Fremd und einsam in Berlin
In ihrem Stück „Wir Zöpfe“ erzählt die Dramatikerin Marianna Salzmann die Geschichte einer russisch-jüdischen Familie, die es nach Berlin verschlagen hat. Eine humorvolle Inszenierung – mit einem Schuss Wut und Aggression.
Ein riesiger Hasenhinterlauf drückt sich durch das Portal in Richtung Zuschauerraum. Ein Stück Bauch ist ebenfalls sichtbar, samt darin pochendem Hasenherz. Bühnenbildnerin Léa Dietrich setzt Marianna Salzmanns Stück „Wir Zöpfe“ eine in ihrer ausschnitthaften Vergrößerung abstrakte Skulptur entgegen, eine Felllandschaft, die die Schauspieler an die Rampe drängt und obendrein eine ziemlich haarige Sache ist. Und über krause und glatte, kurze und lange, ausgefallene und ersehnte Haare, das macht schon die einleitende Vorstellungsrunde der Protagonistin Nadeshda klar, werden in diesem Stück alle Figuren definiert.
Die 1985 in Wolgograd geborene, in Russland und Deutschland aufgewachsene und an der UdK im Szenischen Schreiben ausgebildete Marianna Salzmann hat wieder – auch – ein Familienstück geschrieben, diesmal über vier Generationen einer nach Berlin ausgewanderten russisch-jüdischen Familie, an der die Fliehkräfte intensiv zerren und die doch aufeinander glucken. An Großvater Konstantin (Tim Porath), den ehemaligen Rotarmisten, hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen, Mutter Wera (Ilknur Bahadir) versteckt sich in ihrer Arbeit als Krankenhausärztin, Tochter Nadeshda (Anastasija Gubareva) hat gerade ihr Kind abgetrieben, das jedoch als Mädchengeist Ljubow (Dmitrij Schaad) weiter über die Bühne und durch ihr Leben hüpft. Und dann sind da noch der Amerikaner John, (Taner Sahintürk), der sich sowohl Nadeshda, als auch in Wera verliebt, der von Neonazis verprügelte kurdische Blumenhändler Imran (Mehmet Yilmaz), der Wera den Hof macht, sowie der dealende Krankenpfleger Chris (Mehmet Atesci): Sie alle kennen das Gefühl der Einsamkeit und der Fremdheit in einer Stadt, die ihre zweite oder dritte Heimat ist.
Gleichgültigkeit und Sattheit der Stadt Berlin
Davon erzählt die Gorki-Hausautorin Marianna Salzmann in flapsigen, manchmal harschen Dialogen und rückblendenen Einschüben. Anders als bei ihrem Erfolgsstück „Muttersprache Mameloschn“, das vor drei Jahren am Deutschen Theater von den sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen jüdischer Frauen aus drei Generationen erzählte, ist „Wir Zöpfe“ von einer Spur der Wut und Aggression begleitet, die ebenso in den individuellen Biografien begründet sein kann wie in der aufreizenden Gleichgültigkeit und Sattheit der Stadt Berlin.
Uraufführungsregisseurin Babett Grube und das Gorki-Ensemble setzen bei der Uraufführung voll auf die Komödie, die zweifellos auch in „Wir Zöpfe“ steckt. Manche Szenen versinken komplett im Klamauk, etwa die zarte Annäherung von Imran und Wera, bei der Ilknur Bahadir ihre Wera mit in den Mund gestopftem Lebkuchen zum Verstummen bringt, oder das finale Weihnachtsessen, bei dem sich alle an kindskopfgroßen Klößen überfressen müssen. Überhaupt sind Ilknur Bahadirs hyperverklemmter Workaholic Wera und Tim Poraths perverser Veteranen-Opa nur schwerlich ernstzunehmende Figuren – was schade ist, denn Anastasia Gubareva und Dimitrij Schaad dürfen durchaus zeigen, dass die Gratwanderung zwischen psychologischem Realismus und figurendistanzierter Performance möglich ist.
Einmal erzählt Dimitrij Schaads Ljubow eine ganze Serie von immer übleren Witzen: rassistische, sexistische, Randgruppen verhöhnende. Bei jedem Witz wird das Lachen im Publikum leiser, Schaads Stimme kindlicher, zittriger, angespannter. Als letztes erzählt er einen bösen Mutterwitz, und in seiner Stimme liegt die ganze Wut und Trauer des zurückgewiesenen Kindes. Die Szene dauert nicht mal zehn Minuten, aber in ihr verdichtet sich das ganze Stück.