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"Der Engel des Patriarchen"
Voodoo und Wirklichkeit

Ein Voodoo-Thriller ohne Klischees, dafür mit vielen Erkenntnissen über die kreolische Kultur: Der Haitianerin Kettly Mars gelingt mit ihrer Geschichte über eine Familie im Bann eines bösen Engels eine spirituelle Familienchronik und ein hintergründiges Gesellschaftsporträt ihrer Heimat.

Von Cornelius Wüllenkemper | 25.10.2019
Die haitianische Schriftstellerin Kettly Mars
Die haitianische Schriftstellerin Kettly Mars (Philippe Bernard)
Es beginnt mit einem Gemälde, das sich an der Wand wie von Geisterhand verschiebt. Ein fremder, rußiger Geruch liegt plötzlich in der Luft. Wenngleich Emmanuela spürt, dass die Welt um sie herum fast unmerklich ins Wanken gerät, will sie doch nichts wissen vom Glauben an Magie und Metaphysik. Als Direktorin einer Bankfiliale in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince hält sie sich an Zahlen und an rationale Logik. In ihrem Roman "Der Engel des Patriarchen" folgt Kettly Mars ihrer Protagonistin bei der zögerlichen Entdeckung der eigenen Spiritualität. Sie wird Emmanuela auf den Grund eines Familiengeheimnisses und näher zur eigenen Identität führen. Kettly Mars hat sich mit ihrem ersten Voodoo-Roman über eine Familie im Bann eines bösen Engels auf neues literarisches Terrain gewagt und sich zugleich auf die Spuren ihrer eigenen Identität begeben.
Eine spirituelle Familienchronik
"Die Geschichte meines neuen Romans geht mich persönlich an und basiert auf Erlebnissen in meiner eigenen Familie. Viele meiner Figuren existieren wirklich, etwa die alte Dame namens Couz, bei der alle Fäden der Geschichte zusammenlaufen. Eine meiner Cousinen rief mich eines Tages zu sich, um mir ein lange gehütetes Familiengeheimnis über einen Pakt zu erzählen, den mein Ur-Großvater geschlossen haben soll. Ich wusste, dass diese Cousine, der ich sehr nahe stehe, eine Voodoo-Priesterin ist, und deswegen habe ich mich zunächst schwer getan, diese Geschichte und ihren Einfluss auf unser Leben heute für voll zu nehmen. Aber in Haiti gibt es ein Sprichwort: ‚Die Ohren sollten nicht langsamer sein als der Kopf’, das bedeutet: Höre erst einmal zu, wenn man dir etwas erzählt."
Und genau das hat Kettly Mars getan und so den Grundstein zu ihrem Roman gelegt. "Der Engel des Patriarchen" ist eine spirituelle Familienchronik über drei Generationen. Ihren Anfang nimmt sie mit einem faustischen Pakt, den der Großvater der Protagonistin Emmanuela einst einging, ein Mann von Geld, Ansehen und politischer Macht. Sein Enkel Jacques wurde damals Zeuge, wie auf dem herrschaftlichen Anwesen der Zuckerrohrfabrik der diabolische Vertrag geschlossen wurde.
Bankrotte, Feinde, Wahlen
"Man wollte dem Marquis, der ungeduldig wurde, ein Lamm opfern. Wann? fragte der Notar Orlando. Spätestens morgen! antwortete energisch der eine der Fremden mit den dicken zerzausten Brauen und dem markigen Blick. Es eilt. Wir haben schon zu lange gezaudert! Pst! Leiser! Man kann uns hören! sagte der andere Fremde, der kränklich wirkte und seine vorstehenden Augen nach rechts und links verdrehte. Jacques machte sich hinter dem Zuckerkessel noch kleiner. Das Kind hörte Worte wie Bankrott… Feinde… Wahlen.
Er konnte die Eile und Aufregung spüren, die diese Männer in greifbarer Spannung hielten. Und plötzlich, er riss die Augen auf, hörte er seinen Namen. Doktor Séphasse bat seinen Großvater, das Lamm beim Namen zu nennen. Es entstand eine lange Stille. Drei Fliegen schwirrten um den Hut von Notar Orlando, die er mit irritierter Hand verjagte. Darauf ließ der alte gebeugte Mann krächzend hören: Jacquot! Sehr gut! stimmte der Mann mit den zerzausten Augenbrauen zu, der Marquis wird zufrieden sein."
Ein Thriller im Stil des magischen Realismus
Marquis von Truitier, das ist das Pseudonym des Voodoo-Engels Yvo, der dem Großvater Reichtum und politischen Erfolg sicherte, doch die versprochene Gegenleistung, ein Blutopfer aus der Familie, den kleinen Enkel Jacques, nie erhielt. Fünfundsechzig Jahr später holt dieser Fluch die Familie ein. Kettly Mars strickt aus der Unbeherrschbarkeit des Unbewussten, den Gesetzen des magischen Realismus und dem abgründigen Schicksal einer Familie einen veritablen Thriller. Stück für Stück erkennt ihre Protagonistin Emmanuela, wie mysteriöse Todesfälle, plötzliche Krankheiten, seelische Zerrüttung, inzestuöse Dramen und gespenstische Vorkommnisse seit Generationen auf der Familie lasten, ob in Haiti, den USA oder in Frankreich. Das Schreiben ihres autobiographisch inspirierten Romans habe sie als Befreiung empfunden, erzählt Kettly Mars.
"Irgendwann hatte ich das Bedürfnis, die Rolle des Voodoo in meinem Leben zu verstehen und habe den Ort besucht, an dem meine Vorfahren Zeremonien abgehalten haben. Dieser Schritt war eine enorme Erleichterung, er hat mich meiner Herkunft und meiner Identität sehr viel näher gebracht. Für mich geht es beim Voodoo vor allem um die Spiritualität der Familie, es ist ein Familienkult. Auch mein Roman handelt davon, welchen Einfluss das Spirituelle auf Emmanuelas Familiengeschichte hat. Zugleich ist der Voodoo eine Lebenseinstellung, eine Philosophie, die die Harmonie mit der Natur sucht. In meinem Roman setzt der Patriarch der Familie diese Kräfte allerdings nur zu seinem eigenen Vorteil ein. Und das führt, so wie in allen Bereichen des Lebens, zu einem bösen Ende."
Buchcover: Kettly Mars: „Engel des Patriarchen“
Ihrem ersten Voodoo-Roman hat sich Kettly Mars auf neues literarisches Terrain gewagt und sich zugleich auf die Spuren ihrer eigenen Identität begeben. (Litradukt Verlag)
Voodoo als magisch-sinnliche Feier
Das widersprüchliche Verhältnis vieler Haitianer zur kreolischen Spiritualität zeigt Mars in ihrem Roman an drei Frauenfiguren. Couz, die alternde Cousine, kämpft in ihrem Haus in einem verborgenen Zeremonienraum aktiv gegen den Fluch auf der Familie. Die Hauptfigur Emmanuela dagegen lässt die spirituelle Seite ihres Lebens nur widerstrebend zu und versteht den Voodoo vor allem als Weg zur eigenen Identitätsfindung. Ihre Freundin Patricia wiederum nutzt den Kult als berauschendes Mittel, den Schwierigkeiten des Lebens entgegenzutreten, seine Sinnlichkeit und Magie zu feiern.
Jede der zahlreichen Figuren dieses Romans - es sind nicht weniger als 25! – erzählt dabei einen Aspekt der haitianischen Realität. Emmanuelas Nichten in Chicago etwa sind zwar vollkommen amerikanisiert, spüren aber dennoch den magischen Einfluss ihrer Heimat. Emmanuelas Sohn Alain rebelliert mangels Lebensperspektiven in Haiti gegen die Welt und gegen die Familie. Emmanuelas Geliebter, Serge, ein prototypischer, halbseidener Opportunist, tut alles, um den eigenen Vorteil und vor allem seine Kontrolle über Frauen zu sichern.
Die junge Generation!
"Erst mit etwas Abstand, nach dem Schreiben, habe ich bemerkt, dass diese Familiengeschichte zugleich ein Portrait unserer Gesellschaft ist. Wir leben in einem Land, das seit seiner Unabhängigkeit 1804 schlecht regiert wird. Wir werden schlecht beraten, treffen falsche Entscheidungen. Wir kümmern uns zu wenig um unsere Familien und denken zuerst an unser eigenes Wohl. Und wer bezahlt dafür? Die junge Generation! In meinem Roman ging der Ur-Großvater einen Pakt mit dem Bösen ein, und es sind seine Nachfahren, die jetzt dafür bezahlen. Und in der Realität verlassen die jungen Leute heute in Scharen unser Land, weil sie keine Perspektive sehen. Ich will Haiti dabei keineswegs als verfluchtes Land darstellen. Es handelt sich eher um den Fluch einer schlechten Führung!"
Die feinen Schnüre, auf denen Kettly Mars ihre Figuren zwischen sozialer Realität und magischer Spiritualität tanzen lässt, laufen unaufhaltsam zu einem finalen, gordischen Knoten zusammen. In ihrem magischen Thriller über die haitianische Wirklichkeit erzählt sie von der ebenso widersprüchlichen wie faszinierend schillernden Seele ihrer Heimat.
Kettly Mars: "Der Engel des Patriarchen"
aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte
Litradukt Verlag, Trier. 256 Seiten, 15 Euro.