Wutbürger mit Rechtsschutzversicherung

21.03.2013
"Nicht bei mir!" heißt die Bewegung, der sich immer mehr Deutsche anschließen. Sie engagieren sich, organisieren Bürgerentscheide. Die Aktivisten verzögern auf diese Weise Bauprojekte oder machen sie teurer - doch es gibt auch positive Beispiele.
Dagegen in München
Von Michael Watzke

Rechtsanwältin Heike Kainz steht vor einem unscheinbaren, weißen Haus im Münchner Vorort Allach.

"Wir sehen hier eine Wohnungslosen-Unterkunft. Und da waren schon zahlreiche Proteste da. Also da haben wir auch ein zwei Sitzungen gehabt, in denen es durchaus emotional aufgeladen zuging."

Heike Kainz ist die Vorsitzende des Bezirksausschusses Allach. Sie zählt auf, was zahlreiche Anwohner so wütend macht.

"Das Thema war Wäsche überm Zaun, das Thema waren Einkaufswägen, das Thema waren Kinder auf der Straße, das Thema waren Kinder auf dem Bahndamm. Lärm am Abend, Autos, die die Schöllstraße verparkt haben. All diese Dinge."

Von all diesen Dingen ist heute, an diesem zufällig ausgewählten Frühlingstag, nichts zu sehen. Das weiße Haus in der Schöllstraße 4 in Allach sieht aus wie jedes andere in der Gegend. Nicht mal Autos stehen auf den Parkstreifen am Hintergarten. Stattdessen steht dort Mosis.

"Ich komme aus Somalia."
"Wie lange sind Sie schon hier?"
"Seit sieben Monaten."

Mosis lebt mit seiner Frau in einem kleinen Zimmer im zweiten Stock des Hauses. Die Miete dafür zahlt die Stadt München. Mosis hofft, dass er bald arbeiten und in eine eigene Wohnung umziehen darf. In der Zwischenzeit nimmt er Sprachunterricht.

"Ich spreche noch nicht gut deutsch. Ich lerne deutsch in der Schule. Seit fünf Monaten."

Kinder hat Mosis nicht. Damit sei er eine Ausnahme, sagt Heike Kainz.

"Wenn hier viele Kinder dazukommen, haben wir natürlich auch gesehen, dass diese Kinder in die Kindergärten müssen. In die Schulen. Aber unsere Plätze in den Kindergärten und Schulen sind ohnehin immer knapp und viel zu wenige."

Die Allacher Bürger fühlen sich von der Stadt München hinters Licht geführt. Die habe behauptet, sie wolle in der Schöllstraße, die an einem Industriegebiet und einer S-Bahn-Strecke liegt, ein Hotel bauen.

Heike Kainz: "Tatsächlich ist es aber eine Wohnungslosen-Unterkunft. Es war eben einfach so, dass wir vor Ort sehr spät darüber unterrichtet wurden, welche Art der Einrichtung dort hin sollte. Die Grundproblematik, wenn eine Einrichtung dieser Art in einen Stadtbezirk kommt, ist halt, dass sich viele Menschen Gedanken machen, ob das klappt. Und welche Auswirkungen auf die Anwohner da sind. Und die sind definitiv da."

Die Anwohner versuchten alles, um die Unterkunft der Fremden zu verhindern. Aber da war nichts zu machen, sagt Rechtsanwältin Kainz. Lediglich einen Sichtschutz habe man durchsetzen können.

"Der Betreiber hat diese Zäune hier angebracht. Bis die Hecke, die innen gepflanzt ist, so groß ist, dass man das wieder abnehmen kann. Eine Übergangslösung, sozusagen."

Die Obdachenlosenunterkunft selbst ist dagegen keine Übergangslösung. Sie wird bleiben. Die Anwohner wollen sich vor dem Mikrofon nicht äußern. Aber zumindest einige haben sich inzwischen mit dem weißen Haus in der Schöllstraße abgefunden, sagt Heike Kainz

"Es hat sich gut eingespielt. Und da muss man sich halt im Zweifel immer wieder mal zusammensetzen und schauen, was man – wenn’s nötig ist – verbessern kann."

Ganz ruhig geworden ist es in Allach allerdings nicht. Einige haben ihren Widerstand nicht aufgegeben, sondern verlagert.

"Beim letzten Protest war der Auslöser gar nicht die Wohnungslosen-Unterkunft, sondern die verkehrlichen Gegebenheiten im Umfeld. LKW-Verkehr an einer Wohnstraße und der Geräuschpegel der vorbeiführenden Bahngleise."

Aber auch dieser Protest gegen die Bahn verlief im Sande, sagt Kainz.

"Man konnte vor allem deshalb nichts dagegen tun, weil die Bahn zuerst da war."

Aber das hat Wutbürger mit Rechtsschutz-Versicherung noch nie von einer Klage abgehalten.


Ein Obdachloser in den USA, New York
In München kämpfen Anwohner gegen eine Unterkunft für Obdachlose.© picture-alliance / dpa
Dagegen in Kleve
Von Michael Frantzen

Willibrord Haas: "Nur damit se mal ... So sieht das aus ..."

Das – das ist das geplante, neue Rathaus von Kleve, der 50.000-Einwohnerstadt an der niederländischen Grenze.

Haas: "Das war ein kompliziertes Verfahren."

...übt sich Willibrord Haas in Understatement. Der Stadtkämmerer muss auslöffeln, was ihm seine Klever eingebrockt haben. E sollte nämlich eigentlich gar keinen Neubau geben. Im Sommer 2009 entschied eine Mehrheit per Bürgerbefragung, das bestehende Rathaus auf Vordermann zu bringen. Die Billigvariante sozusagen: Gegen veranschlagte 6,1 Millionen Euro Kosten hatten die zwei teureren Gegen-Vorschläge, die einen Neubau vorsahen, keine Schnitte.

Es herrschte erst einmal Eitel-Sonnenschein am Niederrhein. Bis sich der Stadtkämmerer und andere die Mühe machten, nachzurechnen – und siehe da: Für den anvisierten Preis ließ sich das marode Rathaus nie und nimmer renovieren.

"Dass natürlich diese Sanierungs-Zahl beim Rathaus so sich nicht umsetzen ließ – das haben wir bitter zur Kenntnis nehmen müssen und ich gerade als Stadtkämmerer. Weil ich dadurch sehen muss, dass wir für den Investitionshaushalt zusätzliche Mittel bereit stellen."

11,6 Millionen Euro kostet der Neubau. Ganz schön teuer, aber immer noch billiger als eine Renovierung.

"Im Moment, nach derzeitiger Planung, können wir das nur durch Kredit-Aufnahmen finanzieren."

Frank Smola: "Wundern tut wir uns eigentlich nicht."

...kann sich Frank Smola ein kleines bisschen Häme nicht verkneifen. Der Kaufmännische Leiter des einheimischen Bauunternehmens Tönnissen war einer von denen, die im Vorfeld der Bürgerbefragung leise Zweifel anklingen ließen, wie zum Spottpreis von rund sechs Millionen Euro ein Gebäude saniert werden solle, das energetisch auf dem Stand der 50er Jahre sei. Hat er sich nicht gerade populär mit gemacht, bei der Mehrheit der Klever. Die schossen alle Bedenken in den Wind, nach dem Motto: "Geiz ist geil".

"Die Hypothese ist nicht zu widerlegen. Will ich sogar bejahen. Ich glaub, dass ist typisch für alle öffentlichen Objekte. Auch gerade zum Beispiel Rathausbau, dass der Bürger erst mal natürlich sagt: Ja, möglichst die kostengünstigste Variante. 'Geiz is geil' is da vielleicht nen bisschen krass gesagt. Aber: Wenn ich entscheiden kann zwischen sechs Millionen und elf Millionen – dann ist natürlich die Differenz nen großes Argument."

Nach fast vier Jahren Stillstand soll im Laufe des Frühlings der erste Spatenstich erfolgen, werden die städtischen Angestellten ab Juli für zwei Jahre in einem Ausweichquartier unterkommen. Bauen wird das neue Rathaus die Tönnissen GmbH. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Schließlich haben das mittelständische Unternehmen und die Stadt in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass Klever Anwälte genug zu tun hatten. Ursprünglich wollte die Verwaltung einem Konkurrenten den Auftrag erteilen, doch nachdem Tönnissen erfolgreich Klage bei der Vergabekammer eingereicht hatte, wurden die Karten neu gemischt. Schlecht für die Stadt, die auf den Prozesskosten hängen blieb; gut für Frank Smola.

Frank Smola: "Der Preis ist wirklich absolut vertretbar. Das is ja jetzt nix, wo man sagen kann: Oh, das ist aber Weltstadt-Architektur. Das is schön, zweckmäßig, effizient."

Die meisten Klever haben sich derweil ihrem Schicksal gefügt, auch die besonders engagierten. Bis zu 500 hatten sich bei den Workshops im Vorfeld der Bürgerbefragung "eingebracht".

Haas: "Wir hatten hier in Kleve keine Wutbürger, sondern wir hatten sehr konstruktive Bürger. Die sich in diesem ganzen Verfahren enorm beteiligt haben: Mit ihren Ideen, mit ihren Vorstellungen; die nachgefragt haben. Und das war spannend so auch für die Entwicklung dieser Stadt."

...versucht der Stadtkämmerer dem nicht gerade zielführenden Bürger-Votum im Nachhinein etwas Positives abzugewinnen. Spätestens im Sommer 2015 soll Willibrord Haas im neuen Rathaus einziehen.

"Ich bin vorsichtig optimistisch."


Stadthalle Kleve
Blick auf Kleves Stadthalle.© Deutschlandradio - Claus Bredel
Dagegen in Hamburg
Von Axel Schröder

Die Idylle versteckt sich, fällt kaum auf. Morgens und Abends rollen die Pendlerströme an ihr vorbei, durch Hamburg-Eidelstedt, vorbei am Eidelstedt-Center, Kieler Straße Ecke Elbgaustraße. Kaum ein Durchreisender beachtet die Grünfläche hinter dem Shopping-Center, den alten Baumbestand, den Spielplatz, den angrenzenden Wochenmarkt. Nicht viel Fläche, gerade mal 2.500 Quadratmeter. Die den Eidelstedtern aber viel bedeuten:

Horst Becker: "Diese Fläche hat im Stadtteil eine hohe Identifikation. Die Leute hängen an den Bäumen und an der Fläche. Hier ist ein Kinderspielplatz, da findet was statt. Und hier ist eine wichtige Wegeverbindung in dieses Wohnquartier…"

...und in diesem Wohnquartier sitzt Horst Becker an seinem Rechner, zeigt auf einem Satellitenbild den kleinen Park, besser gesagt: die Grünfläche hinter dem klobigen Eidelstedt-Center. Becker hat schon als Abgeordneter der Grün-Alternativen-Liste in der Hamburger Bürgerschaft gesessen, er kennt den Polit-Betrieb im Rathaus und im zuständigen Bezirksamt Eimsbüttel. Dieses Bezirksamt sollte 2011 darüber entscheiden, ob der kleine Park plattgemacht werden darf. Denn das Shoppingcenter sollte wachsen, es fehle an Ladenfläche, erklärte die MEAG. Die Firma managt die Immobilien des Versicherungskonzerns "Ergo". Die MEAG betreibt das Center und ihr gehört sogar die Grünfläche. Aber noch mehr Shopping-Fläche unter einem Dach, zu Lasten kleiner Läden im Quartier, davon hielten Becker und seine Mitstreiter gar nichts:

"Wenn dann hier erweitert wird, dann kommen Ketten und dann kommen die Leute von sonst wo her und die schöpfen das Geld aus den Quartieren ab. Die saugen es mit dem Schlauch raus, die führen es nicht ins Quartier zurück. Das heißt: Was bedeutet so ein Zentrum für die lokale Ökonomie? Da hat sich in der Politik niemand mit beschäftigt."

Deshalb stellten sich Horst Becker und die Eidelstedterin Marie Teske als Vertrauenspersonen zur Verfügung und gründeten die Initiative "Grünes Zentrum Eidelstedt". Dabei war klar: Der MEAG, also der Eigentümerin der Fläche, konnten sie kaum vorschreiben, was sie mit ihrem Grundstück anstellen soll. Klar war aber auch: Die MEAG muss eine Änderung des Bebauungsplans durch die Bezirksversammlung erreichen. Gegen diese Änderung machten die Aktivisten mobil. Und fingen an, Unterschriften zu sammeln. Für den ersten Schritt: ein Bürgerbegehren:

"Aus dem Bauchgefühl heraus, so, wie ich meinen Stadtteil kenne, so massiv, wie mir diese Befindlichkeit schien, habe ich einfach gesagt: "Klar! Wir holen die Stimmen, die Unterschriften, um den Entscheid zu erreichen. Die schaffen wir!"

Die 5.600 Unterschriften waren schnell gesammelt. Und der Weg frei für den zweiten Schritt: den Bürgerentscheid. Der Abstimmungsleiter im Bezirksamt Stephan Glunz erinnert sich an die Profis aus Eidelstedt:

"Den Vertrauenspersonen beim Bürgerbegehren "Grünes Zentrum Eidelstedt", denen muss man ganz sicher attestieren, dass die ein sehr klares Rollenverständnis hatten. Zwischen ihrer Rolle, der der Bezirksversammlung und der Bezirksabstimmungsleitung und sie sind sehr professionell und freundlich gegenüber der Bezirksabstimmungsleitung vorgegangen. Auch sehr professionell in der Unterschriftensammlung – das sind ja auch immer so Punkte: wie hoch ist der Anteil der gültigen Unterschriften-Listen. Das kommt sehr auf die Qualität der Unterschriftensammlung an! Und die Vertrauensleute haben das wirklich sehr, sehr gut gemacht!"

Immerhin gibt es auch ganz andere Initiativen, weiß Glunz: vielen fehle der lange Atem, einige unterschätzten den Aufwand, nebenberuflich einen Bürger- oder, auf Landesebene, einen Volksentscheid zu organisieren. Wieder andere Protestler blasen ihre Unterschriftensammlungen ab, weil die zuständigen Bezirksversammlungen sich einsichtig zeigen und die Forderungen des Entscheids übernehmen. Immerhin kostet das Verfahren viel Geld, in einem Bezirk wie Eimsbüttel mit 195.000 Wählerinnen und Wählern sind es rund 220.000 Euro.

So viel kostete auch der Entscheid über die Grünfläche hinterm Shopping-Center. Knapp 70 Prozent votierten für ihren Erhalt, 30 Prozent waren der Ansicht, das Grün und die Bäume können weg.

Die Anzahl an Bürgerentscheiden in den Bezirken und Volksentscheiden auf der Hamburger Landesebene steigt. Die Bürgerinnen und Bürger kennen mittlerweile ihre Rechte und Vereine wie "Mehr Demokratie" unterstützen sie heute mit viel Fachwissen um die verfahrensrechtlichen Feinheiten.

Erst Ende der Neunzigerjahre wurden die Entscheide in Hamburg eingeführt. Aber die Politik fremdelte mit dem eigenen Volk, versuchte immer wieder, ihr unliebsame Bürgervoten auszuhebeln. Dass Volksentscheide heute tatsächlich verbindlich sind, musste erst – per Volksentscheid – durchgesetzt werden. In den letzten Jahren haben sich die Politiker an die neue Macht von unten gewöhnt. Und Manfred Brandt vom Landesvorstand von "Mehr Demokratie" lobt denn auch die heute enge Zusammenarbeit auf allen Ebenen. Man kennt sich, man achtet die Rechte des anderen:

"Insofern ist auch ein gewisses Vertrauensverhältnis entstanden zwischen Verwaltung, zwischen den Parteien und zwischen 'Mehr Demokratie Hamburg'. Und wir versuchen, die Sachen mit Augenmaß hinzubekommen. Und die ursprüngliche Konfrontation ist stärker zu einem Miteinander geworden."

Hamburgs Landeswahlleiter Willi Beis und Manfred Brandt kennen sich aus unzähligen Diskussionen. Die beiden schätzen sich und Beis lobt – bei aller Neutralität, zu der sein Amt ihn verpflichtet - auch die Aktivisten von "Mehr Demokratie":

"Weil durch diese hartnäckige Beharrlichkeit von 'Mehr Demokratie' auch die Hamburger intensiver an diese Gestaltungsmöglichkeiten herangeführt worden sind. Und das hat dazu geführt, dass die Bürgerschaft inzwischen es gar nicht mehr darauf ankommen lassen muss, dass Volksentscheide durchgeführt werden, sondern dass schon nach erfolgreichen Stufen vorher sich mit der Initiative zusammensetzt und gemeinsam das Anliegen zu gestalten und dann letztlich zu übernehmen."

Beim einzigen momentan laufenden Entscheid zum Rückkauf der Hamburger Stromnetze ist diese Einigung allerdings noch nicht in Sicht. Dazu sind die Positionen von Senat und den Initiatoren doch zu verschieden. Im September, zeitgleich zur Bundestagswahl stimmen die Hamburgerinnen und Hamburger über das Thema ab. Bisher ist die Mehrheit, anders als der Erste Bürgermeister Olaf Scholz, für den milliardenschweren Rückkauf. Es wird also spannend und bisher versichert Olaf Scholz: Er wird den Entscheid respektieren. Das Hintertürchen bleibt aber einen Spalt breit offen:

"In Wahrheit enthält ja der Volksentscheid gar keinen Handlungsauftrag. Alle denken sehr genau, was man tun soll: nämlich, dass wir irgendwie die Netze in unseren Besitz bringen – und so würden wir es denn auch irgendwie versuchen. Aber wie man es genau machen soll, steht da ja sehr bewusst nicht drin. Weil es nämlich so einfach auch nicht ist…"

Es bleibt also spannend in Hamburg. Und der Kampf um mehr oder weniger Macht von denen da unten bzw. denen da oben, er geht weiter.
Blick auf die Hamburg und die Kunstmeile.
Hamburg von oben.© picture alliance / dpa Foto: Ulrich Perrey
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