Iranische Gegenwartsliteratur

Verklausulierter Widerstand

12:33 Minuten
Passanten vor einer Buchhandlung in Teheran im November 2009.
"Neue sprachliche, inhaltliche und strukturelle Literaturformen": Buchhandlung in Teheran. © picture-alliance / dpa / Jerzy Dabrowski
Gerrit Wustmann im Gespräch mit Joachim Scholl · 15.11.2022
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Wie steht es derzeit um die Literatur im Iran? Was kann man schreiben, während das Regime die Menschen unterdrückt? Der Publizist Gerrit Wustmann liefert einen Überblick und beschreibt, wie iranische Autorinnen und Autoren der Zensur trotzen.
Gerrit Wustmann, Lyriker, Publizist und ein Kenner der klassischen und aktuellen iranischen Literatur, kennt das schon: Wenn es politische Anlässe im Iran gibt, kommen mehr Anfragen von Medien. Sonst herrsche sehr, sehr oft Ruhe, auch beim Thema Literatur, sagt er. Und leider gebe es auf Deutsch auch nur sehr wenig iranische Literatur, während umgekehrt viel deutsche Literatur auf Persisch erscheine.
„Wen interessiert, was gerade die junge Generation iranischer Autorinnen und Autoren bewegt und was sie schreiben, kommt um das 'dort'-Magazin nicht herum“, sagt Wustmann. Das kleine Magazin "dort - Lesereihe für persische Gegenwartsliteratur" gebe es seit einem Jahr. Herausgeber ist Arash Alborz, der die Geschichten auch größtenteils übersetzt und das Magazin mitgestaltet.
Alborz habe die Idee für das Literaturmagazin schon länger gehabt, so Wustmann: „Er hat dann den Corona-Lockdown genutzt, um über Instagram iranische Autorinnen und Autoren zu bitten, ihm Texte zu schicken. Und zwar ganz offen. Er wollte sich nicht nur an etablierte Stimmen wenden, sondern schauen, was kommt, und vielleicht auch was Neues entdecken", schildert Wustmann die Entstehungsgeschichte. „Interessant ist, dass knapp 90 Prozent der Einreichungen von Frauen kamen – und das bildet sich auch im Magazin ab."

Kafkaeske und surreale Geschichten

Es seien faszinierende Geschichten, oft kafkaesk und surreal. "In einer geht es um eine Familie: Der Vater springt jeden Tag aus dem Fenster, zerschellt auf dem Straßenpflaster und wartet, bis die entsetzten Passanten applaudieren und ihm Geld zuwerfen. Das Spiel wiederholt sich jeden Tag, damit finanziert er die Familie – bis irgendwann die Polizei kommt, der dieses seltsame Schauspiel zu viel wird."
Es seien Geschichten "aus einer verzerrten, einer verschwimmenden Doppel-Realität", ordnet Wustmann die Beiträge ein: "Es sind faszinierende Stimmen." Die Auswahl ist Wustmanns Einschätzung nach repräsentativ für die junge iranische Literatur.
Die gesamte iranische Literatur, die auf Deutsch erscheint, sei hingegen nicht repräsentativ: "Dadurch, dass so wenig übersetzt wird, kommt in Deutschland schnell der Eindruck einer gewissen Monothematik auf." Es gebe viele Bücher, gerade auch Romane, die auf Deutsch vorlägen und sich mit der Schah-Zeit, mit der islamischen Revolution 1979 oder dem Iran-Irak-Krieg befassten, sagt Wustmann.
"Das sind Themen, die bis heute die iranische Literaturszene sehr bewegen und über die viel geschrieben wird – aber eben nicht ausschließlich. Man muss immer bedenken: Es gibt eine Engführung durch das, was deutsche Verlage auswählen – und deutschen Verlagen ist Politik immer sehr, sehr wichtig. Solange sich etwas politisch nicht verkaufen lässt, wird es schwierig." 
Umso interessanter sei, dass jetzt auch andere Themen in Deutschland ankämen, wie beispielsweise Alltags- und Familiengeschichten. Wustmann nennt Fariba Vafis Roman "Tarlan", der in einer Polizeischule für junge Frauen spielt.

Zensur prägt die iranische Literatur

Im Iran selbst wird die Themenauswahl auch stark durch die Zensur beeinflusst, wie Wustmann verdeutlicht: "Im Iran kann kein Buch publiziert werden, solange es nicht vom Kulturministerium abgenommen worden ist."
"Iranische Autorinnen und Autoren sind Experten in der Verklausulierung geworden", erklärt Wustmann. "Experten des Entwerfens ganz neuer sprachlicher, inhaltlicher und struktureller Literaturformen, um Dinge auszudrücken – ohne sie direkt in den Text zu schreiben, damit sie an der Zensur vorbeigehen. Das Publikum in Iran versteht das auf Anhieb."
Wer sich dafür genauer interessiert, wie diese Zensur funktioniert, dem empfiehlt Wustmann einen Roman von Shahriar Mandanipu, der eine Meta-Ebene zur Zensur einführt. "Der Autor lebt in den USA, deswegen kann er so frei schreiben." Sein Buch "Eine iranische Liebesgeschichte zensieren" hätte in Iran niemals erscheinen können, ist Wustmann überzeugt.
"Es geht um einen iranischen Autor, der eine Liebesgeschichte schreiben will. Man liest im Buch dann Passagen dieser Geschichte, und plötzlich sind einzelne Absätze durchgestrichen: Der Autor merkt: Das kann ich so nicht machen, das kriege ich nicht durch die Zensur. Und dann überlegt er: Nehme ich das komplett raus oder schreibe ich das um?"
(mfu)
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