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Politischer Liberalismus

John Rawls, Professor für Philosophie an der Universität von Harvard, ist vielleicht der bekannteste zeitgenössische politische Philosoph. 1971 wurde er mit seinem ersten umfänglichen Werk "Eine Theorie der Gerechtigkeit" berühmt. Er verteidigte mit diesem Buch das liberale Gesellschaftsmodell der USA vornehmlich gegen die linke Kritik der 68er-Zeit.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 20.07.1998
    Kennedy und Johnson hatten als Präsidenten in den 60er Jahren ein liberales Gesellschaftsmodell entwickelt, das sich beispielsweise in Johnsons Programm einer Great Society auch dem Problem der sozialen Gerechtigkeit stellt. Seither ähneln die Liberalen in den USA in gewisser Hinsicht den Sozialdemokraten im alten Europa.

    Für Rawls ist in "Eine Theorie der Gerechtigkeit" eine politisch soziale Grundordnung normativ dann zu legitimieren, wenn soziale Ungleichheit beziehungsweise unterschiedlich verteilter Reichtum auch den sozial Benachteiligten nützt: Gerechtigkeit versteht Rawls als Fairness, als rechtliche Gleichheit, gleiche Freiheiten, Chancengleichheit. Rawls entwickelte normative Prinzipien, die einer gerechten Gesellschaft zugrunde liegen müssen, indem er primär auf den Rationalismus der Aufklärung zurückgriff, aber sich auch damals modernster Entscheidungs- und Spieltheorien bediente.

    In den achtziger Jahren deutete Rawls dann diese rationale und normative Konzeption in einer Reihe von Aufsätzen um, die in Deutschland Anfang der neunziger Jahre unter dem Titel "Die Idee des politischen Liberalismus" erschienen. Diese allgemeinen prinzipiellen, an Kant und Locke orientierten Legitimationen einer gerechten Gesellschaft erscheinen ihm offenbar nicht mehr überzeugend genug.

    Nun kommt es ihm vor allem darauf an, gemeinsame politisch soziale Grundsätze aus den faktisch vorhandenen, also von den betroffenen Menschen vertretenen Werten, intuitiven Orientierungen und Gewohnheiten zu ermitteln. Was allgemein eine Gesellschaft gerecht und fair werden läßt, entspringt keiner abgehobenen philosophischen Überlegung, sondern wird bereits als Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen gelebt.

    Rawls wendet sich in diesen Konzeptionen der achtziger Jahre damit wieder stärker der US-amerikanischen Verfassungstradition zu, die auf einer strikten Trennung von Staat und Kirche beruht und Toleranz gegenüber weltanschaulichen Vorstellungen fordert. Die USA wurden von den Verfassungsvätern im 18. Jahrhundert gerade nicht mit einer bestimmten religiösen Konzeption als ethische Leitidee gegründet. Vielmehr herrscht seither ein weltanschaulicher Pluralismus, der sich in der Informationsgesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch intensiviert hat.

    Daher haben dann auch religiöse und philosophische Lehren in der Politik eigentlich nichts verloren, bzw. können der Politik natürlich kein allgemeingültiges Fundament verleihen. Eine Theorie der Gerechtigkeit insistierte aber noch zu sehr auf einer rationalen philosophischen Begründung der normativen Grundlagen einer gerechten Gesellschaft.

    Mit seinem zweiten Hauptwerk aus den neunziger Jahren, das jetzt auch auf Deutsch erschien, hat Rawls nun den Versuch unternommen, diese beiden Konzeptionen der siebziger und achtziger Jahre miteinander zu vermitteln. Es geht Rawls darum, wie eine unvermeidbare Pluralität unvereinbarer Weltanschauungen in modernen Gesellschaften zu erhalten ist, ohne daß darüber diese Gesellschaft und ihr politisches Band zerbricht. Wie läßt sich eine gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger dauerhaft stabilisieren, wenn diese Bürger miteinander unvereinbare und leider umfassende religiöse, moralische oder philosophische Lehren vertreten?

    Einerseits faßt Rawls in seinem neuen Buch "Politischer Liberalismus" die Position der achtziger Jahre systematisch zusammen: In einer pluralistischen Gesellschaft kann man sich gemeinsamer politischer Orientierungen nur in Anknüpfung an die vertretenen Weltanschauungen versichern. Aber diese modernen pluralistischen Gesellschaften haben andererseits durchaus die Möglichkeit, sich ihrer normativ ethischen Grundlagen bezüglich gerechter Verhältnisse zu versichern. Insofern kehrt Rawls zu seiner Position in "Eine Theorie der Gerechtigkeit" zurück: Es gibt allgemein begründbare Prinzipien einer gerechten Gesellschaft.

    Aber diese - das ist nun das wirklich Neue des vorliegenden Buches - kann man trotzdem nicht einfach aus bestimmten philosophischen Konzeptionen beispielsweise bei Kant oder Locke ableiten. Statt dessen unterstellt Rawls, daß die Religionen und Weltanschauungen in einer pluralistischen Gesellschaft jeweils einen durchaus rationalen Kern besitzen, der ihre Grundwerte formuliert. Aus diesen verschiedenen rationalen Gehalten religiöser und philosophischer Lehren lassen sich gemeinsame Prinzipien für eine pluralistische demokratische Gesellschaft diagnostizieren. Diesen gemeinsamen Prinzipien gilt es sich zu versichern, will man die normativ ethischen Grundlagen moderner Gesellschaften formulieren.

    Rawls antwortet also in seinem zweiten Hauptwerk auf die Herausforderungen der pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft. Nicht zuletzt die neueste US-amerikanische politische Theorie des Kommunitarismus, die das Individuum wieder der Gesellschaft und dem Staat unterordnen möchte, wirft dem Liberalismus Wertezerfall und die Beförderung des individuellen Egoismus vor.

    Doch eine pluralistische Gesellschaft, das betonen auch postmoderne Theoretiker wie Jean-Francois Lyotard und Gianni Vattimo, verändert zwar die Werthaltungen der Menschen, löst sie aber keineswegs auf. Gerade pluralistische Gesellschaften beruhen auf Gespräch, auf Diskussion, auf Konsens, Kooperation und vor allem auf Toleranz. Dabei können sie, das zeigt auch Rawls' Konzeption des politischen Liberalismus, den Anspruch auf Gerechtigkeit aufrechterhalten, der keineswegs in Beliebigkeiten und Relativitäten untergehen muß.

    Denn Rawls will sich in seinem zweiten Hauptwerk eben nicht mit einem ethischen Relativismus zufrieden geben - ein Vorwurf, der regelmäßig gegenüber ethischen Konzeptionen erhoben wird, die nicht davon ausgehen, daß es ewige höchste und letzte Werte gibt, daß Werte sich vielmehr historisch wandeln und somit zeitabhängig sind. Statt dessen sieht Rawls Chancen eines Konsenses über die normativen Grundlagen einer politischen Gerechtigkeitskonzeption in pluralistischen demokratischen Gesellschaften, ein Konsens, der diese Grundlagen zumindest in der jeweiligen Zeit allgemeingültig macht und sie der bloßen Relativität enthebt, ohne daß man ihre Zeitabhängigkeit vergessen mußte.