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Teju Cole
Konzentrierte Prosamontage über Afrika

Er ist in Nigeria aufgewachsen und kam als Jugendlicher in die USA: Teju Cole. Bekannt wurde er mit dem New-Yorker-Roman "Open City". Nach einer Reise nach Lagos im Jahr 2005 schrieb er 30 Mal täglich tausend Worte in einen Blog. Daraus entstand die literarische Reportage "Jeder Tag gehört dem Dieb", indem er vieles schonungslos beschreibt.

Von Martin Zähringer | 19.03.2015
    Ein Porträtbild des Schriftstellers Teju Cole
    Der Schriftsteller Teju Cole (picture alliance / dpa / Toni Garriga)
    Nach Teju Cole's New York-Roman "Open City" wartet man gespannt den Nachfolger, aber der lässt auf sich warten. Dafür gibt es jetzt die Übersetzung einer literarischen Reportage, die Teju Cole bereits vor seinem New York Roman geschrieben hat. Sie beginnt auf dem nigerianischen Konsulat in New York. Nach 15 Jahren ist der namenlose Erzähler erstmals wieder auf dem Weg in seine Heimatstadt Lagos, aber zunächst wird eine zusätzliche "Expressgebühr" fällig:
    "Am Ausgang neben den Aufzügen hängt ein halb zerrissenes Blatt mit der Aufschrift: 'Helfen Sie uns bei der Bekämpfung von Korruption! Sollte ein Konsularbeamter Sie zur Zahlung von Schmiergeld auffordern, wenden Sie sich bitte diskret an den Generalkonsul.' Doch es ist weder eine Telefonnummer noch eine E-Mail-Adresse angegeben. Mit anderen Worten, ich kann den Generalkonsul nur durch Abdul oder einen seiner Kollegen erreichen. Und der Generalkonsul hält wahrscheinlich selbst die Hand auf."
    Überall Korruption
    Das System der Korruption ist nur der erste Skandal, es setzt sich nahtlos am Flughafen in Lagos fort, wo anscheinend jeder Angestellte ein kleines Bakschisch erwartet. Wer schmuggeln will, zahlt und rauscht durch die Kontrolle. Das Tragen einer Angestelltenuniform garantiert Extraeinnahmen, Verkehrspolizisten verdeutlichen ihr Begehr schon mal mit dem Finger über dem Gewehrabzug. Die Korruption ist überall, aber was den Besucher nachhaltig frustriert, ist der allgemeine Zustand der Gesellschaft und ihrer Institutionen. So ist das Nationalmuseum eine ganz große Enttäuschung. Hier steht er vor der Abteilung Sklaverei:
    "'Im frühen 19. Jahrhundert leitete der Kampf von Abolitionisten das Ende der widerwärtigen Praxis der Sklaverei ein.' Tiefer geht die Analyse nicht. Der transatlantische Sklavenhandel, bei dem Hunderttausende unserer Vorfahren verkauft, gefoltert und ermordet wurden: eine 'widerwärtige Praxis'. Dieser wenig berauschende Text war zweifelsohne von irgendeinem Kolonialbeamten geschrieben worden und wahrscheinlich schon ein paar Jahrzehnte alt."
    Das Problem, so der frustrierte Beobachter: Kein Nigerianer habe jemals etwas daran geändert. Diese Nachlässigkeiten stören den Besucher aus dem Westen an jeder Ecke. Zur Verzweiflung bringt ihn jenes nigerianische Prinzip des 'idea l'a need', was heißt: Die Idee ist, was zählt - die Ausführung sei nicht mehr so interessant. Aber Jammern hilft so wenig, wie die Orientierung an den gewohnten westlichen Standards, und der Leser hat in jedem Augenblick die Gewissheit, dass dieser Text auf publizistische Intervention zielt. Zu ihren Mitteln gehört die genaue Schilderung alltäglicher Ereignisse, der Insiderzugang zu wesentlichen Orten und die subjektiven, flüchtigen Straßenbilder des Fotografen Teju Cole. Und literarische Imagination, wo ein Geschichtsbild fehlt:
    "Ich sehe eine Leichenkette vor mir, die sich über den Atlantik von Lagos bis nach New Orleans erstreckt und die Städte miteinander verbindet. Einst war New Orleans der größte Umschlagplatz für menschliche Fracht in der Neuen Welt, 1850 gab es 25 Sklavenmärkte in der Stadt. Das ist nur deshalb ein Geheimnis, weil niemand etwas davon wissen will."
    Lagos - Stadt mit Vergangenheit
    Aber auch das, so schreibt er weiter, sei ein Geheimnis: Der geschäftigste Hafen von allen war Lagos, wo die Bruderkriege unter den afrikanischen Stämmen für stetigen Nachschub auf dem Sklavenmarkt sorgten. Lagos ist immer noch eine dynamische Stadt. Gerade dies reizt den jungen New Yorker Schriftsteller. Aber der Autor möchte doch nicht zurück, denn wenn auch die Geschichten unerschöpflich sind, das Leben in Lagos ist oft die Hölle: die systematische Ausraubung kleiner Geschäftsleute durch die Area Boys, das gruppenweise Verschwindenlassen solcher Boys durch die Polizei, oder das öffentliche Verbrennen eines elfjährigen Jungen auf dem Marktplatz, das videogefilmte Ende eines kleinen Diebes.
    "Überall kann man diese Aktivität spüren, aufgestaute Energie, die freigesetzt wird, die Empfindung, dass es wirklich möglich ist, Geschäfte zu machen. Aber die Vergangenheit staut sich weiter an wie Flutwasser. Das sagt sich leicht, aber welche Vergangenheit meine ich überhaupt? Die nationale Vergangenheit, und vielleicht auch meine ganz persönliche Vergangenheit. Vielleicht gehören die beiden zusammen, so wie der kleine Abschnitt einer Küstenlinie, die sich derselben Logik folgend krümmt wie die Silhouette der gesamten Kontinentalplatte."
    Besonders spannend ist natürlich, dass es sich um mindestens zwei Kontinente handelt, den amerikanischen und den afrikanischen, geschichtlich unlösbar miteinander verbunden. Dazu kommt eine kulturgeografische Hintergrundbeleuchtung aus Europa, denn Teju Cole lässt in dieser hochkonzentrierten Prosamontage über Afrika seine Schulung an Autoren aus Europa durchblicken, zum Beispiel Walter Benjamin. Teju Coles engagierte Reportage "Jeder Tag gehört dem Dieb" fand in Nigeria viele Freunde, eben weil es die Dinge schonungslos beschreibt. Ernsthafte Probleme bekam der Autor nicht, er reist jährlich ins Land und wird demnächst ein neues Buch darüber publizieren. Man darf gespannt sein.
    Teju Cole: "Jeder Tag gehört dem Dieb", aus dem Englischen von Christine Richter-Nilsson, Hanser Berlin, 174 Seiten.