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Maria Stepanova: "Nach dem Gedächtnis
Aus den lichten Höhen der Essayistik zur Erinnerung

Einhundert Jahre russisch-jüdische Familiengeschichte im 20.Jahrhundert. Die Dichterin und Essayistin Maria Stepanova hat sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln begeben. Entstanden ist ein komplexes Werk, das die Erinnerung mit philosophischen und kulturhistorischen Reflexionen verbindet.

Von Uli Hufen | 18.04.2019
Die russische Schriftstellerin und Familienbiografin Maria Stepanova sitzt an einem Tisch.
Maria Stepanova ist eine Dichterin, die sich von einem Kontrabasskasten in der Berliner U-Bahn an einen Sarg erinnert fühlt (Foto: Andrej Natozinskij)
Irgendwann schon eher gegen Ende von Maria Stepanovas Romanessay "Nach dem Gedächtnis" sitzt die Erzählerin und Autorin mit einem Historiker an einem langen Holztisch in der Bibliothek des Holocaust-Museums in Washington. Der Historiker fragt, woran sie arbeitet, Stepanova fängt an zu erklären und dann macht der Historiker eine Bemerkung, für die ihm Maria Stepanova bis heute dankbar ist:
"Ah, sagte er, eines von diesen Büchern, in denen der Autor auf der Suche nach seinen Wurzeln durch die Welt reist - davon gibt es jetzt viele. Ja, sagte ich, bald gibt es noch eines mehr."
Geschichte und Gedächtnis
In dieser kurzen Szene und mehr noch darin, dass Maria Stepanova sie in ihr Buch eingebaut hat, sind das Thema, das Ziel und der Anspruch von "Nach dem Gedächtnis" konzentriert formuliert. Es geht um die Geschichte einer russisch-jüdischen Familie im 20.Jahrhundert. Es geht darum, sich selbst in der Geschichte der Familie zu finden. Vor allen Dingen aber geht es darum zu zeigen, dass das gar nicht so einfach ist. Um es vorsichtig zu formulieren. Die 1972 in Moskau geborene Dichterin und Essayistin Maria Stepanova, die in den letzten zehn Jahren als Chefredakteurin von zwei der ambitioniertesten Kulturportale des russischen Internets gearbeitet hat, ist zu gut mit Kulturgeschichte, Philosophie und Geschichte vertraut, als dass sie an ein solches Projekt mit irgendeiner Form von hemdsärmeligem Optimismus herangehen würde.
Weshalb die Antwort, die sie dem Historiker in Washington gab, auch ein bisschen kokett ist. Maria Stepanova hatte nie vor, eins von diesen Büchern zu schreiben. "Nach dem Gedächtnis" ist von der Komplexität seiner Anlage, von der Fülle an philosophischen und kulturhistorischen Reflexionen und auch angesichts seiner schieren Sprachmächtigkeit sehr viel mehr, als irgendein Buch, in dem jemand nach seinen Wurzeln sucht. "Nach dem Gedächtnis" ist der Versuch, sich neben die ganz Großen der Literaturgeschichte zu stellen, neben Proust und Nabokov und Sebald und Zwetajewa und Mandelstam und Roland Barthes und Susan Sontag und all die andern, die in den letzten 100 Jahren Fragen der Erinnerung und des Gedächtnisses problematisiert haben und deren Namen in "Nach dem Gedächtnis" mit großer Regelmäßigkeit fallen.
"Nach dem Gedächtnis" beginnt mit dem Tod von Maria Stepanovas Tante Galja. Aber eigentlich beginnt die Geschichte sehr viel früher, in Stepanovas Kindheit.
"Ich wusste immer, dass ich eines Tages ein Buch über meine Familie schreiben würde, und es gab eine Zeit, in der ich darin mein Lebenswerk sah (…). Dass all diese Leute, die Lebenden wie die Toten, keine Gelegenheit hatten, gesehen zu werden, dass das Leben ihnen keine Chance ließ zu bleiben, erinnert zu werden, im Licht zu stehen, dass ihr Normalsein sie dem schlichten menschlichen Interesse entzog, schien mir ungerecht."
Eine Familie am Rand der Geschichte
Stepanovas Vorfahren waren Ärzte, Ingenieure, Buchhalter, Architekten und Bibliothekare. Niemand von ihnen war prominent, niemand hat etwas hinterlassen, das Platz finden würde in einem Lexikon.
"Fast keiner von ihnen war Parteimitglied, doch auch das hatte nichts Demonstratives."
Und doch hat das Jahrhundert Spuren hinterlassen: Jemand hat an der Sorbonne studiert. Auf alten Familienfotos vom Beginn des Jahrhunderts taucht Jakow Swerdlow auf, einer der führenden Köpfe der Oktoberrevolution. Ende der 30er Jahre berühren die Säuberungen kurz auch Stepanovas Familie. Dann kommt für alle der 2.Weltkrieg, für einige die deutsche Aushungerung von Leningrad. Weil Stepanovas Familie jüdisch ist, spielt auch die jüdische Emigration aus der Sowjetunion seit den 70er Jahren eine Rolle. Die Mutter ist in Deutschland begraben.
Um das alles zu erzählen, reist Stepanova durch die halbe Welt, sichtet Dokumente, beschreibt alte Fotos, zitiert Briefe und Postkarten, liest pausenlos und verbringt viel Zeit in Museen und Archiven, auf Friedhöfen und in Bibliotheken. Und sie denkt nach. Über das Verhältnis von Erinnerung und Geschichte, über die Unzuverlässigkeit von überkommenen Dokumenten, über den Boom an Erinnerungsliteratur und über allerhand Künstler, Theoretiker und Schriftsteller, die sich auch mit eben diesen Problemen befasst haben. Das Ergebnis sind ausführliche Essays, die mit der Familiengeschichte nur insofern zu tun haben, als dass sie alle sagen: Erinnerung ist problematisch, ich kann hier und heute im 21.Jahrhundert nicht einfach so die Geschichte meiner Familie erzählen, das ist unmöglich.
"Die Vergangenheit liegt vor uns wie ein riesiger zu kolonisierender Kontinent, bereit für schnelle Plünderung und langsamen Umbau. Man möchte meinen die gesamte Kultur widme sich nur dem Erhalt ihrer wenigen Hinterlassenschaften; jede Gedenkanstrengung wird gefeiert."
Heillos prätentiös
Maria Stepanova ist eine Dichterin, die sich von einem Kontrabasskasten in der Berliner U-Bahn an einen Sarg erinnert fühlt. Wenn ein Hund still sitzt denkt sie, er tue das, als ob gerade ein Foto von ihm für die Ewigkeit aufgenommen würde. Porzellanpuppen fallen auf den Boden und zerspringen. In Hotelzimmern laufen Endlosvideos, in denen immer wieder dasselbe Holzscheit verbrannt wird. Kinder verbuddeln kleine mit Stanniolpapier ausgelegte Schatzkisten. Und man kann sich jederzeit darauf verlassen, dass Maria Stepanova von all dem zu erbaulichen Sentenzen über die Problematik von Gedächtnis und Erinnerung inspiriert wird. Aber irgendwann hat man genug vom endlosen Strom der melancholischen, lebensklugen Beobachtungen und Assoziationen und fragt sich vorsichtig, ob das nicht doch alles etwas überspannt oder sogar heillos prätentiös ist. Auch weil die eigentliche Familiengeschichte in den Hintergrund rückt. Spürbar, wenn Stepanova aus den lichten Höhen der Essayistik dann doch zu den Einzelschicksalen zurückkehrt. Zum Beispiel zu den Briefen des jungen Soldaten Ljodik. Der muss 1942 vor Leningrad durch die Hölle gegangen sein, erzählte seinen Verwandten davon aber über Monate kein Sterbenswort. Man versteht, warum Stepanova derartige Passagen immer wieder unterbricht. Klar, solche Dokumente sind hochproblematisch. Haben wir verstanden. Und doch fragt man sich am Ende von "Nach dem Gedächtnis" etwas ratlos, warum hier so überaus ausdauernd die Rede war von Künstlern, Dichtern und Kultur-Theoretikern aus aller Welt und so relativ wenig von der selbstredend nur scheinbar unscheinbaren Familie der Maria Stepanova.
Maria Stepanova: "Nach dem Gedächtnis"
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja.
Suhrkamp Verlag, Berlin,
527 Seiten, 24 Euro.