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"Man wird sich damit abfinden müssen"

Der jüngste Coup von WikiLeaks ist für Avi Primor nichts ganz Neues. Diplomaten lebten mit der Enthüllung geheimer Vorgänge, Politiker verkauften Informationen an Journalisten. Der Vertrauensverlust wird vorübergehend sein, sagt Primor - "weil es keine Alternative" gäbe.

Tobias Armbrüster im Gespräch mit Avi Primor | 30.11.2010
    Tobias Armbrüster: Die jüngsten Veröffentlichungen auf der Internet-Plattform Wikileaks haben weltweit hohe Wellen geschlagen. Das ist eigentlich nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass 250.000 geheime Dokumente aus dem amerikanischen Außenministerium ganz plötzlich an die Öffentlichkeit gelangen. Zu lesen sind darin unter anderem wenig schmeichelhafte Beschreibungen amerikanischer Diplomaten über ausländische Politiker, aber diese Dokumente geben auch Hinweise auf außenpolitische Pläne und Planspiele der USA, etwa Gespräche mit Verbündeten im Nahen Osten über einen Militärschlag gegen den Iran.
    Was bedeuten diese Dokumente nun für die internationale Diplomatie? Es handelt sich ja um Dokumente, in denen beides steckt, oberflächliche Lästereien ebenso wie geheime geostrategische Überlegungen. – Am Telefon begrüße ich jetzt Avi Primor, in den 90er-Jahren war er Botschafter Israels in Deutschland, heute leitet er das Zentrum für Europäische Studien an der Universität Herzliya in Israel und er hat sich in zahlreichen Büchern mit den Spannungen im Nahen Osten befasst. Schönen guten Morgen, Herr Primor.

    Avi Primor: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Herr Primor, wie groß ist der Schaden Ihrer Ansicht nach, der Schaden, den diese Dokumente angerichtet haben?

    Primor: Nicht so groß, wie man denkt. Wissen Sie, dass geheime Berichte und überhaupt geheime Informationen durchsickern, ist ja nicht neu. Damit lebt man, damit leben die Diplomaten, damit leben die Politiker seit eh und je. Meistens sind sie selber daran Schuld, das sind die Politiker, die den Journalisten hinter den Kulissen Geheimnisse verkaufen, um sich bei den Journalisten beliebt zu machen. Natürlich richtet das Schaden an. Immer wieder richtet das gezielt sehr viel Schaden an, weil das die Gespräche, die geheimen Gespräche, eben empfindliche Gespräche daran hindert, offen zu sein. Aber das ist eine Krankheit, mit der man lebt. Man hat damit gelebt auch in Zeiten, als es keine Demokratie gab. In Demokratien ist es umso mehr so, besonders in den letzten Jahren, wo die Medien anhand von Internet und so weiter so offen und so allgemein geworden sind. Ich glaube, man wird sich dem anpassen müssen und damit leben müssen.
    Allerdings möchte ich noch etwas hinzufügen. Bis heute – und das sehe ich auch jetzt mit Wikileaks nicht – gibt es doch Geheimnisse, die gut gehalten werden, und das sind die militärischen Geheimnisse oder die Geheimnisse der Geheimdienste, weil die anders behandelt werden.

    Armbrüster: Wenn wir auf diese militärischen Geheimnisse mal gleich zu sprechen kommen, da heißt es jetzt aus den USA, was da veröffentlicht wurde, gerade über die Beziehungen, über Gespräche und Verhandlungen im Nahen Osten, in der arabischen Region, das könnte Menschenleben gefährden. Stimmt das?

    Primor: Ja. Wenn man Geheimnisse veröffentlicht, kann das oft Menschenleben gefährden, natürlich. Wenn sie zum Beispiel eine Einheit irgendwo hinter die Linien des Feindes schicken, um dort eine geheime Aktion durchzusetzen, und das von dem Feind bekannt wird und er diese Soldaten in eine Falle bringen kann, ist das gefährlich für Menschen. Aber das sind gezielte Sachen, die man auch gezielt behandeln muss. Diese Erscheinung, von der wir sprechen, die ist größer als je, das stimmt. Die ist aber an sich nicht neu.

    Armbrüster: Wir bekommen nun in diesen Dokumenten Hinweise unter anderem auf mögliche geheime Verhandlungen, die es gegeben haben soll, zwischen den USA und arabischen Staaten, etwa was einen militärischen Schlag gegen den Iran angeht, oder auch beispielsweise Verhandlungen rund um das Gefangenenlager Guantanamo mit arabischen Ländern. Welche Wirkung können solche Veröffentlichungen in der Region haben, im Nahen Osten?

    Primor: Das wird für viele Politiker im Nahen Osten unangenehm sein, vielleicht wird es sogar solche geben, die zurücktreten werden müssen. Aber insgesamt wird es keine große Wirkung haben. Dass man von einem Anschlag an den Iran spricht, dass die Araber genauso viel Interesse daran haben beziehungsweise noch mehr als die Vereinigten Staaten, ist ja kein Geheimnis. Dass die Araber verstehen, dass die Gefahr für sie in Iran lauert, ist allgemein bekannt. Und dass sie sich Mittel suchen, um sich zu schützen gegen den Iran, all dies ist nicht wirklich neu. Und operative Geheimnisse sind da auch nicht veröffentlicht worden. Also insgesamt ist das für manche Leute individuell sehr unangenehm, aber für die allgemeine Politik wird das keine große Wirkung haben.

    Armbrüster: Meinen Sie tatsächlich, dass es einer breiten Bevölkerung etwa in Ägypten oder in Saudi-Arabien bekannt ist, dass es solche Verhandlungen mit den USA gegeben haben könnte?

    Primor: Die Bevölkerung in Ägypten und in Saudi-Arabien, die sich dafür interessiert – und das ist nicht die Mehrheit -, ja, ihr war es bekannt.

    Armbrüster: Kommen wir mal auf Israel zu sprechen. Die israelische Regierung sieht sich ja jetzt in vielen Punkten ihrer Außenpolitik bestätigt, unter anderem, weil es in diesen Dokumenten Hinweise darauf gibt, dass wie gesagt dieser Militärschlag gegen den Iran geplant gewesen sein soll. Premierminister Netanjahu hat sich jetzt hingestellt und gesagt, seht her, wir haben es euch immer schon gesagt, der Iran muss quasi mit allen Mitteln eingedämmt werden. Hat er recht mit dieser Ansicht, dass Israel sozusagen durch diese Veröffentlichung in seiner Außenpolitik gestärkt wurde?

    Primor: In seiner Propaganda vielleicht, in seiner Außenpolitik weiß ich nicht, weil ich nicht wirklich glaube, dass Israel die Absicht oder die Möglichkeit hat, alleine den Iran militärisch anzugreifen. Das kann Israel nicht. Und ein Angriff an den Iran ist sowieso nicht wünschenswert, aber wenn man ihn überhaupt umsetzen sollte, dann kann man das nur mit den Amerikanern machen, und wenn die Amerikaner sich entschieden haben, so etwas zu machen, dann brauchen sie die Israelis nicht.

    Armbrüster: Wenn wir jetzt diese ganzen Daten uns einmal vergegenwärtigen, 250.000 Dokumente, die da seit Sonntag im Internet für jedermann zu lesen sind, können amerikanische Diplomaten überhaupt noch damit rechnen, dass ihnen irgendjemand noch vertrauliche Informationen gibt?

    Primor: Die werden anfänglich Schwierigkeiten haben und wir kennen das alle im diplomatischen Leben, wenn irgendwelche Dokumente aus einer Botschaft durchsickern. Mir persönlich ist das schon geschehen. Dann kann der Diplomat aus dieser Botschaft keine Gespräche weiterführen, das stimmt, weil man mit ihm nicht sprechen will. Aber das ist vorübergehend!

    Armbrüster: Es handelt sich hierbei jetzt ja nicht um Einzelfälle, sondern tatsächlich offenbar um ein Massenphänomen, dass sozusagen ein Soldat per Knopfdruck die Möglichkeit hatte, 250.000 dieser Dokumente weiterzuschicken.

    Primor: Nein, nein, ich verstehe die Frage. Ich will nur sagen, dass, massenhaft oder individuell, wird das die gleiche Wirkung haben. Es wird für einen Diplomat, dessen Dokumente durchgesickert sind, schwierig sein, Gespräche zu führen, aber auch nur vorübergehend, und für die allgemeine amerikanische Diplomatie wird es genauso sein. Die amerikanischen Diplomaten werden Schwierigkeiten haben in ihren Gesprächen in den kommenden Tagen beziehungsweise Wochen, aber dann wird alles wieder weitergeführt wie vorher, weil es keine Alternative dazu gibt, und man wird sich damit abfinden müssen, wird neue Methoden suchen, um die Geheimnisse besser zu bewahren, aber man wird weiter sprechen, weil man ohne Gespräche, ohne Amerikaner gar nicht vorankommen kann.

    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Avi Primor, der ehemalige israelische Botschafter in Deutschland, heute Politikwissenschaftler an der Universität Herzliya in Israel. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Primor.

    Primor: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

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