Warum wir kooperieren

15.03.2010
Wir Menschen sind im Vergleich zu den Menschenaffen zwar nicht weniger aggressiv, wohl aber deutlich kooperationsbereiter. Der Homo sapiens sapiens ist ungewöhnlich empathisch: fähig, sich in die Gefühle und Lage anderer hineinzudenken und darauf Rücksicht zu nehmen.
So weit, so bekannt. Woher aber kommt die spezifisch menschliche Fähigkeit zur Zusammenarbeit, unsere "Ultrasozialität"? Schließlich muss sich – wenn man der Evolutionstheorie folgt – jedes Merkmal, das eine Art im Laufe ihrer Entwicklung ausbildet, aus dem Überlebens- und Arterhaltungsvorteil erklären lassen, den es dieser Art verschafft. Klassische Darwinisten haben gerne herausgestellt, wie nützlich Kooperation für Kampf und Krieg ist.

Die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy hingegen, die schon mit ihrem letzten großen Buch "Mutter Natur" gegen eine allzu männliche Perspektive auf die Evolution argumentiert hat (männliche Forscher untersuchen männliche Verhaltensweisen in als männerdominiert wahrgenommenen und definierten Gesellschaften), macht auch in ihrem neuen Buch die "weibliche Seite" der Evolution stark. Sie zeigt, dass sich das spezifisch menschliche Einfühlungs- und Kooperationsvermögen besser mit der Tatsache kollektiver Aufzucht erklären lässt.

Zwar kennen auch andere Tierarten Kooperation bei der Betreuung ihres Nachwuchses, Löwen zum Beispiel. Aber Menschen sind die einzigen Primaten, bei denen Babys nicht ausschließlich von der Mutter aufgezogen werden. Während Affenbabys sich ins Fell ihrer Mütter krallen und diesen Schutzraum in den ersten Monaten nicht verlassen, haben menschliche Babys in allen Gesellschaften immer Kontakt zu mehreren Leuten, können von anderen berührt und betreut werden.

Die Bindung menschlicher Mütter an ihre Kinder ist mithin weniger besitzergreifend als bei unseren nahen Artverwandten. Menschliche Mütter sind insgesamt emotional ambivalenter gegenüber ihren Kindern. Zum Beispiel sind sie durchaus in der Lage, sie auszusetzen und zu verlassen, wenn es die Umstände erfordern – was Affenmüttern, die selbst tote Babys noch ein paar Tage lang mit sich tragen, nie in den Sinn käme.

Menschliche Babys sind darum, das zeigt Blaffer Hrdy, auch viel kontaktfreudiger als andere Primaten: Sie müssen sich der Betreuung versichern, um zu überleben. Umgekehrt macht auch erst die Kooperation von Müttern und "Allomüttern" – also Vätern, Großmüttern, älteren Geschwistern, ja dem ganzen Dorf – die kostspielige und langsame Entwicklung von Menschenkindern mit ihren großen, energieintensiven Gehirnen möglich.

Blaffer Hrdys Buch ist, mit all den verarbeiteten Studien aus Anthropologie, Ethnologie, Paläontologie, Evolutionstheorie, Soziobiologie oder Neurowissenschaften, unglaublich breit angelegt und droht manchmal auszuufern. Trotzdem liest es sich fast durchgehend spannend, auch dank der Fülle an anschaulichen Beispielen aus Tierreich und Menschenwelt. Nicht zuletzt macht Blaffer Hrdy klar, wie sehr auch empirische Forschungsergebnisse Gegenstand der Interpretation sind, wie sehr gesellschaftliche Realitäten in wissenschaftliche Fragestellungen eingehen.

Über die Autorin: Sarah Blaffer Hrdy (Jahrgang 1946) ist Evolutionspsychologin, Soziobiologin und Primatenforscherin und eine der derzeit bekanntesten Forscherinnen in diesen Gebieten. Bis 1996 war sie Professorin für Anthropologie an der University of California. Sie hat viel zur Ethnologie, zur Primatologie und insbesondere zum Thema Geschlecht und Reproduktion publiziert. In ihrem einflussreichen Buch "Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution" (1999, dt. 2000) beschäftigte sie sich mit dem sogenannten "Mutterinstinkt" und zeigte, dass dieser nicht schlichtweg angeboren ist, sondern auch von sozialen Faktoren abhängt. In "Mütter und andere" setzt sie ihre Forschungen zur Mutterschaft fort.


Besprochen von von Catherine Newmark

Sarah Blaffer Hrdy: Mütter und andere. Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat
Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt
Berlin Verlag, Berlin 2010
544 Seiten, 28 Euro
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