Dienstag, 30. April 2024

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Urteil im NSU-Prozess
"Die Wahrheit ist nur zum Teil rausgekommen"

Mit dem Urteil des OLG München geht der mehr als fünf Jahre dauernde Prozess gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) zu Ende. Licht ins Dunkel der NSU-Morde hat das Verfahren nicht gebracht, meinen Beobachter und Opfer-Angehörige.

Von Michael Watzke | 11.07.2018
    Zschäpe steht an ihrem Platz und fährt sich durch die Haare.
    Das Oberlandesgericht München verurteilte Beate Zschäpe zu lebenslanger Haft (dpa/Matthias Schrader)
    "Die Wahrheit muss irgendwie rauskommen - so oder so. In der Türkei und in Deutschland erwarten die türkischen Bürger, dass man diese Mordserie des NSU richtig aufklärt", sagt der türkische Journalist Bayram Aydin vor fünfeinhalb Jahren. Kurz darauf erfährt der Korrespondent der Zeitung "Zaman", dass weder er noch irgendein anderer türkischer Medienvertreter im Sitzungssaal 101 des Oberlandesgerichts München dabei sein soll. Grund: Die Akkreditierungsliste ist innerhalb weniger Minuten voll. Aydin und seine türkischen Kollegen sind zu spät.
    "Ich konnte es erstmal nicht fassen. Nicht verstehen, was das bedeuten sollte. Ob das OLG München sich noch bewegen wird, weiß ich nicht." Das OLG, also das Oberlandesgericht München, bewegt sich nicht. Der NSU-Prozess droht mit einem Skandal zu beginnen. Eine Gruppe deutscher Journalisten, darunter der Deutschlandfunk, bieten den türkischen Kollegen Hilfe an.
    Blamage für das Gericht gleich zum Auftakt
    Uli Bachmeier vom Münchner Verein Landtagspresse: "Wir wollten nach diesem unglücklichen Verlauf des Akkreditierungsverfahrens ein Zeichen setzen. Wir hoffen, dass es klappt. Es machen viele mit, die sagen: 'Selbstverständlich lassen wir zumindest drei türkischen Kollegen den Vortritt in der Warteschlange'."
    Doch dann entscheidet das Bundesverfassungsgericht: Ausländische Journalisten haben ein Anrecht auf eigene, feste Beobachterplätze.
    Eine Blamage für das OLG gleich zum Auftakt, erinnert sich Gerichts-Reporterin Annette Ramelsberger von der "Süddeutschen Zeitung": "Und holprig ging es dann auch weiter. Wir dachten ja alle: So nach zwei, höchstens drei Jahren ist der Prozess zu Ende. Er war es nicht. Das lag nicht so sehr an der schwierigen Prozess-Materie, sondern vielmehr an den Unwägbarkeiten. Allein, dass Beate Zschäpe sich nicht äußern wollte. Dass sie über 200 Prozesstage darauf bestand zu schweigen. Und dann, als sie endlich sprach, sprach sie ja nicht wirklich, sondern sie ließ sich auf ein eigenartiges Katz- und Maus-Spiel mit dem Gericht ein: 'Stellt Ihr Eure Fragen, mein Anwalt schreibt mit. Dann besprechen wir drei Wochen, wie wir darauf antworten. Und dann kriegt Ihr das alles wieder von meinem Anwalt vorgetragen'."
    Chaotische Prozess-Strategie von Beate Zschäpe
    Beate Zschäpes Prozess-Strategie erscheint im Rückblick chaotisch. Sie redete, small-talkte, plauschte während der Verhandlung immer wieder mit Sicherheitskräften, Beamten, anfangs auch mit ihren drei Pflichtverteidigern Sturm, Stahl und Heer.
    Gerichts-Reporterin Annette Ramelsberger: "Und da hat man gemerkt: Das ist keine Strategie, die zu ihrer Persönlichkeit passt. Diese Frau wollte reden. Und dann hat sie geredet. Oder ließ reden. Aber das war so dünn, dass alle tief die Luft eingezogen und sich gefragt haben: Wie will sie denn damit durchkommen? 'Ich war eine kleine, abhängige Frau, ich war verliebt, ich bin aus Liebe in den Untergrund gegangen und konnte mich nicht von meinen Männern trennen.' Da muss man sich wirklich überlegen, ob das wahr sein kann."
    Viele offene Fragen
    Abdulkerim Simsek glaubt nicht, dass das wahr ist. Er ist der Sohn des Nürnberger Blumenhändlers Enver Simsek, des ersten Mord-Opfers des NSU. Als Uwe Mundlos und Uwe Böhnhard im September 2000 Enver Simsek erschießen, ist Abdulkerim 13 Jahre alt. Im Januar 2018 hält der Sohn im Saal 101 ein bewegendes Plädoyer. Abdulkerim Simsek ist mit dem Verlauf des NSU-Prozesses unzufrieden. Zu viele Fragen blieben unbeantwortet – etwa die Rolle der deutschen Geheimdienste und die Frage nach Unterstützern des NSU-Trios.
    "Aufklärung hat das nicht geleistet. Wir hatten am Anfang Riesenhoffnung in diesen Prozess gesteckt. Dass dieser NSU-Komplex quasi komplett aufgelöst wird. Dass Aufklärung betrieben wird. Aber eigentlich das Gegenteil ist passiert. Gegen die fünf Angeklagten wurde ermittelt, aber sobald es dann Richtung Netzwerk oder anderer Mithelfer ging, wurde komplett dichtgemacht", sagt Enver Simsek.
    Vor allem eine Frage hat der Prozess nicht beantwortet: warum ausgerechnet diese Opfer? Warum ein Schnellimbiss-Betreiber in Rostock? Warum ein Obsthändler in Dortmund? Weiß jemand im Bundesamt für Verfassungsschutz die Antwort darauf? Stand sie in Akten, die plötzlich verschwanden oder 'versehentlich' vernichtet wurden? Dass ein V-Mann-Führer wie Andreas Temme, der beim Mord an Halit Yozgat in Kassel anwesend war, "sachlich, nachvollziehbar und plausibel seine Wahrnehmungen am Tatort geschildert" habe - diese Erkenntnis hat das OLG München ziemlich exklusiv.
    Fokus auf Zschäpe verzerrt Bild der NSU-Morde
    Sebastian Scharmer, Anwalt der Nebenklägerin Gamze Kubasik, rechnet damit, dass der Prozess neu aufgerollt wird. "Ich gehe davon aus, dass die Angeklagten, wenn sie verurteilt werden, das Rechtsmittel der Revision einlegen werden. Da werden wir auch in diesem Verfahren tätig werden. Und natürlich werde zumindest ich - das kann ich sagen - weiter für Gamze Kubasik und ihre Familie da sein. Wir werden uns mit dem, was da aufgeklärt wurde - was ja nur ein Teil des Komplexes ist - nicht zufriedengeben."
    Mit Beate Zschäpe waren auch Ralf Wohlleben, Andre Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze angeklagt. Die Medien haben sich auf die Haupt-Angeklagte Zschäpe konzentriert - auch, weil sich ihre Geschichte am einfachsten erzählen lässt. Dieser Fokus verzerrt das Bild des Prozessverlaufs und der NSU-Morde - einerseits. Andererseits hat dieser Fokus dazu beigetragen, dass der NSU-Prozess über fünf lange Jahre nie aus der Öffentlichkeit verschwand. Die deutschen Medien begruben ihn nicht in den Meldungsspalten. Öffentlich-rechtliche Stationen und große Zeitungen wie die "Süddeutsche" blieben dran - an jedem der 437 Prozesstage.
    Gerichts-Reporterin Annette Ramelsberger: "Ich glaube, es ist eine gesellschaftliche Verpflichtung der Medien, gerade bei so einem Prozess dabei zu bleiben und zu berichten. Denn das Thema ist wichtig, auch wenn es nicht einfach ist."
    Das sieht auch Bayram Aydin so, der türkische Journalist, der im Jahr 2013 gehofft hatte. "Die Wahrheit muss irgendwie rauskommen - so oder so." Heute arbeitet Aydin nicht mehr als Journalist. Den NSU-Prozess hat er zuletzt über die Medien verfolgt. Er findet, die Wahrheit ist nur zum Teil rausgekommen.