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Digitale Spaltung

Eine neue Kluft hat sich aufgetan. Zwischen jenen, die sich wie selbstverständlich in den virtuellen Welten des Internets tummeln, und den anderen, die den Sprung auf das digitale Surfbrett verpasst haben. Dazwischen wächst die Gruppe der Halbwissenden. Dem kollektiven Stressempfinden, ausgelöst durchs Internet, widmet sich FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher in seinem neuen Buch.

Von Hubert Maessen | 14.12.2009
    Es gibt eine hübsche Anekdote aus den frühen Jahren des Telefons. Ein wohlhabender Mann hatte einen der allerersten Pariser Telefonanschlüsse und wollte einen Bekannten mit der Errungenschaft überraschen. Er lud ihn zu sich ein und hatte zwecks Vorführung einen Anruf bestellt. Es klingelt, er geht zum Telefon, hebt ab, spricht, legt auf und kommt vor Stolz platzend zum Besucher zurück. Der aber sagt nur: "Das also ist der Fortschritt? Man läutet, und Sie laufen?" Die trockene Bosheit kann man so recht nur würdigen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zu dieser Zeit den Dienstboten geläutet wurde.

    Zu allen Zeiten haben die sozial wirksamen Neuerungen technischer Natur besorgte Debatten über die conditio humana mit sich gebracht. Wenn man sich noch daran erinnert, tut man es amüsiert, eins der besten Beispiele dafür sind die Warnungen vor den Wirkungen der höllischen Geschwindigkeit der Eisenbahn. Bei 30 Stundenkilometern könnten die Menschen bewusstlos oder wahnsinnig werden, das schnelle Vorbeiziehen der Landschaft werde sie in Trance versetzen.

    Das Amüsement über die von der Wirklichkeit düpierten Schwarzseher ist auch eine Form der erleichternden Befreiung: es ist nicht so gekommen, hurra, wir leben noch, und besser denn je. Deutlich ist in der Erleichterung die noch tief darunter lauernde Furcht, das Experiment hätte auch schief gehen können, man habe zwar Glück gehabt, aber eben nur Glück gehabt.

    Die Eisenbahn, das Telefon unserer Tage, das ist das WWW, das World Wide Web, das in den letzten 15 Jahren zusammen mit dem Personalcomputer zur Maschine weltumspannender multimedialer Kommunikation geworden ist. Niemand hat dieses Netz und seine Möglichkeiten geplant, es entsteht, es wächst, es wuchert, und wieder fragt sich der besorgte Skeptiker, was es wohl - by the way - ungeplant und unvorhergesehen mit sich bringt. Kontrollieren wir das Internet oder kontrolliert es mitsamt Google und Konsorten uns?

    Frank Schirrmacher, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, seines Zeichens Feuilletonist, hat das Buch über die subkutanen Wirkungen des Internets geschrieben, über die Ängste, die dieser Moloch machen kann. "Payback" heißt das Werk, ein Wort aus der neuen Warenwelt: Wer sich transparent und abhängig macht, bekommt einen Bonus - ein Danaergeschenk. Vielleicht könnte man auch an "Heimzahlen" denken, denn Schirrmacher will nicht nur warnen, er will auch helfen:

    "Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen."

    So lautet der Untertitel von "Payback".

    Zuerst also die Analyse des Zwangscharakters von Computer und dem Internet darin.

    "Die größte Tugend der Informationsgesellschaft heißt Multitasking. Sie wird von Müttern, Managern, Arbeitern, Akademikern, Schulkindern, Eltern, Großeltern verlangt, und sie ist die nachweislich erste Verhaltensweise, die uns die Computer aufzwangen, nachdem sie selbst gelernt hatten, mehrere Aufgaben gleichzeitig auszuführen. Diese Funktionsweise der Prozessoren wird zur Lebensweise, die unser Hirn und mittlerweile die wirkliche Welt in großem Umfang prägt."

    Dieser Ansatz, dass sich die Maschine dem Menschen überstülpe, ihn zu einer Funktion von sich selber mache und damit deformiere, das ist die Klagemelodie Schirrmachers.

    "Alles spricht dafür, dass Multitasking Körperverletzung ist."

    Und zwar am Hirn. Schirrmacher versammelt viele Meinungen und Forschungsergebnisse, die seine Sorgen belegen sollen, aber sie wirken nicht überzeugend, sondern bloß zweckmäßig zusammengewürfelt, nicht wissenschaftlich, sondern im schlechteren Sinne "feuilletonistisch". Keineswegs zufällig erinnern sie an die ellenlange Debatte in der F.A.Z. über den freien Willen und die neuen gegenläufigen Erkenntnisse von Hirnforschern; es kommt ja auch nicht von Ungefähr, dass sich gerade dieses deutsche Qualitätsblatt um den klugen Kopf kümmert, den es gern hinter sich stecken hat; bei Schirrmacher wirkt das schon leicht obsessiv, man darf aber auch den Eindruck haben, dass hier ein Intellektueller die Mittel des Boulevards seine edle Feder führen lässt, und es ganz folgerichtig mit seinen Internet-Schreckensthesen in die Bild-Zeitung schaffte.

    Nervtötend sind seine Verallgemeinerungen, sein Weg vom Ich zum Wir. Schirrmacher beginnt mit dem Bekenntnis, sein Kopf komme nicht mehr mit, er sei unkonzentriert, vergesslich, sein Hirn gebe jeder Ablenkung nach, er werde aufgefressen. Ohne den leisesten Hauch von Empirie wird aus Schirrmachers Ich das Wir:

    Wir sind online, wir können gar nicht anders, wir denken permanent, wir merken gar nicht, wir sind gezwungen, wir krabbeln im Kreis, wir können nicht aufhören, wir wissen nicht, was eine Nachricht bedeutet - über die Sendezeit hinaus könnten wir, könnte ich diese Aufzählung fortsetzen.

    "Solange sie (die Menschen) sich von den Maschinen treiben lassen, werden sie hoffnungslos unterlegen sein. Wir werden aufgefressen werden von der Angst, etwas zu verpassen, und von dem Zwang, jede Information zu konsumieren. Wir werden das selbständige Denken verlernen, weil wir nicht mehr wissen, was wichtig ist und was nicht. Und wir werden uns in fast allen Bereichen der autoritären Herrschaft der Maschinen unterwerfen."

    Schirrmacher hat den bösen verengten Kassandra-Blick. Gegenbeispiele, andere wissenschaftliche Ergebnisse werden nicht zugelassen, Schirrmacher ist einseitig, ermüdet durch Langeweile. Ausgeblendet bleibt der phantastische Nutzen der neuen Kommunikation, des globalen Zugangs zu Quellen, zu Information, zu Menschen; ausgeblendet bleibt, dass viele Menschen das Internet nicht süchtig zwanghaft, sondern gezielt und vernünftig und produktiv und lustvoll nutzen, und die Probleme Schirrmachers gar nicht haben.

    Der stellt sich nun doch als der Kritiker der Dampflok-Katastrophe heraus, als einer, der seine eigenen Probleme und Ängste zu allgemeinen erklären will; aber er schafft es nicht. Nicht weil man Kassandra nicht liebt, sondern weil das alles so diffus, so wolkig, so gewollt zusammengeklaubt wirkt und so banal. Nicht die Maschine stülpt sich dem Menschen über, nein Schirrmacher selber ist es, der das versucht, und mit den Lesern fängt er an.

    Banal ist auch der zweite Teil seines Buches: die Lösung, die Rettung, wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen werden können. Man glaubt es nicht: Mehr Bildung, damit wir Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können. Wer hätte das gedacht! Und noch einen Rat hat Schirrmacher zur Hand:

    "Legen Sie ein Nickerchen ein", "Tempo drosseln", "Zeitlimits setzen", "auf ein Abschweifen der Gedanken achten", "bewusst bei der Sache bleiben", "eventuell ärztliche Hilfe aufsuchen" und am Ende: "Schalten Sie die Geräte ab."

    Und wir möchten ergänzen: Klappen Sie das Buch zu.

    Frank Schirrmacher: Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. Blessing Verlag, 240 Seiten; 17, 95 Euro, ISBN 978-3-89667-336-7