Dienstag, 30. April 2024

Archiv


"Spezialisten wie Ameisen- und Wildbienenarten verschwinden"

Man müsse Schutzmaßnahmen für wirbellose Tiere ergreifen, sagt Beate Jessel. Ameisen- und Wildbienenarten würden verschwinden, weil unser "übertriebener Ordnungssinn" auf den Lebensraum dieser Tiere greift, sagt die Präsidentin des Bundesamts für Naturschutz.

Beate Jessel im Gespräch mit Britta Fecke | 03.08.2012
    Britta Fecke: Wer ist noch da, wer wurde schon lange nicht mehr gesehen und wer fliegt überhaupt nicht mehr durch die Aue, über die Magerwiese oder über den schnöden Parkplatz? Die Rote Liste der wirbellosen Tiere ist gewissermaßen die Inventur der Natur. In dem jetzt erschienenen dritten Band hat das Bundesamt für Naturschutz die Bestände von 17 Tiergruppen untersucht, insgesamt 6057 Arten von der Heuschrecke bis zum Schmetterling wurden katalogisiert. Viele der Arten - und seien sie für die gewöhnliche menschliche Wahrnehmung noch so klein - spielen eine große Rolle in dem jeweiligen Ökosystem, zum Beispiel als Bestäuber wild lebender Pflanzen, und sie sind somit auch für den Erhalt und die Nachkommen dieser Pflanzen mit verantwortlich. Ich bin jetzt verbunden mit Prof. Beate Jessel, Präsidentin des Bundesamtes für Naturschutz in Bonn. Frau Jessel, über 6000 Arten haben Sie erfasst. Was sind denn so die herausragendsten Ergebnisse dieser Inventur der Wirbellosen?

    Beate Jessel: Nun, wir müssen sagen: Leider überwiegt der Rückgang vieler Arten die Zunahme einiger weniger deutlich. Wir haben ja für über 6000 Arten eingehende Gefährdungsanalysen durchgeführt, und im Ergebnis stehen davon 2704 wirbellose Tiere auf der aktuellen Roten Liste, das heißt, sie sind in ihrem Bestand unterschiedlich stark gefährdet, sie sind extrem selten oder bereits ausgestorben oder verschollen, und das sind immerhin knapp 46 Prozent aller untersuchten wirbellosen Tierarten.

    Fecke: Die letzte Rote Liste dieser Art gab es 1998. Wie hat sich denn der Bestand oder die Artenzusammensetzung seitdem verändert?

    Jessel: Nun, bei der letzten Roten Liste von 1998, da lag der Wert für die entsprechenden Artengruppen noch bei 38 Prozent, das ist also eine deutliche Verschlechterung, die wir hier zu verzeichnen haben. Dabei liegt bei uns in Deutschland die Dramatik eigentlich gar nicht mal im Aussterben von Arten, sondern das Problem stellen die deutlichen Bestandsrückgänge dar. Da ist zum Beispiel besonders dramatisch die Situation bei den Ameisen. Hier hat sich ... In den letzten 25 Jahren für 90 Prozent der Arten muss der Trend als negativ gelten. Ameisen aber nehmen in vielen Lebensräumen wichtige Funktionen ein und spielen eine Schlüsselrolle für die Stoff- und Energieflüsse.

    Fecke: Was sagt der Rückgang dieser vielen Arten über den Zustand der jeweiligen Ökosysteme beziehungsweise der Habitate aus?

    Jessel: Nun, da lassen sich zwei grundlegende Faktoren festmachen, die unserer wirbellosen Tierwelt beide zu schaffen machen und die zunächst widersprüchlich scheinen. Das ist einmal die Intensivierung der Flächennutzung, und es ist einmal die Nutzungsaufgabe. Beides wirkt aber an verschiedenen Stellen. Zum einen werden ja viele landwirtschaftliche Flächen aber auch unsere Wälder zunehmend intensiver genutzt. Nach einer Welle der Melioration und Intensivierung in den 60er- und 70er-Jahren erleben wir ja derzeit den Boom im Anbau von Energiepflanzen, Mais und Raps allen voran. Allein die Anbaufläche von Energiemais hat sich in den letzten acht Jahren in etwa verzehnfacht. Maisanbauflächen gleichen aber ökologischen Wüsten für die Tierwelt, und es kommt noch hinzu: Um weitere Flächen in Kultur zu nehmen, unter Ackerbau zu nehmen, wird zunehmend Grünland umgebrochen. Ja, und dann haben wir die Nutzungsaufgabe. Viele Wirbellose sind ja eng an bestimmte Standorte spezialisiert, Truppenübungsplätze zum Beispiel, da kommen viele eng spezialisierte Arten vor, die sich zum Beispiel an extreme Trockenheit, an Hitze, lückige Vegetation und Nährstoffarmut angepasst haben, und werden diese Standorte nicht weiter offengehalten, dann verschwinden diese Spezialisten wie zum Beispiel viele Ameisen- und Wildbienenarten.

    Fecke: Aber einige dieser Truppenübungsplätze wurden doch auch in Naturschutzgebiete umgewandelt. Werden die nicht richtig gepflegt?

    Jessel: Es werden schon einige hier erhalten und auch die Flächen offen gehalten, nur wenn man sich verdeutlicht: Die Fläche, die Truppenübungsplätze gerade in den neuen Bundesländern einnehmen - da ist es eine Riesenherausforderung, diese großen Flächen alle entsprechend zu managen und offenzuhalten. Und hier haben wir es schon mit massiver Sukzession und eben auch mit einer Veränderung dieser Lebensräume zu tun.

    Fecke: Um ein konkretes Beispiel rauszugreifen, Sie haben es schon erwähnt: Die Zahl der Wildbienenarten ist relativ stark zurückgegangen. Sind diese Wildbienen nicht auch das Pfand, wenn die Stöcke der Imker immer öfter befallen sind von Varroamilben oder anderen Schädlingen, dass wir die eigentlich noch so im Rücken haben zur Bestäubung auch unserer Obstwiesen? Was bedeutet das, wenn die so stark zurückgehen?

    Jessel: Ja, der Rückgang unserer Blütenbestäuber, das ist in der Tat eine Entwicklung, die uns besonders stark beunruhigt. Wildbienen aber auch Schwebfliegen muss man zum Beispiel nennen, Wespen oder Schmetterlinge - das sind ja alles Artengruppen, die als Bestäuber von zentraler Bedeutung für viele Pflanzenarten sind, im Übrigen nicht nur für Nutzpflanzen, gerade auch für unsere Wildpflanzenarten, von denen ja dann auch wieder viele Tiere abhängen. Und der Rückgang gerade auch vieler Wildbienenarten zeigt uns eben, dass es mit unserer Landschaft vielerorts nicht zum Besten bestellt ist. Viele Wildbienen sind auf ein enges Nebeneinander verschiedener Kleinstrukturen zu ihrer Nahrungssuche, zur Anlage ihrer Nester angewiesen. Das Blumenangebot wird durch das Verschwinden unserer Wildkräuter durch den Rückgang des Grünlandes allenthalben reduziert. Wiesen werden zu Äckern umgebrochen, und auch in unseren Siedlungsflächen greift ein übertriebener Ordnungssinn um sich, der diesen Arten zu schaffen macht. Und das zeigt die Rote Liste nicht nur der Wildbienen eigentlich sehr schön, sie sollte uns nämlich daran erinnern, gerade auch diese unauffälligeren Artengruppen nicht aus den Augen zu verlieren und dafür auch Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

    Fecke: Das Bundesamt für Naturschutz in Bonn hat die neue Rote Liste der wirbellosen Tiere herausgegeben. Ich habe gesprochen mit Prof. Beate Jessel über die Ergebnisse. Vielen Dank!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.