Dienstag, 30. April 2024

Archiv


Manuskript: Extrem gewagt

Fatale Erdbeben, zerstörerische Monsterwellen, epileptische Anfälle, Blackouts im Stromnetz – eines ist allen gemein: Wann, wo und wie stark sie zuschlagen, scheint eine Sache des Zufalls zu sein. Zwar versuchen sich Forscher seit Jahrzehnten an Prognosen und Frühwarnungen. Nur: Erfolg damit haben sie eher selten. Bislang lassen sich Extremereignisse entweder gar nicht vorhersagen, oder die Prognosen sind zu vage, als dass sie einen konkreten Nutzen brächten. Deshalb setzen die Experten nun auf einen anderen Ansatz: Statt nur innerhalb der einzelnen Fachgebiete nach besseren Methoden Ausschau zu halten, machen sie sich auch interdisziplinär auf die Suche – und fahnden nach mathematischen Parallelen und universellen Wurzeln des Extremen.

Von Frank Grotelüschen | 18.08.2013
    Es sind die größten Wellen, die man je auf dem Festlandssockel vor Neuschottland gemessen hat. Es sind mit die größten Wellen, die man überhaupt je auf der Welt gemessen hat.

    Gegen Mitternacht des 28. Oktobers – als der Sturm vor Sable Island seine volle Stärke erreicht hat – ereignet sich an Bord der "Andrea Gail" eine Katastrophe. Es ist keine Zeit mehr, die Rettungsanzüge anzulegen oder nach einer Schwimmweste zu greifen; das Boot vollführt die extremsten Bewegungen seines Lebens, und es ist nicht einmal mehr Zeit genug zum Schreien. Der Fernseher, die Waschmaschine, die Videokassetten, die Männer, alles fliegt durch die Luft. Sekunden später strömt das Wasser ein.

    Am 8. November, eine halbe Stunde vor Mitternacht, wird die Suche nach der "Andrea Gail" eingestellt. Sie ist jetzt seit fast zwei Wochen verschollen, und Flugzeuge haben 116.000 Quadratmeilen des Ozeans abgesucht, ohne einen einzigen Überlebenden zu entdecken. Alles, was sie finden konnten, waren ein paar Teile ihrer Decksausrüstung.

    Das Buch wird zum Bestseller: In "The Perfect Storm" beschreibt der US-Journalist Sebastian Junger akribisch den Untergang eines Fischtrawlers: Am 28. Oktober 1991 gerät die "Andrea Gail" in einen gewaltigen Orkan mit Wellen, im Durchschnitt zwölf Meter hoch. Zum Verhängnis aber wird dem Schiff eine Monsterwelle – eine Wand von 30 Metern, ungleich höher als die anderen Wellen. Aus Sicht der Wissenschaft ein Extremereignis. Selten und gewaltig. Plötzlich und unvorhersehbar. Die Folgen: oft katastrophal.

    Farrokh Nadim, Geotechnisches Institut, Oslo, Norwegen

    "Extremereignisse passieren ziemlich selten, manchmal nur einmal in 100 Jahren. Aber wir bezeichnen Ereignisse auch dann als extrem, wenn sie extreme Auswirkungen haben wie das Erdbeben in Haiti von 2010. Das war eigentlich gar nicht so stark, hat aber mehr als 300.000 Menschenleben gefordert. In Japan hätte ein Beben dieser Stärke vielleicht nicht mal in der Zeitung gestanden. Was man sagen kann: Ein Extremereignis ist etwas, das völlig unvorhergesehen geschieht und mit dem nicht einmal die Experten rechnen."

    Extremereignisse sind selten, doch es gibt sie: In der Natur wie in der Zivilisation. Im Großen wie im Kleinen: Windböen, Erdbeben, Black-outs. Monsterwellen, Finanzkrisen, epileptische Anfälle. Sie zu verstehen und vorherzusagen – das ist der Traum der Forschung. Nur: Mit jenen Formeln und Theorien, die unsere Welt im Normalzustand beschreiben, sind sie kaum zu fassen. Denn auch mathematisch gesehen sind Extremereignisse Ausreißer, Exoten, Sonderlinge. Nadim:

    "Da Extremereignisse nicht sehr häufig sind, hat man schlicht nicht genügend Daten, um vernünftige statistische Aussagen treffen zu können. Ein Beispiel sind starke Tsunamis, die nur alle paar 100 Jahre passieren. Hier müssen wir versuchen, die physikalischen Prozesse möglichst gut zu verstehen, die hinter solchen Phänomenen stecken. Das gelingt zwar immer besser, aber ist noch weit entfernt von jeder Perfektion."

    Die prinzipiellen Mechanismen, die hinter Tsunamis, Erdbeben oder Wirbelstürmen stecken, sind zwar bekannt. Doch der genaue Ablauf einer Katastrophe folgt komplexen Regeln. Bei manchen dieser Katastrophen genügen kleinste Ursachen, um enorme Wirkungen zu entfalten – das Prinzip der Chaostheorie. Solche Phänomene exakt zu beschreiben oder sogar vorherzusagen, scheint aussichtslos. Dennoch wagen sich immer mehr Forscher an diese Mammutaufgabe – zum Beispiel, um endlich zu klären, wie Monsterwellen entstehen.

    TU Hamburg-Harburg, Institut für Mechanik und Meerestechnik. Der Ingenieur Amin Chabchoub schließt die Tür zur Mehrzweckhalle auf. Vorn ein Testbecken für Unterwasser-Roboter, daneben Prüfstande für Tiefbohrungen und Hafenkräne. Doch Chabchoub steuert den Wellenkanal an, ganz hinten in der Halle. Eine Art überdimensionale Badewanne.

    "Das ist ein Wellenkanal, der 15 Meter lang ist, der 1,5 Meter breit ist. An dem einen Ende ist die Wellenklappe installiert, die uns die Wellen generiert. Die ist durch einen hydraulischen Zylinder gesteuert. Am anderen Ende können wir einen Strand sehen, der die Energie absorbiert, dass möglichst wenig zurückkommt."

    Mit dieser Wellenklappe will Chabchoub jetzt eine Monsterwelle erzeugen – einen Kaventsmann im Miniformat. Er beugt sich über den PC und setzt die Computersteuerung in Gang.

    "Jetzt geht es los. Hier sehen wir, es ist erst einmal alles spiegelglatt. Jetzt kommen die regulären Wellen. Die Amplitude dieser Wellen beträgt einen Zentimeter, und die Wellenlänge ist ungefähr einen halben Meter lang."

    Eine Welle ist wie die andere – gleich hoch, gleich lang.

    "Jetzt werden wir gleich hören, wie es einen kleinen Ruck gibt – die kleine Störung, die erzeugt wird."

    Für einen Moment schlägt die Hydraulik-Klappe etwas heftiger hin und her. Die Welle, die dabei entsteht, unterscheidet sich zunächst nicht von den anderen. Doch dann, als sie sich im Kanal fortbewegt, wird sie immer größer, sagt Chabchoubs Kollege Norbert Hoffmann.

    "Jetzt sehen wir diese große Welle auf uns zukommen, sehr groß werden und wieder verschwinden."

    Schließlich schlägt der Mini-Kaventsmann auf dem künstlichen Strand auf. Nicht gerade furchterregend, eher niedlich. Dennoch: Die Kriterien für eine Monsterwelle sind erfüllt: Drei Zentimeter ist der Ausreißer hoch – dreimal größer als alle Wellen um ihn herum. Hoffmann:

    "Wir haben unsere Ergebnisse umgerechnet auf echte Meereswellen, die Amplituden von bis zu 30 Metern erreichen können. Und das Ergebnis ist tatsächlich, dass die Wellen, die wir hier im kleinen Maßstab erzeugen, verblüffend ähnlich sind zu Messungen, die auf dem offenen Meer gemacht wurden."

    Pro Jahr, so die Schätzungen, beschädigen Monsterwellen weltweit zehn Schiffe, manche sinken sogar. Hoffmann und seine Leute wollen aufklären, wie sich solche Monsterwellen bilden und wie man sie durch Formeln und Gesetze beschreiben kann. Mit einfacher, linearer Mathematik funktioniert das nicht. Norbert Hoffmann:

    "Wenn Sie zwei Taschenlampen kreuzen, gehen die Strahlen unbeschwert durcheinander durch."

    Ein Prozess, der der linearen Mathematik gehorcht. Mit ihren Formeln lässt sich zwar normaler Seegang passabel beschreiben. Bei Monsterwellen aber versagt der Ansatz: Ihre Zahl unterschätzt er massiv, die Berechnungen liegen um den Faktor 50 daneben. Deshalb greifen Experten wie Norbert Hoffmann zu einer anderen Mathematik, der nichtlinearen Mathematik. Ein Beispiel:

    "Wenn Sie zwei Wasserschläuche kreuzen, gibt das eine Riesensauerei."

    Die Wasserstrahlen durchdringen sich nicht einfach wie Licht. Sondern sie beeinflussen sich massiv – am Treffpunkt spritzt das Wasser in alle Richtung davon. Ein nichtlineares Phänomen. Hoffmann:

    "Und so ist das auch mit Wasserwellen im Ozean. Man kann nicht einfach zwei Wellenzüge überlagern. Sondern diese beiden Wellenzüge wechseln sehr intensiv miteinander."

    Bei besonderen Bedingungen, etwa wenn starker Wind auf bestimmte Meeresströmungen trifft, kann diese nichtlineare Wechselwirkung bewirken, dass eine Welle ihren Nachbarn Energie entzieht. Sie saugt sie regelrecht leer.

    "Das führt dann dazu, dass sich die Energie für einige Minuten in einen zentralen Bereich fokussiert, eine sehr große Welle bildet, um anschließend wieder auseinanderzulaufen, sodass das Seegebiet wieder völlig extremwellenfrei ist."

    Die Hamburger haben daraus eine neue Theorie gestrickt – eine Theorie, die durch die Versuche eindrucksvoll bestätigt wird. Im Wellenkanal entstehen die Monsterwellen auf Knopfdruck.

    "Der Mechanismus, der sich hier zeigt, erklärt diese traditionellen Erzählmuster der Seefahrer: Die Seefahrer sprechen von weißen Wänden – das sind sehr große Einzelwellen. Dann sprechen sie von drei Schwestern – das sind drei große Wellen, die aufeinanderfolgen. All diese Phänomene sind Ausprägungen eines gemeinsamen Mechanismus."

    Fällt ein Stein zu Boden, lässt sich genau ausrechnen, wann er unten ankommt. Eine knappe Formel genügt. Phänomene, die ins Extreme ausschlagen, gehorchen anderen, komplexeren Gesetzen: Die Wellen auf dem Meer, der Wind über dem Land, das seismische Zittern der Erde, die Ströme im Gehirn. Mit den Regeln der Statistik lässt sich zwar herausfinden, wie hoch die Wellen und wie stark die Winde im Durchschnitt sind. Doch wie sich die einzelne Welle, die einzelne Böe verhält – das verrät sie nicht. Noch einmal schwieriger wird die Situation für Extremereignisse. Denn die gewöhnliche Statistik beschreibt unsere Welt im Normalzustand. Für den Ausnahmezustand versagt sie zumeist. Deshalb müssen die Forscher nach neuen Gesetzmäßigkeiten suchen – einer regelrechten Extrem-Mathematik. Beispiel 1: der Black-out.

    Indien, 30. Juli 2012, früher Morgen. Im Norden des Landes sind die Ampeln ausgefallen, der Verkehr auf den Straßen kollabiert. Züge und U-Bahnen stehen auf ihren Gleisen. Kliniken und Flughäfen haben ihre Notstromaggregate aktiviert. 600 Millionen Menschen sind ohne Elektrizität. Es ist der schlimmste Stromausfall seit zehn Jahren. Vermutlich hatten einige Bundesstaaten mehr Strom abgerufen als ihnen zustand.

    Ein Blackout, ein totaler Stromausfall. Ein Ereignis, das die Wissenschaftler mit Hilfe der Netzwerktheorie in den Griff bekommen wollen – speziell mit einer Methode namens Random Walk, auf Deutsch Zufallsbewegung. Eine Computersimulation.

    "A random walk is a walk performed by …"

    Ravinda Amritkar, Physikalisches Forschungslabor, Ahmedabad, Indien.

    "Wir bilden ein Netzwerk im Computer nach. Dieses Netzwerk besitzt Knoten, die miteinander verknüpft sind – wobei manche Knoten viele Verbindungen haben, andere nur wenige. Dann lassen wir virtuelle Akteure von Knoten zu Knoten laufen, und zwar nach dem Zufallsprinzip. Die Akteure entscheiden sich also bei jedem Knoten neu, welche Verbindung sie nehmen und in welche Richtung sie weiterlaufen. Mit dieser Methode lässt sich das Verhalten realer Netzwerke ziemlich genau simulieren."

    Wann bricht das Netzwerk zusammen, wann kommt es zu einem Extremereignis? Das hat Amritkar systematisch untersucht.

    "Fällt ein einzelner Knoten aus, hat das für das Netzwerk noch keine Folgen. Die Akteure weichen dann einfach auf benachbarte Knoten aus. Dadurch aber steigt deren Belastung, und unter Umständen kommt es zu einem Dominoeffekt: Immer mehr Knoten sind überlastet und fallen einer nach dem anderen aus. Im Extremfall breitet sich diese Kaskade dann über das ganze Netzwerk aus."

    Diese Kaskade startet plötzlich, das System kippt. Mit ihren Computersimulationen haben die Inder eine wichtige Zahl entdeckt. Amritkar:

    "Wenn etwa 15 Prozent der Knoten ausfallen, setzt der Dominoeffekt ein und legt das Netzwerk lahm."

    Eine interessante Information für Energiekonzerne. Damit können sie künftig besser abschätzen, wann in ihrem Netz akut ein Black-out droht.

    Beispiel 2: epileptische Anfälle.

    Jedes Mal, wenn meine Mutter einen meiner Anfälle miterlebt, ist sie geschockt. Sie beschreibt mir den leeren Blick, die schlaffe Muskulatur, keine Reaktion auf ihre Worte. Sie fordert mich auf, mit den Armen zu pumpen, um den Kreislauf wieder in Schwung zu bringen, und sieht hilflos zu, wie ich im Schneckentempo die Fäuste balle. Als ich in der 9. Klasse vor den Augen meiner Mitschüler zusammengebrochen bin, wurde die Diagnose Epilepsie gestellt. Leider konnten die Ärzte mir eine wichtige Frage nicht beantworten: Was hat die Anfälle ausgelöst?

    "Es ist für diesen Patienten genauso extrem wie ein Erdbeben oder ein Vulkanausbruch für sehr viele Menschen extrem sein kann. Aber für diesen Menschen ist es garantiert extrem."

    Klaus Lehnertz, Klinik für Epileptologie, Universität Bonn.

    "Man weiß, dass es Neuronen gibt, die anders feuern als regulär. Es tritt eine sehr starke Synchronie auf. Was vor einem Anfall passiert, wissen wir noch nicht. Warum es bei einem Menschen zum Anfall kommt, wissen wir auch nicht."

    Gibt es Vorläuferphänomene im Gehirn, die auf einen bevorstehenden Anfall hindeuten? Um das herauszufinden, nehmen die Forscher systematisch die Hirnströme von Epilepsiepatienten auf. Klaus Lehnertz:

    "Die Hirnaktivität, die wir messen können, also das berühmte EEG, da spiegelt sich einiges wider. Und die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass man mit speziellen Methoden, mit Zeitreihenanalyse-Verfahren, Voranfallsboten sehen kann."

    Bei der Zeitreihenanalyse schauen sich die Experten an, wann genau welche Ereignisse auftreten. So lässt sich herausfinden, ob bestimmte Ereignisse gehäuft stattfinden oder immer in einem gewissen Abstand folgen. Diese Methode kann untrügliche Vorzeichen aufspüren, die einem Extremereignis vorangehen. Sie funktioniert am besten, wenn möglichst viele Daten vorliegen. Klaus Lehnertz hat mittlerweile die Daten von rund 300 Patienten gesammelt. Das Ergebnis seiner Analysen:

    "Was wir im Moment hinbekommen, ist, auf einige zehn Minuten, bei manchen Patienten auch bis zu einigen Stunden vor einem Anfall Vorboten zu sehen. Wie gut das Ganze ist – das ist eben genau das Problem. Man kann das im Moment noch nicht so richtig quantifizieren, weil es noch keine richtigen Methoden dafür gibt."

    Beispiel 3: extreme Algenblüten.

    Einige Fischer gehen wie an jedem frühen Morgen hinunter zum Strand, um ihre Boote und Netze fertigzumachen. Wie gewöhnlich hoffen sie auf einen guten Fang. Doch ihren noch schläfrigen Augen bietet sich ein schreckliches Bild. Tausende von Fischen sind an Land geschwemmt worden – tot. Vergiftet durch ein seltenes Naturereignis, eine überschießende Algenblüte.

    "Algenblüten zeigen eine große Variabilität in den Spitzenwerten, wenn man das über die Jahre vergleicht."

    Jan Freund, Arbeitsgruppe komplexe Systeme, Universität Oldenburg. An sich sind Algenblüten normal. In manchen Jahren aber explodieren die Vorkommen – ein Extremereignis, überraschend und unvorhergesehen. Manche dieser Blüten richten große Schäden an, wenn die Algen Giftstoffe produzieren. Fische fressen diese Toxine und gehen qualvoll zugrunde. Um zu verstehen, wie so eine extreme Algenblüte zustande kommt, hat Freund ein mathematisches Modell entwickelt. Es beschreibt das Wechselspiel der Alge mit ihren Fressfeinden.

    "Das Ausbleiben dieser schädlichen Alge wird dadurch erklärt, dass der Fressfeinde diese Algenart niedrig hält. Sollte der Fressfeind aus welchen Gründen auch immer mal einbrechen, gibt es dieser Alge die Gelegenheit, nach oben zu schießen und eine Blüte auszubilden."

    Das Ergebnis ist ermutigend: Auch wenn sie derzeit noch stark vereinfacht ist, liefert die Computersimulation ähnlich ausgeprägte Algenblüten, wie sie in der Realität vorkommen.

    Monsterwellen, Black-outs, Algenblüten, epileptische Anfälle. Beispiele aus den verschiedensten Gebieten – und es gibt noch viel mehr: Börsenblasen, Starkregen, Megastaus, Tornados, Kriege, Tsunamis. All diese Ereignisse vergleichen die Forscher miteinander – und kommen dabei zu einer verblüffenden Einsicht: Oft nämlich lassen sich die Ereignisse mit denselben Methoden und Theorien verstehen. Das Extreme, so scheint es, fußt auf universellen mathematischen Wurzeln. Und das versuchen die Wissenschaftler zu nutzen. Klaus Lehnertz:

    "Das sind Methoden, die in der Mathematik und der theoretischen Physik entwickelt worden sind. Die gelten für beliebige komplexe Systeme. Ob ich dieses System jetzt Gehirn nenne oder Börse oder Klima oder was auch immer – das ist eigentlich egal. Das ist sehr faszinierend, dass es da so viele Gemeinsamkeiten gibt."

    "Es gibt offensichtliche Ähnlichkeiten bei den Gesetzmäßigkeiten einer Algenblüte und eines epileptischen Anfalls. Und wir haben erste Ansätze, wie man in beiden Fällen Vorläufer für ein Extremereignis identifizieren könnte. Diese Ansätze sind durchaus hoffnungsvoll, auch wenn unsere Modelle im Moment noch stark vereinfacht sind."

    Norbert Hoffmann: "Diese Wellen gibt‘s eigentlich in allen möglichen Disziplinen, in denen Wellen auftreten: von der Plasmaphysik über die nichtlineare Optik, Wellen in Festkörpern, auch die Erdbeben-Wellen. Dementsprechend lassen sich diese Monsterwellen, die wir hier im Wasser sehen, auch in anderen Bereichen wiederfinden."

    Ravinda Amritkar: "Komplexe Netzwerke sind sehr verbreitet: Es gibt Straßennetze, Nahrungsnetze, soziale Netzwerke, Firmennetzwerke. Netzwerke sind wirklich allgegenwärtig."

    Um voneinander zu lernen, arbeiten die Experten immer enger zusammen, bilden Arbeitsgruppen, veranstalten gemeinsame Workshops. Interdisziplinarität, die oft beschworene Kooperation verschiedener Fachdisziplinen – hier scheint sie zu funktionieren. Dabei konzentriert sich die Arbeit auf die Theorie, auf die Entwicklung neuer Formeln und Computeralgorithmen. Doch manchmal brauchen die Extremforscher, um wirklich weiterzukommen, das Experiment.

    "Meine Aufgabe ist es, naturgetreue Windfelder herzustellen."

    Universität Oldenburg, Institut für Physik. Nico Reinke steht neben seinem Windkanal. Ein spezielles Exemplar, denn vor das Gebläse ist ein Zusatzelement montiert, das aktive Gitter: 126 Klappen, quadratisch wie Badezimmerkacheln. Jede von ihnen kann sich öffnen und wieder schließen, und zwar unabhängig von den anderen.

    "Wir haben ein großes Gebläse, einen Riesen-Ventilator. Der pumpt die Luft durch unseren Kanal. Die ankommende Luft sieht die Klappen. Die Klappen drehen sich in die Strömung rein. Gleichzeitig geben sie der Luft einen Schlag mit. Dadurch entsteht ein spezifisches Strömungsfeld hinter dem Gitter. Und das macht diesen Windkanal so besonders."

    Mit dem aktiven Gitter lassen sich heftige Windböen erzeugen –Extremereignisse also. Was Reinke und seine Leute besonders interessiert: Wie wirken sich extreme Böen auf Windkraftanlagen aus? Nico Reinke:

    "Die sind gefährlich und können die Anlage besonders schnell altern lassen. Die Materialien sind nicht für die Unendlichkeit gemacht, sondern werden ausgelegt für 20 Jahre. Und diese starken Stöße der Luft lassen die Anlage besonders stark altern. Und um das besser verstehen zu können, machen wir unsere Experimente."

    Reinke setzt ein Windrad-Modell in den Kanal. 50 Zentimeter groß, Maßstab 1:100. Nun tippt er ein paar Befehle in den Steuer-PC.

    "Jetzt müssen wir einen Augenblick warten, bis die Motoren ihr Signal bekommen. Aber es fängt schon an!"

    Jetzt schaltet Reinke den Ventilator dazu, Windgeschwindigkeit 40 Stundenkilometer. Die Klappen öffnen und schließen sich im Takt. Dadurch verwirbeln sie die Luft und erzeugen kräftige Böen.

    "Was man jetzt erkennen kann, ist, dass die Windkraftanlage sich in Rotation gesetzt hat, und wie der Turm ins Schwingen gerät durch die Böen, die wir auf die Anlage geben."

    Einen Augenblick lang dreht sich das kleine Windrad eher langsam. Doch dann, offenbar von einer Böe getroffen, rotiert es plötzlich doppelt so schnell.

    "Durch die leichte Bauart dieser Anlage sieht man sehr schön, dass sie schnell auf die Böen reagieren kann. Und hier können wir es ganz genau studieren."

    Extreme Böen – lange hat sie die Windenergie-Branche unterschätzt. Aber:

    "Wir haben Messungen gemacht: Wir kriegen öfters Windschwankungen von 40 und 50 Stundenkilometern in ein paar Sekunden","

    sagt Reinkes Chef Joachim Peinke. Er schätzt, dass starke Böen jedes Jahr Millionenschäden bei Windrädern verursachen. Um sie besser zu verstehen, analysiert sein Team Unmengen von Windmessungen aus dem Windkanal und aus der Natur. Verfahren wie die Zeitreihenanalyse verraten, wie häufig mit heftigen Böen zu rechnen ist, etwa an einem geplanten Standort für einen Windpark.

    ""An den Standorten, von denen wir gute Daten haben, können wir die Windturbulenzen statistisch sehr gut beschreiben. An diesen Böenbeschreibungen sind viele Hersteller sehr interessiert, wie sie die in ihre Entwurfsphase mit in die Anlage reinnehmen, um dann sicherer zu sein, dass man weniger Ausfälle wegen Extremböen haben wird."

    Immer besser versteht die Fachwelt, warum und wie oft Extremereignisse auftreten. Und das ist die Grundlage für eine ehrgeizige Vision – die Extrem-Vorhersage. Erste Erfolge zeichnen sich ab: Künftig soll ein Monsterwellen-Bericht prognostizieren, wann und wo die Schiffcrews mit Riesenwellen zu rechnen haben. Riskante Seegebiete sollten die Schiffe meiden und einen anderen Kurs einschlagen. Stromausfälle könnte man verhindern, wenn man rechtzeitig bestimmte Netzknoten repariert. Und Epilepsiepatienten kann ein Sensor implantiert werden, der sie vor einem bevorstehenden Anfall warnt, so dass sie sich darauf einstellen und schnell wirkende Medikamente nehmen können. Die Frage ist: Wie treffsicher können solche Prognosen sein? Farrokh Nadim:

    "Es gibt bei solchen Prognosen immer Unsicherheiten. Präzise vorauszusagen, wann und wo genau ein Extremereignis passiert, scheint mir deshalb so gut wie unmöglich. Aber natürlich helfen diese Prognosen dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen, um die Folgen von Katastrophen zu minimieren."

    Am 1. November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen.

    Jahrzehntelange haben sie sich bemüht, Abermilliarden an Forschungsgeldern investiert – die Erdbebenforscher. Unermüdlich suchten sie nach Vorläufern, die ein Beben ankündigen: ein verräterisches Zittern des Erdgrunds. Gase, die plötzlich aus dem Boden strömen. Tiere, die sich seltsam verhalten. Nichts davon hat sich als verlässlicher Vorbote erwiesen, sagt Farrokh Nadim vom Geotechnischen Institut in Oslo.

    "Nach 20, 30 Jahren Forschung sind wir zum Schluss gekommen, dass eine Erdbebenvorhersage wohl unmöglich ist. Deshalb versuchen wir heute nicht mehr, den genauen Zeitpunkt und Ort eines Bebens zu prognostizieren. Sondern wir arbeiten an möglichst genauen Risikoanalysen. Auf der Basis dieser Analysen können wir konkrete Empfehlungen aussprechen – etwa in einem gefährdeten Gebiet die Gebäude so zu bauen, dass sie einem Beben widerstehen."

    Dass Erdbeben schwerer zu verstehen, geschweige den vorherzusagen sind als Windböen oder Riesenwellen, hat seinen Grund: Wind und Wellen sind deutlich simplere Phänomene. Sie spielen sich vor allem in einem Medium ab – Luft beziehungsweise Wasser. Erdbeben dagegen sind physikalisch viel komplexer: Tief im Untergrund reiben verschiedenste Gesteinsarten mit unterschiedlicher Spannung aneinander. Magma bildet sich, Wasser kann als Schmiermittel wirken, und all das erstreckt sich über Hunderte, ja Tausende von Kilometern. Wollte man unter diesen Voraussetzungen ein Erdbeben vorhersagen, bräuchte man eine Unmenge an detaillierten Daten über Drücke und Temperaturen, Gesteinsdichten und Wassergehalt. Ein Ding der Unmöglichkeit.

    Dennoch: Nicht alle Forscher haben aufgegeben. Sie versuchen es weiter, bilden Zeitreihen, analysieren seismische Datensätze. Sollten sie fündig werden – es wäre ein höchst überraschender Triumph.