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Marillion-Gitarrist Steve Rothery
"Wir sind sowohl Überlebende als auch Pioniere"

Weitgehend unbeachtet vom Massenpublikum hat sich die Band Marillion nach ihrer Hit-Phase in den 80er-Jahren zu einer Nischenband entwickelt. Und auch das neue Album "F.E.A.R." hat kaum noch etwas mit dem Neoprog von damals zu tun."Wir werden auf eine sehr seltsame Art ein bisschen hipper als früher", sagte der Band-Gitarrist Steve Rothery im Corso-Gespräch.

Steve Rothery im Corso-Gespräch mit Fabian Elsäßer | 17.09.2016
    Steve Rothery, Gitarrist der Band Marillion.
    Steve Rothery, Gitarrist der Band Marillion. (dpa / Fernando Aceves)
    Fabian Elsäßer: Der Titel des neuen Album ist ziemlich provokativ: "Fuck everyone and run". Was bedeutet er?
    Steve Rothery: Es ist einer der Refrains im Song "New Kings" - er wird nicht sensationslüstern gesungen, sondern soll Trauer und Resignation ausdrücken. Über den Zustand der Welt, über die Haltung der Großkonzerne und Superreichen: Sie beuten die Menschen und unseren Planeten aus, ohne an die Folgen zu denken.
    Elsäßer: Sind Marillion über die Jahre zu einer politischeren Band geworden als in den 80ern oder 90ern? Ich erinnere mich beispielsweise an den Song "Gaza" vom letzten Album.
    Rothery: Ja. "Gaza" war in politischer Hinsicht ein heißes Eisen, obwohl es eigentlich gar nicht so gedacht war. Es sollte ein rein humanistischer Song sein, der den Wahnsinn der Situation aus Sicht der Menschen schildert, die dort leben müssen. Wir haben uns dabei nicht auf eine bestimmte Seite geschlagen. Trotzdem gab es doch einige Kontroversen deswegen. Das neue Album sieht unser Sänger Steve Hogarth als sein Protestalbum. Es gibt darauf diese Songs über den traurigen Zustand der Welt, in mancher Hinsicht sind sie fast schon nostradamushaft. Denn einige Texte sind schon vor drei Jahren entstanden, darunter der Song "The Leavers". Darin geht es eigentlich um das Tour-Leben, doch es kommen dieselben Begriffe vor, die auch beim Brexit benutzt wurden: die "Leavers" und die "Remainers". Es war eine seltsame Vorahnung der Welt, in der wir uns jetzt wiederfinden.
    "Wir sehen uns als Europäer, nicht als Engländer oder Briten"
    Elsäßer: Wo Sie den Brexit eben erwähnt haben - wie dachten Sie darüber?
    Rothery: Ich war untröstlich. Wie jeder vernünftige Mensch im Vereinigten Königreich. Es gab einige Leute, die ein großes Interesse am Brexit hatten, und manche von denen besitzen ein paar der größten Nachrichtensender. Deshalb haben sie eine bestimmte Botschaft vermittelt, Angst geschürt, falsche Versprechungen gemacht. Aber keiner hat damit gerechnet, dass es wirklich soweit kommt. Insofern war dieser Morgen nach dem Referendum ein entsetzlicher Schock. Ich bin sehr traurig, wenn ich an unsere Kinder denke. Sie werden ohne die Dinge zurechtkommen müssen, die wir für selbstverständlich gehalten haben, etwa Teil der EU zu sein. Und für uns als Künstler, als Band, werden Tourneen so viel komplizierter und anstrengender. Wir sehen uns als Europäer, nicht als Engländer oder Briten.
    "Unser Produzent Mike Hunter hat sehr großen Anteil an den Arrangements"
    Elsäßer: Das neue Album setzt sich musikalisch doch etwas von den Vorgängern ab - an die Stelle von epischen Stücken wie "Gaza" oder "The Invisible Man" treten diesmal Suiten, die wiederum aus vier bis fünf verschiedenen Teilen bestehen. War das Absicht?
    Rothery: Wir haben das Album eigentlich nicht so geschrieben. Wir haben die Songs schon erst einmal als Einheit behandelt, dann aber später unterteilt, wenn sich die Einzelteile musikalisch oder inhaltlich zu offensichtlich unterschieden haben. Unser Produzent Mike Hunter hat sehr großen Anteil an den Arrangements, er ist sehr geduldig und musikalisch. Das ist das vierte Album, das wir mit ihm gemacht haben, und unsere Zusammenarbeit wird immer enger. Er lebt seit vielen Jahren neben unserem Studio, fast so wie ein seltsamer Einsiedler. Man kann sich keinen leidenschaftlicheren Produzenten wünschen.
    Elsäßer: Das Album klingt auch anders, finde ich: transparenter, sehr ausgewogen zwischen den einzelnen Instrumenten und mit vielen Stereoeffekten versehen. Die Snare steht in der Mitte, die Hi-Hat kommt immer von links, die Becken sind gleichmäßig im Raum verteilt - das ist sehr ordentlich gemacht.
    Rothery: Es ist wahrscheinlich das bestklingende Album, das wir je aufgenommen haben. Wir nehmen alles in 24Bit/96 kHz auf, das ist die höchste Wiedergabegenauigkeit, die man bei diesen Mengen von aufgenommener Musik und Aufnahmedurchgängen nutzen kann. Und eine große Rolle spielt auch das Real-World-Studio von Peter Gabriel, wo wir einen Teil des Materials aufgenommen haben. Da gibt es eine wundervolle Sammlung an Studioausrüstung, was man sich bei einem Technik-Freak wie Peter Gabriel wahrscheinlich denken kann. Wir haben da zum Beispiel ein altes Mikrofon benutzt, das so um die 8000 bis 9000 Pfund wert ist. Es klingt einfach großartig.
    Crowdfunding-Finanzierung
    Elsäßer: Marillion waren relativ früh unabhängig - die Band gilt als Pionier der fanfinanzierten Produktion, also Crowdfunding. Hat sich das durch die Zusammenarbeit mit einer großen Firma wie Edel geändert und kommen Sie heute mit der Musikindustrie besser aus als vor etwa 20 Jahren?
    Rothery: Seit der Crowdfunding-Finanzierung von "Anoraknophobia" haben wir nur noch nach unseren eigenen Bedingungen gearbeitet. Aber die Branche hat sich auch so stark verändert. Es sind nur noch ganz wenige Plattenfirmen übrig und es gibt kaum Künstler, die genug Platten verkaufen können, um ihre Karriere fortzusetzen. Ich nehme an, wir sind sowohl Überlebende als auch Pioniere. Und wir haben etwas geschaffen, das unverwechselbar ist. Das hat uns immer einen bestimmten Grad an Freiheit gegeben. Aber es bleibt frustrierend. Denn wir wissen, dass wir eine Menge Musik gemacht haben, die viele Menschen lieben würden, wenn sie nur die Gelegenheit hätten, diese Musik zu hören. Das wird wohl immer so bleiben.
    "Auf eine sehr seltsame Art ein bisschen hipper als früher"
    Elsäßer: Marillion war auch immer eine Band, die sich von den Medien missverstanden gefühlt hat - zum Beispiel als "alte Band". Ihr Sänger Steve Hogarth hat mal gesagt: "Wir sind die unhippste Band der Welt". Fühlen Sie sich immer noch so, oder hat sich die öffentliche Wahrnehmung etwas verändert?
    Rothery: Ich glaube, wir werden oft als Classic-Rock-Band gesehen, weil wir uns noch nicht aufgelöst haben oder noch nicht gestorben sind, was man nur über wenige Bands unserer Generation sagen kann. Dafür wird uns von Teilen der Rockpresse so eine Art widerwilliger Respekt zugestanden, den wir früher nicht hatten. Manche Leute kennen einen halt nur wegen der Hits, andere halten uns für eine schottische Heavy-Metal-Band. Oder für eine Prog-Band. Das kann wahlweise als Kompliment oder als Beleidigung gemeint sein. Aber es gibt inzwischen so viele "Prog"-Einflüsse in der zeitgenössischen Musik, dass sie fast schon Mainstream sind. Die frühen Radiohead-Alben, Bands wie Sigur Rós, sogar Muse. Ich glaube, wir waren nie hip und haben uns auch nie drum geschert, aber wir werden gerade auf eine sehr seltsame Art ein bisschen hipper als früher. Ich kann das nicht wirklich erklären, aber es ist gut!
    "Wir sind sehr auf die Gegenwart fokussiert, und das macht uns in dieser Altersklasse schon zu einer Ausnahme"
    Elsäßer: Abgesehen davon konnten Sie mit Hogarth immer neue Songs spielen, und das Publikum hat es nicht gestört, dass Sie keine "Klassiker" gespielt haben.
    Rothery: Ja. Es gab Touren, auf denen wir überhaupt keine alten Sachen gespielt haben.
    Elsäßer: "Kayleigh", der Marillion-Hit schlechthin, ist also kein Fluch?
    Rothery: Nein. Naja, sagen wir mal: ein Segen und ein Fluch.
    Elsäßer: Andererseits treten Sie auch mit einer Band wie Foreigner auf, die für mich nun wirklich eine reine Oldie-Band ist. Wie passt das zusammen?
    Rothery: Erstaunlich gut. Bei den bisherigen Shows mit ihnen sind wir vom Publikum unglaublich gut angenommen worden. Wahrscheinlich besser als bei vielen Bands, für die wir vorher "Special Guest" waren. Foreigner-Fans mögen Rock, aber auch Melodien, sie wollen etwas hören, zu dem sie - ich weiß nicht - irgendwie eine Verbindung herstellen können. Man will natürlich immer vor großem Publikum spielen und hofft dann, dass man ein paar von den Zuschauern auf seine Seite ziehen kann. Und das haben wir bei den letzten Konzerten gespürt, sodass wir vielleicht ein paar neue Fans haben, wenn wir nächstes Jahr wiederkommen. Der Unterschied zwischen solchen Bands und uns ist der: Die spielen die Hits ihrer goldenen Zeit, aber uns geht es immer noch um das, was wir jetzt tun. Wir würdigen unsere Vergangenheit, die aus 18 Alben besteht, aber wir sind sehr auf die Gegenwart fokussiert, und das macht uns in dieser Altersklasse schon zu einer Ausnahme.
    "Freiheit, die Musik zu erschaffen, die man möchte"
    Elsäßer: Eine sehr schlichte Frage zum Schluss: Sind Sie glücklich, mit dem, was Sie als Musiker erreicht haben?
    Rothery: Wie ich schon sagte: Ich wünschte mir, dass mehr Leute von uns gehört hätten. Wenn man zum Beispiel an die Fans von Pink Floyd denkt - viele von denen würden mögen, was wir machen. Das ist diese niemals endende Frustration, wenn man unsere Art von Musik spielt. Aber im Allgemeinen bin ich sehr zufrieden mit meinem Leben - es war doch ziemlich lohnend!
    Elsäßer: Wir müssen also nicht für Sie sammeln.
    Rothery: Nein, nein. Es geht schon. Wir hätten alle mit anderen Sachen sehr viel mehr Geld verdienen können, aber darum ging es nicht. Es geht um die Freiheit, die Musik zu erschaffen, die man möchte. Das ist ein unglaubliches Privileg. Und wer weiß, wie lange wir das noch können, vielleicht nochmal zehn, fünfzehn Jahre. Ich habe immer gesagt, ich möchte gerne 20 Alben aufnehmen, und das hier ist Nummer 18. Wahrscheinlich spielen wir so lange, bis wir umfallen.
    Elsäßer: Vielen Dank für das Gespräch.
    Rothery: My pleasure.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.