Dienstag, 30. April 2024

Archiv

Endlich mal erklärt
Wird auf der Theaterbühne nur nackt geschrien?

In einem Cartoon von Hannes Richert sagt ein Pärchen im Theaterfoyer zu einem dritten Zuschauer: „Wir haben ja erst über Lars Eidingers Penis wieder zu Shakespeare gefunden.“ Was ist dran am Vorurteil: Im Theater wird gern blank gezogen und geschrien?

Von Barbara Behrendt | 21.08.2020
Alte weiße nackte Männer: Jürgen Goschs legendäre Düsseldorfer "Macbeth"- Inszenierung von 2005
Alte weiße nackte Männer: Jürgen Goschs legendäre Düsseldorfer "Macbeth"- Inszenierung von 2005 (Sonja Rothweiler)
Um es gleich vorweg zu nehmen: Dass im Theater allabendlich die Hüllen fallengelassen werden, ist ein glattes Fehlurteil. Trotzdem sieht man als Theaterkritikerin auf der Bühne deutlich mehr nackte Menschen als im wirklichen Leben. Auch geschrien wird im Theater häufiger als im Alltag eines Durchschnittsmenschen.
Die Klage über das nackte Geschrei moniert eigentlich etwas anderes, das im Theater grundsätzlich nervt: inszenatorische Willkür im Umgang mit Stoffen; Feier der Oberflächenreize; Abfischen von Provokatiönchen – alles Dinge, die man in schlecht gemachtem Regietheater zu sehen bekommt, in dem der zumeist männliche Regie-Zampano sein Ego auf Kosten der Zuschauenden austobt.
Ausdruck von Reizüberflutung
Wahr ist auch, dass das Theater der Gegenwart ein deutlich lauteres ist als jenes vor 40 Jahren. Das liegt jedoch nicht nur an der Sprechlautstärke, sondern hauptsächlich am Einsatz von Video und digitalen Medien. Sounds, Bilderflimmern, elektronische Beats, Mikrophone – ein Regisseur wie Nicolas Stemann setzt diese Mittel ganz bewusst ein; sie sollen unsere reizüberflutete Welt symbolisieren. Oft werden mediale Feuerwerke allerdings gezündet, wenn schlicht "etwas los sein" soll auf der Bühne. Es scheint unter Regieführenden immer mehr Angst vor Stille zu geben. Dabei sind es doch häufig die leisen Momente einer Inszenierung, die am eindrücklichsten wirken.
Ähnliches gilt für den Einsatz von Nacktheit. In manchen Situationen wirkt sie aufgesetzt, kalkuliert oder sexistisch – siehe die halbnackten Frauen in Pumps bei Frank Castorf. In Jürgen Goschs berühmt-berüchtigter Macbeth-Inszenierung vor 15 Jahren dagegen hatte es durchaus seine ästhetische Berechtigung, den kompletten Cast, alles Männer, nackt auftreten zu lassen. Die Aufführung wurde zum spektakulären Theateraufreger - auch, weil die Männer sich mit Blut übergossen, furzten, pinkelten und kackten, sodass der Schriftsteller Joachim Lottmann das Wort "Ekeltheater" dafür erfand.
Immer noch ein Tabu
Bemerkenswert ist, dass Nacktheit auf der Bühne in Zeiten des bildergefluteten Internets noch immer ein Tabu darstellt. Noch dazu ist sie alles andere als neu. Die Theaterwissenschaftlerin Ulrike Traub hat drei historische Phasen ausgemacht, in denen der nackte Körper häufig im theatralen Raum eingesetzt worden ist: Zuerst Ende des 19. Jahrhunderts, als die "Lebensreformbewegung" entstand und der natürliche, gesunde Körpers in seiner Schönheit gefeiert werden sollte. Dann in den 1960er Jahren, als der nackte Körper auf der Bühne im Zuge der Liberalisierung der Sexualität auch zum politischen Instrument wurde, im Kampf gegen den Faschismus der Elterngeneration. Im Zentrum stand dabei das explizite Brechen von Tabus, das zu Hermann Nitschs Schock- und Ekel-Performances führte.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Die dritte nackte Phase ist jene der Gegenwart. Ulrike Traubs These nach ist auch hier der revolutionäre Aspekt zentral. Nicht gegen ein moralisches Tabu wird aufbegehrt, sondern gegen ein ästhetisches. Anders als in der Werbung und im Film sehen wir auf der Bühne imperfekte Körper ohne Photoshop-Nachbearbeitung. Der Huldigung von unrealistischen Schönheitsidealen stellt das Theater den normalen, individuellen Körper entgegen. Noch dazu kehrt es gern die Hässlichkeit des Menschlichen hervor, indem gefurzt und gepinkelt wird, Körperfunktionen öffentlich gezeigt werden – wie in Goschs Macbeth.
Nachktheit mit allen Makeln
Der nackte Körper mit seinen Notdürften ist für uns nach wie vor Privatsache. Nackte Körper im Fernsehen werden ästhetisiert gezeigt und stets so, dass man als Zuschauer ein Voyeur bleibt, der durchs Schlüsselloch blickt. Im Theater dagegen ziehen sich Menschen mit Blick ins Publikum aus: live, vor hunderten Augen. Jemanden, der sich mit all seinen Makeln im öffentlichen Raum nackt zur Schau stellt, empfinden wir nach wie vor als ungehörig.
Braucht das Theater also mehr Nacktheit? Oder weniger? Es braucht vor allem eine ästhetisch motivierte Nacktheit und keine, die nur auf unsere natürliche Abwehr und die daraus resultierende Provokation setzt. Florentina Holzinger hat mit ihrer Performance "Tanz", dieses Jahr zum Theatertreffen eingeladen, Aufsehen erregt, weil alle Tänzerinnen darin nackt auftreten und dem Publikum ihre weit geöffnete Vagina entgegenstrecken. Offiziell soll es um Selbstermächtigung und das Spiel mit stereotypen Männerfantasien gehen – doch inwiefern "Sex sells" hier nicht auch eine zentrale Rolle spielt, sei einmal dahingestellt.