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Ein Roman über Verluste

Mal ist Arno Orzessek Roman "Schattauers Tochter" eine Familiensaga, mal ein Bildungsroman und dann wieder eine Liebesgeschichte mit einem gewissen Hang zu erotischen Details. Dabei stehen Verluste im Mittelpunkt der Geschichte: von Verlusten der Heimat, der Unschuld und des Glaubens, die schließlich zu Identitätsverlusten und letztendlich sogar zum Verlust des Lebens führen. Selten hat man bei einem Debütanten so plastische Charaktere erleben können.

Von Ralph Gerstenberg | 31.05.2005
    "Ich hatte eine Amerikareise hinter mir, ich hatte einen Jetlag. Ich konnte nachts sehr gut schreiben. Ich hatte eine wunderbare Fahrt durch sieben Staaten dort gemacht und habe gesagt: Jetzt brauche ich ein Projekt, das so groß ist wie Amerika oder noch größer. Und dieses Projekt heißt: Ich schreibe den Roman jetzt zu Ende und zwar ohne Rücksicht auf Verluste. Das heißt, der Gerichtsvollzieher stand vor der Tür, ich hab keine Post mehr geöffnet. Ich hatte also diese üblichen Härten, die ein bestimmtes Klischee sicherlich erfüllen, aber es ist tatsächlich so gewesen."

    Ganz so groß wie Amerika ist Arno Orzesseks erster Roman "Schattauers Tochter" nicht geworden, aber immerhin 650 Seiten stark. Insgesamt sieben Jahre hat Orzessek daran mit Unterbrechungen gearbeitet, zirka 7000 Arbeitsstunden. Immer wieder stellte er um, probierte er aus. Er veränderte Erzählperspektiven, suchte nach einem geeigneten Stil und einem tragfähigen Konstruktionsprinzip. Und nebenbei musste noch der Lebensunterhalt mit journalistischem Tagwerk finanziert werden. Viele Schauplätze seines Romans - die Masuren, Osnabrück, Köln - verweisen auf biografische Hintergründe, die man der Vita des Klappentextes entnehmen kann. Orzessek wuchs in Osnabrück auf, studierte in Köln Literaturwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte und lebt als freier Autor und Journalist in Berlin. Seine Vorfahren stammen aus Polen – das vermutet man zumindest beim Klang seines Familiennamens. Doch als autobiografische Bekenntnisprosa will Orzessek sein Buch nicht verstanden wissen.

    "Das wollte ich vermeiden. Ich glaube, ich habe keine gute Beziehung dazu, ein Credo abzulegen in der Prosa, die ich schreibe, wohl aber möchte ich Konstellationen bearbeiten, die mir vertraut sind. (…) Weshalb es also sicherlich so ist, dass es in diesem Buch mancherlei biografische Züge und Bezüge gibt, die aber aufgeteilt sind auf viele Figuren. Und zum Beispiel Marie Schattauer, obwohl sie 1937 als Achtzehnjährige auf dem Feldweg dem Leser entgegen tritt, wahrscheinlich die mir vertrauteste Person ist."

    Marie Schattauer entstammt einer Pietistenfamilie irgendwo in einem 350-Seelen-Kaff in den Masuren. Ihr Leben besteht aus Beten und Arbeiten, bis sie zwei Jahre vor Beginn des Zweiten Weltkrieges im Wald dem betrunkenen Händler Balduin Eckstein begegnet, der versucht, sie auf der Stelle zu vergewaltigen. Sein Neffe Hermann, der als Offizier in der Wehrmacht dient, verteidigt mannhaft die Unschuld der jungen Masurin. Eine Begegnung mit Folgen: Marie verlässt ihre fromme Familie und folgt Hermann in die großbürgerliche Welt der Architektenfamilie Eckstein nach Osnabrück. Dort entdeckt sie ihre Sexualität, lernt die Liebe und den Luxus kennen und wird im November 1938 Zeugin der Progromnacht. Während der Kriegsjahre schlägt sich Marie mit fanatischen Nazis herum und verbringt viele Nächte im familieneigenen Bunker, der "innere Immigration" genannt wird, während Hermann an der Ostfront zu den Sowjets überläuft. In der größten Not besinnt sich die Pietistentochter auf ihren Gottesglauben, der aber niemals wirklich existiert hat.

    "Marie ist bereits die, die gleichsam die Kosten des Abfalls von Gott trägt, denn in jener allerersten Szene auf dem Feldweg, da merkt sie ja: Ich habe gar keine Beziehung. Ich bete hier, ich bin in größter Gefahr, Balduin will mich vergewaltigen, aber ich empfange überhaupt keinen Trost, und ich empfange überhaupt keinen Mut. Das wird nicht sehr reflektiert, weil sie in dieser Angstsituation ist, aber gleichwohl entsteht da ja das Bewusstsein, dass sie nicht in jenem elementaren Sinne zu den Gebetsleuten, zu den Pietisten, in einem Wort: zu den Gläubigen, gehört, wie sie es so angenommen hat. Gleichwohl aber schwenke ich dann irgendwann einmal um und erzähle davon, dass Marie als die Bomben fallen, als die Not am größten ist, nichts anderes kennt als die leere Hülse dieser Gebete und dieser Lieder."

    "Marie hatte ein Gesangsbuch neben sich im Bett liegen. Sie fand es angenehm, die alten, vertrauten Liedertexte vor Augen zu haben. Ein bisschen summen und den Blick über die Zeilen fahren lassen, das war es, was sie wollte. Trost war zu viel verlangt. Sie hatte gar nicht mehr die Empfindsamkeit, um Trost zu verspüren, wenn es ihn irgendwo gäbe, obwohl … - da las sie: Erscheine mir zum Schilde, / zum Trost in meinem Tod, / und lass mich sehn dein Bilde, in deiner Kreuzesnot."

    Im zweiten Erzählstrang des Romans erscheint Marie als alte, blinde Frau, die - ganz in Schwarz – im Dachzimmer des Ecksteinschen Hauses auf den Tod wartet. Ihr unehelicher Sohn Gustav Eckstein ist charismatischer Rhetoriklehrer am Karlsgymnasium und hat sich eine Lebensphilosophie aus Rationalität und Hedonismus zusammengebastelt, die ihn vor dem religiösen Virus seiner Herkunft schützt und zudem bei seinen Schülern - insbesondere bei seinen Schülerinnen - sehr gut ankommt. Es sind die achtziger Jahre, Helmut Kohl ist gerade Kanzler geworden, als Eckstein die von allen begehrte Daniela May verführt. Sein jugendlicher Epigone Gustav Manthey fühlt sich gedemütigt und plant einen Anschlag auf das ungleiche Liebespaar. Manthey, der aus einfachen proletarischen Verhältnissen stammt, empfindet den Geschmack, die Weltgewandtheit und die intellektuelle Brillanz seines Lehrers als Herausforderung. Nichts begehrt er mehr als die Zugehörigkeit zur Ecksteinschen Welt. Die sexuelle Eroberung Ecksteins demonstriert dem Gymnasiasten einmal mehr, wie tief die Kluft zwischen ihnen ist, die er so gerne überwinden würde. Doch Eckstein lehrt Eduard Manthey auch, bei der Persönlichkeitsbildung die eigene Herkunft nicht zu verleugnen. An einer Stelle im Buch sagt er:

    "Wir leben in einer liberalen Gesellschaft, mein Lieber. Es gibt keine Klassen mehr, es sei denn, man versucht, sie zu wechseln."

    "Um diese Wechselkosten geht es, glaube ich, sehr häufig in dem Buch. Nicht so sehr, weil ich eine theoretisierbare Klassenformation noch vor Augen habe. Aber es gibt wohl ein bestimmtes Gespür dafür, dass man die Lebensumstände verwandelt und dass dabei bestimmte Reibungen entstehen, gelegentlich Verluste entstehen. Irgendwann einmal sagt Eduard: "Ich bin ein schäbiger Hund geworden. Ich zahle für das Ausreißen meiner Wurzeln den vollen Preis."

    Von Verlusten handelt Arno Orzesseks Roman - von Verlusten der Heimat, der Unschuld und des Glaubens, die schließlich zu Identitätsverlusten und letztendlich sogar zum Verlust des Lebens einiger Hauptfiguren führen. Als Erzähler zieht Orzessek alle Register. In epischer Breite beschreibt er die schicksalhaften dramatischen Verstrickungen seiner Romanhelden, die sich durch Kriegswirren und Kohlära, Adoleszenz und Midlifecrisis schlagen. Mal ist sein Buch eine Familiensaga, mal ein Bildungsroman, und immer wieder, mit einem gewissen Hang zu erotischen Details, erzählt Orzessek eine Liebesgeschichte. Doch bei aller Fülle wird die Handlung durch eine klare Konstruktion und eine geschickte Dramaturgie zusammen gehalten. Orzessek wollte ein spannendes Buch schreiben, eines, das Unterhaltungswert mit Erkenntnisgewinn kombiniert. Und selten hat man bei einem Debütanten so plastische Charaktere vor so gut recherchierten Hintergründen verfolgen können. Selbst wenn Orzesseks Schilderungen von Gemütszuständen und Geisteslandschaften manchmal etwas zu ambitioniert erscheinen, die Bilder und Welten, die er beschreibt, wird man so schnell nicht vergessen. Und so ist ihm mit "Schattauers Tochter" ein wunderbar kraftvoller Roman über die Folgen des dritten Reiches für die Lebenswirklichkeit dreier Generationen des in die Gegenwart verlängerten 20. Jahrhunderts gelungen.

    Arno Orzessek "Schattauers Tochter", Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, 648 Seiten, 18,90 Euro