Keith Jarrett: "Munich 2016"

Das Ereignis des Suchens und Findens

06:06 Minuten
Keith Jarrett lehnt sich im Sitzen ans Klavier
Bricht bei ungebührlichen Verhalten auch mal ein Konzert ab: Meister der Klavier-Improvisation Keith Jarrett. © picture alliance/dpa/EPA/BRUNO BEBERT CORBIS OUT
Von Ulrich Habersetzer · 04.11.2019
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Nur wenige trauen sich, einen ganzen Abend lang vor Publikum nur zu improvisieren. Keith Jarrett kann das - und lässt sich dabei nur ungern stören. Wie meisterhaft ihm das gelingt, kann man auf seinem neuen Solo-Album "Munich 2016" nachhören.
So kennt man ihn. Dieses Wühlende, dieser Groove, dieses Pulsieren. Pianist Keith Jarrett am 16. Juli 2016 in der Philharmonie in München.
Der US-Amerikaner ist einer der herausragenden Solo-Improvisatoren unserer Zeit. Wenige wagen sich daran, ganze Konzertabende völlig unvorbereitet durchzuimprovisieren. Keith Jarrett will jede Note aus dem Moment herausfinden, das betont der Pianist immer wieder; bei niemandem ist dieses Suchen und Finden so ein Ereignis wie bei ihm. Sinnlich, fesselnd und aufregend.
Mit größter Innigkeit und in höchster Konzentration entspinnt er seine Linien, was auch zu großer Anspannung bei ihm und den Zuhörern führen kann. Nicht selten richtete der Pianist harsche Worte ans hustende Publikum, verwies fotografierende Besucher des Saals, unterbrach Konzerte oder brach sie sogar ab.
Deshalb herrschte auch eine nervös-gebannte Stimmung bei den rund 2400 Besuchern zu Beginn des Konzerts in München. Das kann man auf dem neuen Album "Munich 2016" auch etwas erahnen. Man kann richtiggehend mitfühlen, wie der damals 71-Jährige sich zunehmend freispielte und von Improvisation zu Improvisation entspannter wurde.

Viele Jarrett-Markenzeichen

Jede Nuance, jede Feinheit in der Stimmführung seiner teils weitverzweigten Tongebilde ist wahrnehmbar. Sein ungemein transparenter Sound macht dies möglich. Klavierkönner jedes Genres beneiden Jarrett um dieses einzigartige Gefühl für die Tasten. Auf dem neuen Doppelalbum gibt es viele dieser Jarrett-Markenzeichen zu erleben:
Das innige Singen von ad hoc entstandenen Ohrwürmern, lässiges Sich-treiben-lassen, subtil-gesponnene Tongeflechte, wabernde Klangwolken, aber auch komplex-kristalline Tonkaskaden.
Allein in den ganz langangelegten Flow lässt sich Keith Jarrett nicht mehr hineinziehen. Keine Stücke mit 20 Minuten und mehr, dafür so manche Miniatur, mal schwelgerisch, mal knirschend-kantig.

Jarrett in Hochform

Das gelöste Feeling des Improvisators und die spezielle Chemie im Raum transportiert das Album "Munich 2016" sehr gut. Vielleicht ist nicht jeder improvisatorische Einfall des Konzerts genial, aber dadurch, dass der komplette Konzertabend zu hören ist, kann man Jarretts Weg durch die Höchstanstrengung eines Solokonzertes nachvollziehen und man hat das Gefühl, eine Entwicklung und dann am Ende etwas in sich Geschlossenes zu erleben.
Ein Keith Jarrett in Hochform ist auf dem Album zu hören, der auch die obligatorischen Jazzstandards als Zugabe nicht fehlen lässt. Und auch beim Wiederhören bekommt man eine leichte Gänsehaut, wenn der Meister ganz zum Ende sein "Over the Rainbow" auf die Tasten tupft.

Keith Jarrett: "Munich 2016", ECM 2019

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