1938 flieht Karl Wildmann aus Wien, kurz nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich. Mutter, Schwester, Schwager und Neffe nimmt er mit – rechtzeitig, um die jüdische Familie vor der Deportation und der Ermordung durch die Nazis zu retten. Das Medizinexamen hat er gerade in der Tasche und baut in Amerika eine neue Existenz als Arzt auf. Seine Liebe für Wien, die Kultur und das unbeschwerte Leben nimmt er mit. Das ist die Familiengeschichte, mit der die Journalistin Sarah Wildman aufwächst. Was oder besser wen ihr Großvater Karl zurückließ, das erfährt sie erst nach seinem Tod. Als sie einige seiner Unterlagen durchstöbert, fallen ihr Bilder einer jungen Frau in die Hand. Wildman fragt ihre Großmutter nach ihr. Und die sagt nur einen Satz: Sie war die wahre Liebe deines Großvaters.
„Jahre später fand ich einen Karton, beschriftet mit Patientenkorrespondenz A bis G. Und darin waren Hunderte Briefe von Menschen aus seiner damaligen Wiener Welt, die einfach zerplatzt war. Darunter waren auch Dutzende Briefe von dieser Frau, Valy.“
Valy, mit vollem Namen Valerie Scheftel, die Frau auf dem Foto, war die Geliebte von Karl. Sie studierte mit ihm an der Medizinischen Fakultät in Wien. Ein Foto zeigt sie mit klarem Blick. Ihr Lächeln gibt eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen preis. Das dunkle, kräftige Haar ist knapp schulterlang und nach hinten gebundenen. 26 Jahre alt ist sie 1938, als Karl in Hamburg das Schiff nach Übersee besteigt. Valy bleibt zurück, anders als zunächst geplant. Karls und ihre Liebe lebt nur in den Briefen fort, die sie schreiben, die vor allem Valy schreibt, so im Juli 1940:
„Wann werde ich bei Dir sein? Bitte sag es mir, Geliebter, wann? Ich kenne die Antwort nicht und das Konsulat hat nur eine vage Vorstellung von ein bis zwei Jahren, das bedeutet eine Ewigkeit, unvorstellbar, unbegreiflich.“
„Paper Love“ hat Karls Enkelin, Sarah Wildman, ihr Buch genannt, eine „papierene Liebe“, ein Ausdruck im Englischen für eine verletzliche, zerbrechliche Liebe. Und im Untertitel: Auf der Suche nach dem Mädchen, das mein Großvater zurückließ.
„Ich gehöre der dritten Generation an, wir denken an die „Kristallnacht“, an den Gelben Stern und dann an Auschwitz. Wir denken nicht an die Tage dazwischen oder an die individuellen Geschichten.“
Wildman will herausfinden, wer Valerie Scheftel war. Sie folgt ihrer Spur nach Wien, wo Valy glückliche Tage mit Wildmans Großvater Karl verbrachte. Sie besucht ihren Geburtsort in Tschechien und reist nach Berlin und Potsdam, wo Valy nach Karls Flucht mit ihrer Mutter lebte. Dort fand sie als promovierte Medizinerin in jüdischen Einrichtungen zumindest Arbeit als Krankenschwester. Wildman sucht Valys Wohnorte auf, durchkämmt Archive und findet unverhofft Zeitzeugen, die die junge Frau kannten. Und sie gleicht Valys Briefe akribisch mit den Schreiben anderer ab, mit historischen Dokumenten und den bald täglich erlassenen Gesetzen und Verordnungen der Nazis, die das Leben und Überleben in Deutschland als Jüdin immer schwerer machten.
„Ich wollte nachzeichnen, wie der Alltag schrittweise zerstört wurde, nicht auf einen Schlag. In Berlin gab es auf der Straße nicht so viel Gewalt gegen Juden wie etwa in Wien nach dem ‚Anschluss‘. Man konnte noch jahrelang dort leben, wobei es langsam immer unmenschlicher wurde. Währenddessen wuchsen die Verzweiflung und der Wunsch auszuwandern.“
Sarah Wildman verleihe Valy eine Stimme, lobt die israelische Tageszeitung „Haaretz“. Die Briefe und der Kontext, in den Wildman sie stellt, schaffen Nähe zur Person Valerie Scheftel – und machen diese Rekonstruktion ihres scheiternden Entkommens verstörend und schmerzhaft. Im November 1940 schreibt Valy an Karl:
„Liebling, ich muss Dich dringend bitten, mir ein Visum für Kuba zu verschaffen, und, wenn irgend möglich, auch eines für meine Mutter.“
Knapp ein Jahr später, im Oktober 1941, ist die Aufbruchsstimmung der Verzweiflung gewichen: „Selbst wenn es eine Möglichkeit gäbe, den teuren Umweg über Kuba zu nehmen, wäre es zu spät, denn inzwischen dürfen deutsche Staatsbürger im Alter von 18 bis 45 Jahren nicht mehr ausreisen. Ich kann Dir nicht sagen, wie verzweifelt unglücklich ich darüber bin.“
Karl war ihre letzte Hoffnung auf ein Entkommen. Doch der scheiterte in seiner anfänglich Armut in Amerika daran, seiner Geliebten zu helfen. Valy, inzwischen verheiratet, wurde 1943 zusammen mit ihrem Mann nach Auschwitz deportiert. Sarah Wildman:"Überleben war nicht die Regel, die Regel war auch nicht der Widerstand, die Regel war der Tod.“
Die Autorin suche nach einem Platz für die normalen Leute in der jüdischen Geschichte, befindet der „Boston Globe“ in einer Rezension. Während sie recherchiert, auch das ist Gegenstand ihrer teils sehr persönlichen, anekdotischen Schilderungen, ist Wildman mit der ersten ihrer zwei Töchter schwanger. Und sie fragt sich, was die Schoah für ihre Kinder noch bedeuten wird.
„Wir können uns nicht darauf verlassen, dass die Erinnerung immer bleiben wird. Für meine Kinder wird sie schon ziemlich verstaubt und weit entfernt sein. Und deswegen ist es für mich wichtig, wie wir ihre Geschichte eines Tages erzählen, wenn es keine Überlebenden mehr gibt.“
Darauf hat Wildman mit ihrem Buch eine Antwort gegeben, was auch die amerikanische Kritik anerkennt. Der „New Yorker“ schreibt: Als Teil der letzten Generation, die noch Kontakt zu Überlebenden hat, mache Wildman ihre Familiengeschichte zu einer allgemeingültigen. Sie zeige neue Wege auf, wie wir über den Holocaust und das Gedenken daran sprechen können.
Sarah Wildman: „Paper Love. Searching for the Girl My Grandfather Left Behind“