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Sprache als Urkraft des Theaters

Valère Novarinas neues Stück verhäckselt das verbrauchte Sinn- und Sprachmaterial aus verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Breichen zu einem komischen Sprachbrei voller bizarrer Wortschöpfungen.

Von Eberhard Spreng | 06.01.2011
    Knallrot gekleidete Gestalten haben sich Platten umgehängt, aus deren Aussparungen ihre Oberkörper herausragen. So sehen sie aus wie die Sprecher und Ansager auf Bildschirmen. Sie sind Teil einer nimmermüden Medien und Verlautbarungsmaschine: Da ist zum Beispiel die Agence Léthale mit der Botschaft, dass eines der ungeschriebenen Rechte des Menschen ist, dass der Mensch das Recht hat, sich ein Menschenrecht zu geben und dieses jederzeit zu ändern.

    Valère Novarinas neues Stück verhäckselt das verbrauchte Sinn- und Sprachmaterial aus verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Breichen zu einem komischen Sprachbrei voller bizarrer Wortschöpfungen. Hier sind Logoklasten am Werke - ein Zwitter aus Ikonoklasten Valère Novarinas neues Stück "Le Vrai Sang" verhäckselt das verbrauchte Sinn- und Sprachmaterial aus verschiedensten gesellschaftlichen und politischen Breichen zu einem komischen Sprachbrei voller bizarrer Wortschöpfungen. mmer wieder lacht das Premierenublikum auf in der Flut der komischen Findungen.

    Valère Novarina, der immer schon die Sprache in den Mittelpunkt seiner Bühnenarbeit gestellt hat, sie nicht als einfaches Medium der Vermittlung, sondern als die eigentliche Urkraft des Theaters versteht, will auf seiner Bühne keine Figuren mit Biografie und Psychologie auftreten lassen, sondern ephemere Wesen, die "Hans Vielkörper" oder "Täuscher der Dinge" oder der "Trotzdem Lebende" heißen. Nur wenige, "Die Frau im Ungleichgewicht" und der "Mann, der außer sich ist", werden in den zweieinhalb Stunden philosophischen Welttheaters wiederholt auftreten.

    Aber auch sie sind letztlich Allegorien, auf eine einzige Pose reduziert, und damit den Randfiguren in Menschheitsgemälden vergangener Jahrhunderte vergleichbar. In sketschartigen Szenen skizzieren sie ihre dadaistischen Dialoge, ihre melancholische Weltanschauungen: Gott ist Autophag, also Selbstverzehrer; erst schuf er den Wein und dann trinkt er ihn selbst, klagen sie hinter einer aus einer simplem Holzbrett bestehenden Tafel. Ein Abendmahl kommt so natürlich nicht zustande.

    Valère Novarinas "Le Vrai Sang" - "Das wahre Blut" ist voller biblischer Anspielungen und benutzt deren Material für eine eigene theatralische Kosmogenese: Und auch für diese gilt: Am Anfang war das Wort. Nur die Wortwerdung des Geschriebenen stiftet Leben, Figur, Erscheinung.

    Eingeflochten in die Abfolge von Sketchen sind kurze Auftritte einer Faustfigur, ein furioser Tenor, der Gretchen erst verehrt, dann mordet und schließlich in Trauer über ihren Tod verfällt. Das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bleibt in diesem Stück die große offene Frage und Quelle einer immer größer werdenden Melancholie: Der Mensch ist zwar anders als das Tier für die Sprache begabt, aber sie hilft ihm hier nicht mehr weiter und führt in Paradoxien. "Ich erkläre dir heute Dinge, die ich nicht verstehe", sagt die "Frau im Ungleichgewicht".

    Der Mensch bleibt ratlos und fremd in einer Welt, in die er nicht hineingeboren, sondern hineingegeben wird, wie es am Ende eine so genannte Anti-Person sagt. "Mütter aller Länder, vereinigt Euch, um uns nicht zu machen", lautete zuvor ein noch mit Humor aufgenommener Slogan. Am Ende eines dann doch etwas lang gewordenen Abends dreht Novarina, der sich vor jeder klaren Botschaft sorgfältig hütet, Pirouetten im Sprach- und Deutungsgewirr. Er scheint zu spüren, dass letzte Antworten dann doch außerhalb der Sprache liegen und also außerhalb seines Einflussbereichs.

    Sein Schauspielensemble, allen voran Norah Krief und Julie Kpéré verkörpern brillant die grellen, immerfort kurz aufflackernden und wieder verschwindenden Figuren, die abstrakten Bedeutungsträgern ähnlicher sind als lebendigen Menschen. Akkordeon und Violine begleiten ihre Sprechchöre, Klagelieder, Bänkelgesänge.

    Im Hintergrund türmt sich, auf der Spitze stehend, ein ziemlich wildes halbabstraktes Gemälde des Gesamtkünstlers Novarina auf, der immer schon Autor, Maler und Regisseur in Personalunion war. Diesmal ist ein riesiger bedrohlicher Baum zu erkennen, zwei kleine Menschengestalten lassen sich ahnen. Apokalypse und Paradies gleichzeitig. "Le Vrai Sang" ist ein Abend mit lauter offenen Fragen, noch Theater und fast schon Ritual, wie es nur bei Valère Novarina zu erleben ist, der deshalb eine Sonderrolle im französischen Theater einnimmt.