Lange Nacht zur Denkfabrik

Wenn Arbeit kaum zum Leben reicht

#ichbinarmutsbetroffen steht bei der Kundgebung der Initiative am Bundeskanzleramt auf einem Transparent. #IchBinArmutsbetroffen ist ein Hashtag, der seit Mai 2022 im sozialen Netzwerk Twitter verbreitet wird. Betroffene von Armut berichten dabei über ihre Erfahrungen und Probleme.
Kundgebung der Initiative #ichbinarmutsbetroffen: Von prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen können auch Menschen in Kreativberufen und der Kunstwelt ein Lied singen. © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Moderation: Birgit Wentzien · 17.12.2022
Arbeit nimmt einen Großteil unserer Lebenszeit ein und wird oft zu schlecht bezahlt, um über die Runden zu kommen. Eine Podiumsdiskussion im Berliner Funkhaus geht der Frage nach: Was muss geschehen, damit Arbeit zum Leben reicht?
Wie viel Geld wir für unsere Arbeit bekommen, entscheidet darüber, wie wir wohnen, welche Chancen wir unseren Kindern bieten können und sogar wie wir Beziehungen führen. Im Rahmen der Denkfabrik 2022 haben sich alle drei Deutschlandradio Programme verstärkt mit dem Thema „Von der Hand in den Mund – Wenn Arbeit kaum zum Leben reicht“ beschäftigt. Im Laufe des Jahres sind zahlreichen Beiträge, Sendungen und Podcasts über den Berufsalltag und die Lebensrealitäten von Zustellerinnen und Erntehelfern, Friseurinnen und Erziehern, Künstlern und Journalistinnen entstanden.
Diese Lange Nacht präsentiert eine Auswahl davon in Ausschnitten. Unter anderem geht es darum, wer von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen ist und warum die soziale Schere in Deutschland weiter auseinanderklafft.

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Die Sendung wirft außerdem einen Blick auf das neue Bürgergeld und die Twitter-Bewegung #IchbinArmutsbetroffen, die seit dem Frühjahr 2022 Schlagzeilen macht. Im Anschluss an diesen Streifzug widmet sich die Lange Nacht dem Thema Prekäre Arbeit in einem Podiumsgespräch.
Im Berliner Funkhaus diskutierten die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, die Arbeitssoziologin Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, die Vorsitzende der Berliner Tafel Sabine Werth und Hauptstadtstudio-Korrespondent Volker Finthammer. Die Moderation des Podiumsgesprächs übernahm Birgit Wentzien, Deutschlandfunk-Chefredakteurin. 

Prekarität - Leben in Unsicherheit

Das Wort „prekär“ taucht vermehrt in den Schlagzeilen der deutschen Medien auf und hat sich in unseren Sprachgebrauch geschlichen. Gemeint sei damit der Zwischenraum zwischen unsicherem Wohlstand und drohender Armut, erklärt Christian Schüle in seiner Beitragsreihe „Die neuen Diener“, aus der Sendung Sein und Streit. Darin zeichnet er die Geschichte prekärer Beschäftigung in Deutschland nach. „Prekäre Arbeitsverhältnisse sind hochgradig unsicher, nicht dauerhaft ernährend, psychisch und körperlich zum Teil stark belastend.“

Wachsende Ungleichheit durch Pandemie und Krieg

In Deutschland wächst seit Jahren die Armut. Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben bestehende Ungleichheiten und Unsicherheiten von Arbeitenden eher noch verschärft – das sagt Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Soziologie an der Universität Göttingen. Beispielsweise hätten Arbeitnehmer, die in der Industrie oder in personenbezogenen Dienstleistungen in Präsenz arbeiten, enorme Einkommenseinbußen hinnehmen müssen, weil sie in Kurzarbeit geschickt wurden. Arbeitnehmer, die im Homeoffice arbeiten konnten, bezogen jedoch weiterhin ihre vollen Löhne.

„In dem riesengroßen Niedriglohnsektor, den wir in Deutschland mittlerweile haben, ist das Einkommen ohnehin nicht genug, um die Existenz zu sichern. Ein Kurzarbeitergeld führt dann erst recht dazu, dass man sich nicht mehr absichern kann. Insofern brauchen wir andere Maßnahmen.“

Nicole Mayer-Ahuja, Arbeitssoziologin

Die Kunst, von der Kunst zu leben

Von prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen können auch Menschen in Kreativberufen und der Kunstwelt ein Lied singen. Zwar werden heute so manche Kunstwerke für Millionen Euro versteigert – aber viele Künstler*innen in Deutschland müssen mit Hungerlöhnen über die Runden kommen. Etwa 80 Prozent aller Bildhauer, Malerinnen und Schriftstellerinnen halten sich mit Nebentätigkeiten über Wasser und haben kaum Spielraum, sich finanziell abzusichern.
Fünf Personen sitzen vor Publikum auf einer Bühne.
Prekär zu arbeiten, bedeutet auch prekär zu leben. Darüber diskutierten im Berliner Funkhaus die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi, die Arbeitssoziologin Prof. Dr. Nicole Mayer-Ahuja, die Vorsitzende der Berliner Tafel Sabine Werth und Hauptstadtstudio-Korrespondent Volker Finthammer.© Christian Kruppa
Eine von ihnen ist die Künstlerin Lisa Peters, die am Anfang ihrer Karriere steht. In der Regel hat sie nebenher noch zwei Jobs, in denen sie 20 bis 30 Stunden pro Woche arbeitet. „Dass ich von meiner eigentlichen künstlerischen Praxis leben kann, ist nicht der Fall“, erzählt sie in einem Feature von Egon Koch aus der Sendung Freistil. Sie macht vor allem Videos, Soundinstallationen und Fotos. In vielen kommunalen Galerien und Ausstellungsräumen erfahre künstlerische Arbeit keinen Wert, sondern werde mit einer gewissen Selbstverständlichkeit ausgestellt, so Peters. „Man vergisst oft, was dahinter für Arbeit steht, die nicht entlohnt wird, und was für Materialkosten und Ausfall, wenn ich aufbauen muss“.

Prekäre Arbeit, Prekäres Leben

Prekär zu arbeiten, bedeutet auch prekär zu leben. Menschen, die finanziellem Druck ausgesetzt sind, haben nicht nur mit den steigenden Miet- und Lebensmittelpreisen zu kämpfen.
Oft werden auch andere Lebensbereiche in Mitleidenschaft gezogen, zum Beispiel ihr Liebesleben. „Wir denken immer Arbeit und Leben sind zwei getrennte Bereiche. Das sind sie ganz definitiv nicht“, erklärt die Soziologin Mona Motakef im Deutschlandfunk Kultur. In Paarbeziehungen seien Frauen häufig stärker belastet, zum Beispiel, wenn sie keine Anerkennung für ihre Erwerbsarbeit erfahren, obwohl sie damit die Familie ernähren.

„Je ärmer Sie sind, desto weniger Sport treiben Sie“

Wer ein unsicheres oder niedriges Einkommen hat, kann sich nicht leisten, was für andere „ganz normal“ ist. Das macht die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben schwieriger. Soziale Ungleichheit macht sich, anders als viele glauben, auch im Sport bemerkbar. „Je ärmer sie sind, desto weniger Sport treiben sie“, sagt der Sporthistoriker Diethelm Blecking im Dlf-Sportgespräch.
Der Sport, und besonders der Vereinssport, stellen immer noch eine Schwelle dar. Das gelte gerade für die, die aus vielen Gründen unterprivilegiert seien. Das müsse man als politisches Problem begreifen, so Blecking. „Es würde darum gehen, was das eigentlich bedeutet, wenn Kinder und Jugendliche überhaupt nicht am Sport teilnehmen, wenn Erwachsene sich überhaupt nicht mehr bewegen. Das bedeutet in der Folge enorme physische und psychische Entwicklungsdefizite. Das bedeutet Übergewicht. Und das bedeutet am Ende einer solchen Karriere, dass arme Menschen, dass Frauen vier Jahre und Männer acht Jahre früher sterben als der statistische Durchschnitt.“

#ichbinarmutsbetroffen

„Wir haben vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in unseren 47 Ausgabestellen in Berlin etwa 40.000 Menschen mit Lebensmitteln unterstützt. Jetzt sind es 80.000. Das ist ein gewaltiger Zuwachs. Neben Geflüchteten aus der Ukraine sind das auch reichlich Menschen, die sagen: ‚Nie im Leben habe ich geglaubt, dass ich mal zur Tafel gehen müsste, aber ich habe durch Corona meine Arbeit verloren, ich bin 55 plus, ich finde nichts Anderes mehr, ich kann auch nicht einfach so die Branche wechseln, meine Ersparnisse sind aufgebraucht und jetzt brauche ich Unterstützung‘. Diese Menschen machen sich bemerkbar, weil sie eine ganz andere Stimmung mit reinbringen. Sie sind im Augenblick richtig frustriert vom Leben, weil es eine ganz neue Erfahrung ist.“    

Sabine Werth, Chefin der Berliner Tafel e.V.  

In der Pandemie hat die Armutsquote in Deutschland ein Rekordhoch von 16,6 Prozent erreicht - das sind mehr als 13 Millionen Menschen, die nicht genug Geld zum Leben haben und auf finanzielle Hilfen angewiesen sind. Viele von Ihnen schämen sich und bleiben unsichtbar. Die Initiative #ichbinarmutsbetroffen ändert das gerade – sie gibt ihnen eine Stimme. Seit diesem Frühjahr berichten Twitternutzer*innen unter diesem Hashtag von ihren persönlichen Erfahrungen und räumen mit Vorurteilen und Klischees auf.

„Man ist in diesem Teufelskreis gefangen, dass man selbst glaubt, man verdient keine Hilfe, weil einem ständig suggeriert wird: Es muss reichen. Wir sind ein Sozialstaat, wir kümmern uns. Ihr seid nur zu doof, um damit klar zu kommen. Das sitzt tief. Und ich glaube auch nicht, dass es so leicht ist, aus diesem Gedankengang rauszukommen. Ich spüre das bei mir selbst. Und ich glaube, anderen geht es da sogar noch wesentlich schlimmer“

Anni W., Initiatorin der Bewegung #ichbinarmutsbetroffen

Bürgergeld statt Hartz-IV

Mit dem steigenden Armutsrisiko wächst auch die Anzahl derer, die auf staatliche Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. „Rund ein Drittel aller Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern ist auf Hartz IV angewiesen. Insgesamt können in Deutschland 850.000 Menschen nicht von ihrer Arbeit allein leben“, konstatiert Torsten Lietzmann vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, dem Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit.
Das sei eine Konsequenz eingeschränkter Arbeitszeit, häufig auch eine Folge dessen, dass Beruf und Familie sich nur schwer vereinbaren lassen. Besonders betroffen seien hier Alleinerziehende. Aber auch in Paar-Familien zeige sich, dass diejenigen, die ein Kind oder mehrere Kinder haben eher aufstocken müssen als Paare ohne Kinder.

Was muss geschehen, damit Arbeit zum Leben reicht?  

Das aktuelle Hartz-IV System wird schon lange als unwürdig kritisiert. Zum Beispiel weil der Regelsatz von 449 Euro zu niedrig ist und der Druck auf Arbeitslose sehr hoch ist. Ab 2023 wird das Arbeitslosengeld II durch das sogenannte Bürgergeld ersetzt. Nach langem politischem Streit haben sich die Regierungsparteien, SPD, Grüne und FDP mit der Union auf eine Art Kompromiss-Bürgergeld geeinigt. Kommt damit der versprochene Systemwechsel?
Diese Frage hat sich Birgit Augustin in einer Sendung für den Deutschlandfunk Hintergrund gestellt. Sie kommt zu dem Schluss, dass das deutsche Grundsicherungssystem Defizite hat, die sich durch eine Gesetzesänderung ohnehin nur schwer beseitigen lassen.

„Wir sind heute in einer Situation, in der wir immer noch die Entscheidung treffen, dass Wirtschaftshilfen, Subventionen und Versorgungsaufträge des Bundes alle irgendwie lustig verteilt und privatisiert werden, ohne die verbindliche Vereinbarung von Tarifverträgen. Das ist jetzt aus meiner Sicht das A und O - wir müssen zurückkommen zu einer Gesellschaftsordnung, die darauf basiert, dass wir die Verteilung nicht erst anfangen zu diskutieren, wenn wir die Ungleichheit schon haben, sondern dass wir dafür sorgen, dass durch entsprechende Lohnentwicklung für alle erst gar nicht entsprechende Armut entsteht.“

Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes

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