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Für Börsenwert und Forschungsruhm

Genmanipulierte Sojabohnen, biologische Reinigungsstufen in Kläranlagen, molekularbiologisch erzeugte Arzneimittel, Enzyme in Waschmitteln, probiotische Jogurts sowie im Labor nachgezüchtete menschliche Ersatz-Haut und Ersatz-Knorpel. All das ist Biotechnologie, die Branche, für die kein Attribut zu hochgegriffen scheint. Von der Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts ist die Rede und von der dritten industriellen Revolution. Die Biotechnologie ist dabei in gewisser Weise die Schwester der Informationstechnik. Denn der Umgang mit Information, das Denken in Informationseinheiten prägt beide Branchen. Was dem Informationstechniker die Bits sind, sind dem Biotechniker die Gene. Und beide Sparten zeichnen sich aus durch einen ähnlichen, neuen Unternehmertyp: pragmatisch, aufgeschlossen und an den üblichen Statussymbolen kaum interessiert, sagt der Däne Borge Diderichsen, Vizepräsident der europäischen Biotechnologie-Vereinigung.

Gabor Paal | 03.12.2000
    Borge Diderichsen: Bislang haben sich junge Leute mit Wissenschaft vor allem aus einem Grund beschäftigt: Wissenschaft macht einfach Spaß. Sie waren neugierig, kreativ und sind das natürlich auch weiterhin. Doch jetzt wird die Wissenschaft auch zum Geschäft, und damit wird auch der Spaß zum Geschäft, so entsteht eine neue Verbindung von wissenschaftlicher Neugier und Unternehmergeist.

    Und dabei ist es kein Zufall, dass mit dem Zeitalter der Informations- und Kommunikationstechnik auch das der Biotechnologie anbricht. Denn es besteht auch ein sehr praktischer Zusammenhang.

    Borge Diderichsen: Ohne die heutigen Möglichkeiten der Informationstechnik wäre die Biotechnologie längst nicht dort, wo sie heute ist. Denken Sie an die Unmengen an Daten, die bei der Entschlüsselung des menschlichen Genoms anfallen - ohne hochleistungsfähige Rechner könnte damit niemand was anfangen.

    Einen Unterschied, so Diderichsen, gäbe es allerdings zwischen den Biotechnologiefirmen und den virtuellen Welten der Informationstechniker.

    Borge Diderichsen: Die IT-Branche basiert häufig nur auf Träumen, in der Biotechnologie dagegen ist mehr Substanz dahinter, da geht es um richtige neue Produkte und Prozesse.

    Klingt gut, auch wenn die Börsianer diese Ansicht offenbar nicht teilen. Zwar hatten sich, als vor einigen Monaten der Kurssturz am Neuen Markt begann, die Biotechnologiewerte zunächst noch ganz gut gehalten. Inzwischen sind sie aber ebenso in den Keller gegangen. Dabei geht es der Biotechnologiebranche in Deutschland nicht schlecht. Sie nimmt, gemessen an der Zahl der Unternehmen, inzwischen den ersten Platz in Europa ein. Gut 500 Firmen sind es derzeit und es werden ständig mehr. Zu den Bekannteren gehört zum einen die Heidelberger Firma Lion Bioscience - sie verdient ihr Geld auf dem Gebiet der Bioinformatik und lässt sich gerne als SAP der Biotechnologie titulieren. Lion Bioscience ging im Sommer an die Börse, war 50fach überzeichnet, der Kurs schoss nach oben und ist erst in den letzten Wochen wieder auf Normalmaß geschrumpft. Dann Qiagen aus dem rheinischen Hilden. Dieses Unternehmen hat sich auf Verfahren spezialisiert, mit denen Nukleinsäuren gereinigt und Gensequenzen analysiert werden können. Verfahren, die man zum Beispiel braucht, um genetische Fingerabdrücke zu analysieren und Bill Clinton als den Urheber des Fleckes auf Monica Lewinskys Kleid zu identifizieren. Quiagen hat 1200 Mitarbeiter, sein Börsenwert liegt bei 14 Milliarden Mark. Neben diesen Großen im Geschäft tummeln sich auf dem Markt mehrere hundert Start-up-Unternehmen. Man findet sie konzentriert vor allem in universitätsnahen Technologieparks. Kleine Klitschen, oft nur mit einer Handvoll Mitarbeiter. Und auch in dieser Hinsicht belegt Deutschland einen Spitzenplatz. Die Firmen-Neugründungsrate in der Biotechnologie-Branche ist höher als irgendwo sonst in Europa. Viele von ihnen entwickeln sich prächtig. Ein Beispiel: die Nova Biotech Dr. Fechter Gmbh. Ihr Geschäftsführer ist Bert Kühl.

    Bert Kühl: Also wir sind ein junges Biotech-Unternehmen aus Berlin mit 6 Mitarbeitern, erst drei Jahre alt, und wir stellen Enzyme selber her, die man also zur Analyse von Blutinhaltsstoffen verwenden kann. Oder Enzyme, die man anwenden kann zum Beispiel in der Textil- oder der Lebensmittelindustrie.

    Enzyme - das sind biologische Katalysatoren, die chemische Reaktionen in Gang setzen und für alles mögliche eingesetzt werden können. Das neueste Enzym-Produkt aus dem Hause Dr. Fechter dient zum Beispiel der Bierherstellung. Hier haben sich die Berliner Forscher etwas Besonderes einfallen lassen: Im Ausland, wo es kein Reinheitsgebot gibt, werden Biere längst mit allerlei Enzymen hergestellt. Enyzme zum Beispiel, die dafür sorgen, dass der Schaum stabiler wird oder die verhindern, dass ein Gel, das bei der Bierherstellung anfällt, die Filter verstopft. All diese, zum Teil bis zu 30 Enzyme, verbleiben normalerweise im Bier.

    Bert Kühl: Das geht aber in Deutschland nicht, und wir haben uns also überlegt, wie man das reinheitsgebotskonform in Deutschland machen kann. Und uns ist es gelungen, das Enzym so zu machen, dass das Bier daran vorbeifließt und das Enzym selbst aber nicht im Bier ist, wie es im Ausland der Fall ist.

    Und die Idee, Enzyme herzustellen, hat sich gelohnt.

    Bert Kühl: Uns gibt's seit Dezember 97. Wir sind eine GmbH und wachsen relativ schnell, haben im ersten Jahr 4000 Mark Umsatz gehabt - sehr lustig - und im letzten Jahr sind wir jetzt schon bei 450.000 Mark Umsatz angekommen. Wir finanzieren uns zur Zeit rein aus unseren Umsätzen. Sind zur Zeit eine der wenigen Biotech-Firmen, die nicht im Jahr 5-6 Mio Verlust machen, sondern wir schreiben schwarze Nullen, das ist also ganz angenehm.

    Die meisten kleinen Biotech-Firmen sind zur Zeit noch damit beschäftigt, ihre Anfangsinvestitionen wieder hereinzubekommen. Aber die meisten sehen optimistisch in die Zukunft. Und das ist nicht selbstverständlich: Vor wenigen Jahren noch jammerte die Wirtschaft über ein angeblich schlechtes Innovationsklima in Deutschland. Über Technikfeindlichkeit, fehlendes Wagniskapital, bürokratische Genehmigungsverfahren und Unternehmer, die angeblich in Scharen in die USA auswandern. Diese Klagen sind längst verhallt. Nirgendwo sonst in Europa wird die Biotechnologie so stark gefördert. Unter CDU-Forschungsminister Rüttgers ebenso wie unter seiner SPD-Nachfolgerin Edelgard Bulmahn. Sie war einige der Wenigen im Kabinett, die es geschafft hatten, aus den Einnahmen der UMTS Versteigerungen etwas abzubekommen. Eine halbe Milliarde Mark will sie in die Humangenomforschung investieren. Das Fraunhoferinstitut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe hat kürzlich einmal bilanziert, was die einzelnen Länder der Europäischen Union in den Jahren 1994-98 für Forschungsförderung in der Biotechnologie ausgegeben haben.

    Thomas Reiss: Dabei hat sich gezeigt, dass es drei große Förderländer gibt, nicht überraschend, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, dass aber mit Abstand in Deutschland die meisten Fördergelder für Biotechnologie ausgegeben wurden. Das bedeutet, dass der Boom der Biotechnologie nicht erst in den letzten Jahren begonnen hat, sondern dass die Grundlagen doch auch schon früher mitgelegt wurden.

    Die Biotechnologie-Branche teilt sich in mehrere Sektoren. Es gibt die sogenannte "rote" Biotechnologie - das sind vor allem biotechnologisch hergestellte Arzneimittel. Weltweit werden in der Roten Biotechnologie rund 100 Milliarden Mark Umsatz gemacht. Unter der Bezeichnung "grüne" Biotechnologie wiederum wird alles zusammengefasst, was mit Lebensmitteln zusammenhängt, also auch gentechnisch veränderte Nahrungsmittel. Die grüne Biotechnologie sei zwar vom Umsatz her noch nicht so bedeutend wie die rote, doch was künftige Arbeitsplätze betrifft, sei sie die wichtigere, so Thomas Reiss.

    Thomas Reiss: Interessanterweise ist der wichtigste Bereich für Arbeitsplatzsicherung durch Biotechnologie der Lebensmittelbereich, der Landwirtschaftsbereich, also das, was man als Agrofood-Sektor bezeichnen würde. Das liegt einfach daran, dass das auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ein sehr prominenter Sektor ist, und dass dort sehr viele Tätigkeiten von Biotechnologie abhängen.

    Der Boom der gentechnisch veränderten Nahrungsmittel sei zwar bislang ausgeblieben, räumt Reiss ein, doch er halte dies eher für eine vorübergehende Verzögerung.

    Thomas Reiss: Das beruht natürlich auch auf ein paar Skandalen, die wir hier speziell in Europa hatten, das hat die Verbraucher extrem verunsichert. Und es liegt auch daran, dass bisher vielleicht nicht die Produkte entwickelt wurden, die der Verbraucher als vorteilhaft erkennt. Denn man muss sich schon fragen, was hat der Konsument davon, wenn herbizidresistente Pflanzen angebaut werden, die dann dem Landwirt einen Kostenvorteil bringen, vielleicht auch der Saatgutindustrie? Und da sind doch jetzt auch neue Entwicklungen im Gange, die darauf abzielen, neue Produkte herzustellen, die auch dem Verbraucher erkennbare Vorteile bringen. Das kann eine optimierte Vitaminzusammensetzung sein, das kann eine Verbesserung der Lebensdauer sein, Haltbarkeitsverbesserungen, das kann was weiß ich sein.

    Neben der roten und der grünen Biotechnologie gibt es weitere Sparten. Die Umweltbiotechnologie zum Beispiel. Hier geht es darum, vor allem mit Hilfe von Enzymen Produktionsprozesse ökologisch verträglicher zu gestalten. Beispiel Jeans. Eine echte Blue-Jeans muss schon beim Kauf leicht abgewetzt aussehen, sie muss, wie es heißt, "stone-washed" sein. Um dies zu erreichen, wurden Jeans früher mit Bimsstein in einem aufwändigen Verfahren geschleudert. Aus ökologischer Sicht reiner Frevel. Thomas Schepem, Chemiker an der Uni Hannover.

    Thomas Schepem: Das beste Beispiel ist der Einsatz von Enzymen in Waschmitteln, dadurch kann man die Kochtemperatur herabsetzen und schon bei 60 Grad den selben Effekt haben, wie man es früher bei 90 Grad hatte.

    Enzyme sind Eiweiße, die aus Mikroorganismen gewonnen werden, Bakterien zum Beispiel. In manchen Fällen werden Mikroorganismen aber auch direkt eingesetzt, etwa zur Reinigung von kontaminierten Böden, von Abgasen oder Abwässern. Fast alle modernen Kläranlagen haben heute eine biologische Reinigungsstufe, und immer wieder werden neue Bakterien entdeckt oder gezüchtet, die in der Lage sind, dieses oder jenes Gift abzubauen. Doch dieser Ansatz der Biotechnologie ist inzwischen an seine Grenzen geraten. Es ist einfach zu mühsam, für jeden Schadstoff ein entsprechendes Abbau-Bakterium zu finden. Abgesehen davon war der wirtschaftliche Erfolg solcher Ansätze auch eher bescheiden.

    Thomas Reiss: Das hat vielfältigste Gründe. Einer zum Beispiel, dass in diesem Sektor sehr oft die öffentlichen Hände als Nutzer auftauchen und je nach Finanzlage nicht bereit sind zu investieren in derartige Technik. Ein anderer Faktor ist, dass es sehr schwierig ist, in diesem Sektor, durch eine neue Technologie eine etablierte Technik zu verdrängen.

    Und so hat sich der Schwerpunkt der Umweltbiotechnologie verlagert: Weg vom sogenannten End-of-pipe-Ansatz - bei dem man also versucht, die Schadstoffe aus den Abwässern herauszuholen hin zu Verfahren, bei denen die Schadstoffe gar nicht erst in die Luft, ins Wasser oder in den Boden gelangen, wie eben bei der Lederherstellung oder bei den Jeans.

    Ein weiterer wichtiger Sektor im Bereich der Biotech-Branche sind die sogenannten Plattformtechnologien. Das sind all diejenigen Verfahren und Produkte, die den Biotech-Boom erst möglich gemacht haben. Dazu gehört der gesamte Bereich der Informatik, aber auch Roboter zum Sequenzieren von Erbgut-Abschnitten. Und schließlich Bio-Chips - kleine Plättchen, die in der Lage sind, in Minutenschnelle zu überprüfen, organische Substanz auf bestimmte Gene hin zu untersuchen. Die Plattformtechnologien sind die Stärke der deutschen Biotechnologie-Industrie. Die meisten großen deutschen Biotechnologie-Unternehmen sind auf diesem Sektor aktiv, ob Quiagen in Hilden bei Köln, Lion Bioscience in Heidelberg, oder GPC in Martinsried bei München.

    Diese Unternehmen sind nicht zufällig in diesen Regionen ansässig. Köln, München und das Rhein-Neckar-Dreieck zwischen Ludwigshafen und Heidelberg - das waren vor drei Jahren die Sieger des sogenannten Bioregio-Wettbewerbs. Technologieregionen konnten sich um Fördermittel bewerben und die drei Regionen, die die besten Konzepte zur weiteren Entwicklung ihrer Biotech-Industrie vorweisen konnten, haben Fördergelder in Höhe von je 50 Millionen Mark gewonnen. Hatten vorher die einzelnen Unternehmen und Forschungseinrichtungen oft allein vor sich hin gebrütet, hat man sich nun getroffen, Informationen ausgetauscht, Kommunale Verbände haben Unternehmensgründungsprogramme ins Leben gerufen, es wurden Agenturen gegründet, die gezielt nach Sponsoren und Investoren Ausschau gehalten haben. Thomas Reiss, selbst Biologe, vergleicht den Bioregio-Wettbewerb mit der Wirkungsweise eines Enzyms.

    Thomas Reiss: ....das heißt mit wenig Aufwand viel erreicht. Das war in der Tat so. Die finanziellen Mittel wurden doch sehr stark in den Regionen mobilisiert, private Mittel, es sind da venture-capital-Einrichtungen entstanden, und Strukturen sind entstanden, Kooperationen, das alles hat dazu beigetragen, die tatsächliche Förderung des Wettbewerbs war dazu nicht sehr umfangreich.

    Die regionalen Biotechnologie-Aktivitäten, die sich damals um Fördermittel beworben haben, gaben sich wohlklingende Namen. Die Oberrhein-Region rund um Freiburg hieß von nun an Bio-Valley - eine bewusste Anspielung auf Silicon Valley - und die Bioregion Berlin-Brandenburg nannte sich BioTop.

    Die Deutsche Biotech-Industrie macht inzwischen 1 Milliarde Mark Umsatz im Jahr. Und die Zahl der Beschäftigten steigt auch, wie Wolfgang Michael Catenhusen, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesforschungsministerium, am vergangenen Donnerstag der Öffentlichkeit vorrechnete.

    Wolfgang Michael Catenhusen: Je nach Definition bis zu 40.000 MA. Haben die Hoffnung, dass unter günstigen Bedingungen in 7-10 Jahren sich die Zahl der Jobs im Kernbereich verfünffachen könnte. Bei den Zulieferern könnte sie sich verdoppeln.

    Thomas Reiss vom Fraunhofer-Institut in Karlsruhe dagegen ist nach seinen Untersuchungen skeptischer und misstraut aufgrund der Erfahrungen in der Vergangenheit allzu hohen Erwartungen.

    Thomas Reiss: Sie erinnern sich vielleicht noch an Prognosen so Anfang der 90er Jahre, die von 2 Millionen neuen Arbeitsplätzen in Europa ausgingen. Das ist sicherlich nicht eingetroffen, war weit überzogen. Aber man muss schon sehen, dass in einigen der Biotechnologiefirmen eine Reihe neuer Arbeitsplätze geschaffen wird, wir gehen davon aus, dass sich das momentan für Deutschland in der Größenordnung 20-30.000 neue Arbeitsplätze bewegt, und diese Zahl wird sicherlich zunehmen. Wir erwarten, dass innerhalb der nächsten fünf Jahre ein Zuwachs von 10-25.000 erfolgen kann bei dieser Art von Biotechnologieunternehmen.

    Es wäre allerdings verkehrt, so Reiss, nur die Beschäftigten in den Biotechnologie-Firmen selbst zu zählen. Zu den 20.000 Menschen dort kämen zunächst noch einmal so viele in Hochschulen und Forschungseinrichtungen dazu. Vor allem aber sind von der Biotech-Branche im engeren Sinn noch viele andere Arbeitsplätze abhängig - zum Beispiel in spezialisierten Dienstleistungsunternehmen. Wie der Internet-Firma E-Labs Europe, in der Tatjana Jahn arbeitet.

    Tatjana Jahn: Uns gibt es seit September 1999. E-labs Europe ist eine E-Commerce-Lösung für die Life-science-Industrie. Wir bieten dem Kunden Laborbedarf über einen elektronischen Marktplatz. Das heißt, der Kunde kann bei uns die Geräte, die er jetzt im herkömmlichen Weg einkauft, bei uns über E-Commerce bestellen. Das hat für ihn den Vorteil, dass er in der administrativen Abwicklung Geld spart. Er kann die Produkte einfacher finden als durch die herkömmliche Katalogsuche und er kann dann eben den ganzen Bestellprozess elektronisch abwickeln inklusive Rechnungstellung. E-labs-Europe ist derzeit in vier Büros in Europa vertreten, in München, Paris, London und Utrecht, und wir haben 85 Mitarbeiter.

    Nimmt man schließlich noch die ganzen Beschäftigten in den traditionellen Chemie- und Pharmaunternehmen hinzu, die immer mehr von Biotechnik abhängt, dann liegt das derzeitige Arbeitskräftepotential der Biotechnologie bereits bei 200.000 Menschen, sagt Reiss.

    Thomas Reiss: Das bedeutet natürlich nicht, dass es sich hier um neue Arbeitsplätze handelt, sondern eher umgekehrt, wenn Industrien Biotechnologie nicht nutzen, dann wären Arbeitsplätze in diesem Umfang über kurz oder lang eher gefährdet. Das muss man sich so vorstellen. Biotechnologie entwickelt neue Verfahren, neues Wissen, was nicht nur in diesen Biotechnologie-Unternehmen genutzt wird, sondern auch in der pharmazeutischen Industrie, in der chemischen Industrie, ja sogar in der Elektronikindustrie mitgenutzt werden kann, um dort Produkte herzustellen, neue Verfahren zu entwickeln und viele Experten gehen davon aus, dass dieses biotechnologische Know-How entscheidend sein wird für die Wettbewerbsfähigkeit in diesen Sektoren. Das heißt Biotechnologie trägt hier zur Sicherung von Arbeitsplätzen bei und zur Sicherung der künftigen Wettbewerbsfähigkeit. Wir gehen auch davon aus, dass sich dieser Effekt deutlich erhöhen wird und schätzen, dass in den kommenden Jahren Arbeitsplätze in der Größenordnung 500-600.000 auf diese Weise von Biotechnologie abhängen werden.

    Zur Zeit ist der Biotechnologie-Markt noch dabei, sich zu sortieren. Viele kleine Start-up-Unternehmen beherrschen das Bild. Auf der anderen Seite haben sich im Zuge der globalen Biotech-Revolution bereits einige Riesen wie Höchst und Rhone-Poulenc zu Giganten - in dem Fall Aventis - zusammengeschlossen. Werden also die vielen kleinen Biotech-Firmen irgendwann von den großen Konzernen an den Rand gedrängt oder geschluckt? Thomas Reiss vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung glaubt das nicht.

    Thomas Reiss: Ich denke, es wird schon eine gewisse Konsolidierung stattfinden, aber ich sehe nicht, dass wir einige wenige Biotechnologie-Konzerne haben werden, sondern in der Biotechnologie ist es doch immer noch entscheidend, dass flexible, eher kleine Teams vorhanden sind, die auch neue Ansätze schnell aufgreifen können. Man kennt da auch entsprechende Erfahrungen aus der Vergangenheit. Eine der Strategien von internationalen Pharmaunternehmen war es, auch kleinen Biotechnologieunternehmen, Start-up-Unternehmen aufzukaufen und in den Konzern zu integrieren. Und in den meisten Fällen hat man damit eben keine guten Erfahrungen gemacht, weil eben die Vorteile, die ein kleines Unternehmen hat, nämlich Flexibilität, Kreativität, auch unkonventionelles Vorgehen, dass die sehr schnell verblassen, wenn sie eben in einer etablierteren Struktur, wie sie in einem multinationalen Unternehmen vorliegt, integriert sein muss. Das heißt, ich denke schon, dass so ein breites Spektrum an kleinen und mittelgroßen Biotechnologieunternehmen auch künftig vorhanden sein wird, ich denke aber nicht, dass der Neugründungsboom, den wir in den letzten zwei, drei Jahren hatten, dass der sich in der gleichen Intensität fortsetzen wird, das wird sicher zurückgehen.

    An Großbritannien vorbeigezogen, jetzt an der Spitze Europas. Die deutsche Biotechnologie-Branche könnte also jubeln. Doch letztlich ist sie auch nur ein großer Fisch im kleinen Teich. Von den Zahlen in den USA ist auch Deutschland noch weit entfernt. Ein paar Vergleichswerte: Patentanmeldungen für biotechnologisch hergestellte Arzneimittel: Deutschland 176, USA 660. Jahresumsätze 1999: Deutschland eine halbe Milliarde, USA 40 Milliarden Mark. Diese Kluft wird sich in absehbarer Zeit auch nicht schließen, zumal in ethisch sensiblen Feldern wie der Fortpflanzungsmedizin, der Genomdiagnostik oder auch der Embryonenforschung die USA weniger zögerlich sind als die europäischen Länder - mit Ausnahme vielleicht Großbritanniens. Die europäische Zurückhaltung in diesen Fragen mag aus ethischen und sozialen Gründen geboten sein. Der biotechnologische Fortschritt in Europa wird dadurch in manchen Bereichen gebremst. Aber auch in Europa und in Deutschland hat die Politik längst erkannt, dass die Entwicklungen in der Biotechnologie zu einem Nachdenken über traditionelle Wertvorstellungen zwingen. Allerdings: die generell prosperierende Entwicklung dieser Branche zeigt auch, dass sich Europa dieses Nachdenken über manche kritischen Einsatzfelder der Biotechnologie durchaus leisten kann.