Die Kunst des Sockels

Von Siegfried Forster · 15.11.2005
Auguste Rodin hat nicht nur bedeutsame Skulpturen geschaffen. Auch der Sockel, auf dem seine Werke Fuß fassten, wurde von ihm speziell gestaltet und angelegt. Dass diese Basisbetrachtung viele Nachahmer in der Kunst fand, zeigt jetzt eine Ausstellung in Paris.
Bewegung und Licht sorgten bei Meister Rodins Skulpturen stets für ein Gedicht. Doch in den lichtdurchfluteten Räumen der neu renovierten Pariser Rodin-Kapelle geht es diesmal um scheinbar bodenständigere Dinge: den Sockel - ein neuartiger Blick auf Rodins Verbindung zwischen Skulptur und Erde. Auf ein Podest gestellt, verschafft uns der Blick auf den Sockel Aufsehen erregend neue Eindrücke seiner Skulpturen, verspricht Kuratorin Antoinette Le Normand-Romain:

"Was uns sehr überraschte war, dass er manchmal eine große Skulptur auf einen kleinen Sockel stellte und eine kleine Skulptur auf einen großen Sockel. Die Werke sind teilweise vollkommen vom Zentrum entfernt fixiert, auf nur eine Seite bezogen, man spürt bei ihm, dass er seine Sockel mit einer extremen Freiheit benutzte."

Nach der berühmten "Alma"-Ausstellung - parallel zur Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 - begann Rodin seine Werke zusammen mit dem Sockel zu verkaufen. Er verkündete keine Sockel-Theorie, doch jeder Sockel trägt eine Botschaft. In der jetzigen Ausstellung prangt sein Monumentalwerk "Die Bürger von Calais" auf einem Sockelgerüst aus Kiefernholz - in luftigen vier Metern Höhe.

Das Unglaubliche daran: So hatte Auguste Rodin sein Werk von Anfang geplant, doch seine Auftraggeber sträubten sich 1913, die neue Kunst nicht nur im bildlichen, sondern auch bildhauerischen Sinn auf ein neues Fundament zu stellen:

"Rodin hatte zwei Ideen: Entweder die "Bürger von Calais" auf Bodenhöhe zu lassen, damit sie sich mit der Menschenmenge der zeitgenössischen Bürger vermischen - oder aber in luftiger Höhe auszustellen, für einen heroischen Anblick. Die Stadt Calais hat beide Vorschläge abgelehnt. Der Dichter Rilke, bekanntlich kurze Zeit der Privatsekretär Rodins, schrieb damals: Die Stadt Calais lehnte ab, weil sich so etwas einfach nicht gehörte, ein Denkmal ebenerdig oder gar in luftiger Höhe auszustellen. Letztlich hat die Stadt Calais deshalb einen mittleren Sockel gewählt, der in gewisser Hinsicht nichts zur Bedeutung des Werks beiträgt, obwohl Rodin genau das gewollt hätte."

Kurzum: Wenn die alte Kunst vom Sockel gestürzt wird, dann erlebt auch der dazugehörende Sockel eine tiefgehende Wandlung. Beim berühmten "Hahn" von Brancusi steigt der Sockel zu einem gleichwertigen Bestandteil bzw. wesentlichen Gegenspieler der Gesamtskulptur auf. Dabei definiert sich Brancusi als Anti-Rodin - mit Betonung auf Rodin, wie bei Brancusis revolutionären Sockel-Skulpturen deutlich spürbar bleibt.

"Brancusi hat bekanntlich einige Wochen im Atelier von Rodin verbracht, bevor er dieses mit den Worten verließ: "Im Schatten großer Bäume wächst nichts." Doch wenn wir Brancusis Werk ansehen, dann merken wir, dass er viel mit Hilfe von Rodins Werk nachgedacht hat. Für mich ist offensichtlich, dass Brancusis Arbeit im Hinblick auf den Sockel - insbesondere die enge Verbindung zwischen Sockel und Werk - dass das natürlich ein Echo auf das Werk von Rodin ist."

Ein Merkmal ist dabei die vertikale Ausrichtung der Sockel, die auch Alberto Giacometti fortführt. Bei seinem bronzenen "Menschen-Wald" lässt er die grazilen Figuren regelrecht in den Horizont hinein versinken. Bereits 1933 dreht er bei seinem Werk "Table" das Werteverhältnis zwischen Skulptur und Sockel radikal um: der banale "Tisch" als tragendes Hauptwerk.

Bei der Amerikanerin Louise Bourgeois streckt im Jahr 2001 ein Arm an beiden Seiten jeweils eine Hand aus. Der Teil wird zum Ganzen, gestärkt und gestützt auf einen Sockel aus Kontrasten: Zart-rosafarbener Marmor ruht auf einem massiven Stück Holz. Sockel als Autonomie-Geber. Didier Vermeiren schließlich verhilft dem Sockel wieder zu neuem Prestige.

"Die Künstler des 20. Jahrhunderts hatten den Sockel mehr oder weniger abgeschafft - auch wenn diese Abwesenheit des Sockels dessen Bedeutung nur unterstreicht. Sie bevorzugen einen direkten Kontakt zwischen Kunstwerk und Boden. Didier Vermeiren geht genau den umgekehrten Weg. Er schafft das Werk ab und erhebt den Sockel zum Werk."

Welch Metapher für unsere nach einem gemeinsamen Fundament suchende Gegenwart. Auch wenn viele Kunstbewegungen und Künstler im 20. Jahrhundert sich dem Sockel verweigerten - vom Minimalismus bis zur Arte Povera - oder ihn spielerisch verwandelten - von Raymond Hains bis Bertrand Lavier - mehr oder weniger blieben alle der Sensibilität eines Rodins treu, kommentiert Antoinette Le Normand-Romain:

"… Der Sockel symbolisiert vielleicht ein Stück übrig gebliebene Tradition. Der Sockel gilt oftmals als etwas Geschwätziges, Demonstratives, was überflüssige Informationen beinhaltet. Davon möchte man sich befreien. Ich denke, das macht noch einmal die Schlüsselrolle Rodins deutlich. Denn Rodin hatte das bereits begriffen. Natürlich hatte er noch den Sockel beibehalten, aber er wollte Sockel, die nichts Zusätzliches hinzufügen. Bei ihm sollte der Sockel dem Werk mehr Kraft verleihen. Und damit den Gedanken, den Träumen erlauben, sich weiter entfalten zu können."