbH)
    Der Mangel an Fachkräften könnte sich für die Zukunft weiter verschärfen. Arbeitsminister Hubertus Heil befürchtet, dass bis zum Jahr 2035 bis zu sieben Millionen Arbeits- und Fachkräfte fehlen könnten, denn in den kommenden Jahren geht die geburtenstarke Babyboomer-Generation in Rente. Um gegenzusteuern, möchte Heil sowohl mehr Deutsche in Arbeit bringen als auch Fachkräfte aus dem Ausland anwerben.

    Wie könnte Migration der Wirtschaft helfen?

    „Wir brauchen Migration, und wir werden durch Migration ökonomisch gewinnen“, sagt der Arbeitsmarktexperte Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung. Ob und wie stark diese optimistische Prognose eintritt, hängt von zahlreichen Faktoren ab, beispielsweise vom Alter der Zuwanderer, ihrer Qualifizierung, ihrer Lebenserwartung oder auch ihrer Bleibeperspektive.
    Brücker schätzt aber: Sogar die Zuwanderung von Menschen mit geringer Qualifikation kann sich wirtschaftlich rechnen. Individuell betrachtet seien diese im Durchschnitt auf ihr ganzes Leben betrachtet zwar Nettoempfänger von staatlichen Leistungen, weil sie sich beispielsweise keine ausreichende Rente erarbeiten und dann im Alter auf Sozialleistungen angewiesen sind. Doch ihre Arbeit sei eben auch ein wichtiger Baustein für den Erfolg von Unternehmen.
    Das zeigt auch, wie komplex eine ökonomische Gesamtbewertung von Migration ist, denn diese wirkt auf zahlreiche wirtschaftliche Faktoren ein. So zeigen Studien beispielsweise, dass Exporte in die Herkunftsländer von Migranten zunehmen, und auch Wissenstransfer und Innovation geht mit Migration einher: 13 Prozent und damit mehr als jede achte aller in Deutschland entwickelten Patentanmeldungen geht nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft inzwischen auf Erfindende mit ausländischen Wurzeln zurück. In der Informations- und Kommunikationstechnik trifft das sogar auf fast 23 Prozent der Patente zu.
    Im Durchschnitt zahlen Migranten in Deutschland aber auch individuell mehr in die Sozialsysteme ein, als sie aus diesen empfangen. Zu diesem Ergebnis kam eine Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung im Jahr 2014. Auch eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus dem Jahr 2022 kommt zu dem Fazit, dass Migration in den vergangenen Jahren einen großen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands geleistet hat. Zukünftige Migration werde „die demografische Lage Deutschlands verbessern“.
    Wenn Migration gegen den Fachkräftemangel helfen soll, dann hilft es natürlich, diese gezielt zu steuern und beruflich passend qualifizierte Menschen anzuwerben. Das dürfte allerdings schwierig werden, wie die IW-Ökonomen bilanzieren, denn die internationale Konkurrenz um gut ausgebildete Menschen ist hoch. Die Autoren empfehlen daher, Menschen im Land zu Fachkräften auszubilden. Das seien Investitionen, die sich auszahlten.

    Warum sehen manche Experten Migration auch kritisch?

    Auch wenn Migranten in Arbeit seien, heißt das nicht automatisch, dass sie ihr Leben vollständig selbst finanzierten, sagt der Rentenexperte Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg. Er ist überzeugt, dass Zuwanderung die Sozialversicherung nur kurzfristig entlastet. Langfristig schaffe sie neue Probleme.
    Wissenschaftliche Studien zeigen in der Tat, dass Zugewanderte im Schnitt weniger verdienen als Deutsche und ein höheres Risiko haben, zeitweise arbeitslos zu sein. Dadurch erwerben sie im Schnitt geringere Rentenansprüche. Das kann dazu führen, dass ihre Rente später nicht reicht und sie Anspruch auf Wohngeld und Grundsicherung im Alltag haben. Das gilt vor allem für Geringqualifizierte, die im Niedriglohnsektor gearbeitet haben.
    Es sei zwar die Grundidee des deutschen Sozialstaats, sozial Schwächere zu unterstützen, sagt Bernd Raffelhüschen. Aber: „Wenn ich einen Sozialstaat habe, wie in Deutschland, der schon für die Deutschen nicht zu finanzieren ist, dann ist es sehr dumm, da unterdurchschnittlich Qualifizierte dazu zu holen.“ Denn diese würden in der Gesamtbilanz eines Sozialstaats eben von den überdurchschnittlich qualifizierten subventioniert. Wenn Menschen mit geringer Qualifikation nach Deutschland kommen, ist das aus Raffelhüschens rein ökonomischer Sicht also immer ein Verlustgeschäft, selbst wenn sie ihr Leben lang in Deutschland arbeiten.
    Raffelhüschen sieht das zentrale Problem dabei aber nicht in Migration, sondern in zu hohen Leistungen für Geringverdiener und Arbeitslose. Und da Migranten im Durchschnitt schlechter qualifiziert sind, verstärkten sie dieses Problem. In der Summe sei die wirtschaftliche Bilanz der Migration daher negativ, wie er mit zwei weiteren Ökonomen in einer Studie analysiert hat.
    Raffelhüschen schlägt vor, die Sozialleistungen zu kürzen und das Bürgergeld stärker an Arbeitsanreize zu knüpfen, damit mehr Deutsche auch im Niedriglohnsektor arbeiten. Ob über diesen Weg aber tatsächlich viele Arbeitskräfte mobilisiert werden können, ist allerdings umstritten. 
    Raffelhüschen stellt klar, dass die Studie kein Plädoyer für weniger Migration sei. Gegenüber dem ZDF sagte er, dass man gar nicht anders könne. "Wir haben ja die letzten 40 Jahre die Kinder, die wir gebraucht hätten, gar nicht gemacht. Insofern haben wir überhaupt keine andere Möglichkeit". Er spricht sich deshalb dafür aus, junge Menschen ins Land zu holen und gezielt auf die Zuwanderung von mindestens durchschnittlich qualifizierten Menschen nach Deutschland zu setzen. Auch fordert er eine gezielte Steuerung von Migration nach beruflichen Fähigkeiten.
    Klar ist: Hier hat Deutschland Nachholbedarf, denn aktuell ist das Bildungsniveau der Migranten, die nach Deutschland kommen, unterdurchschnittlich. Mehr als 35 Prozent der Einwanderer waren einer OECD-Studie zufolge 2020 geringqualifiziert. Damit lag Deutschland leicht über dem EU-Schnitt. Der Anteil an Hochqualifizierten lag unter 30 Prozent und damit unter dem EU-Schnitt. Höherqualifizierte Menschen migrieren also oft lieber in andere Länder. Damit Migration Deutschland stärker helfen kann, muss es gelingen, attraktiver für Fachkräfte zu werden.
    pto