Der ungläubige Thomas als Prototyp des modernen Christen

Von Andreas Malessa · 20.10.2007
Ob der "ungläubige Thomas" seine Finger in die Wunde des auferstandenen Jesus von Nazareth gelegt? Konnte er "seinen Augen trauen"? Und was ist bewiesen, wenn wir etwas gesehen haben? Das sind keine kriminalpsychologische Spitzfindigkeiten, sondern Stellschrauben am Fundament des Christentums und einer der weltweit führenden klassischen Philologen, Glenn W. Most aus Pisa und Chicago, hat darüber ein detailversessenes, interessantes Buch geschrieben.
"''Die anderen Jünger sagten zu Thomas: "Wir haben den Herrn gesehen!" Er aber sagte zu ihnen: "Wenn ich nicht die Nägelmale an seinen Händen sehe und lege meinen Finger in seine Seitenwunde, werde ich es nicht glauben.""

Dieser Vers aus Neuen Testament hat dem Jesusjünger Thomas das Attribut "der Zweifler" eingebrockt. Hat ihn zum sprichwörtlich "ungläubigen Thomas" gemacht. Philologieprofessor Glenn Most beginnt mit einem einfachen Beispiel: Würde man einen Gegenstand direkt auf meine Netzhaut platzieren, könnte ich ihn nicht sehen. Das Auge braucht Distanz, um zu fokussieren. Der Gegenstand braucht meinen "Gegen-Stand", um richtig erkannt zu werden. Deshalb ist die Distanznahme, deshalb ist der Zweifel weder eine Schande noch eine Tugend. Sondern zunächst lediglich ein Denkinstrument, um etwas präzise "ins Auge zu fassen."
Und Thomas ist der vielleicht wichtigste Repräsentant unseres heutigen Denkens in den Kerntexten des Christentums.

"Maria Magdalena sieht zwei Engel dort, wo der nun verschwundene Leichnam Jesu gelegen hat. Vor ihr hatten bereits Petrus und Johannes die Grabkammer in Augenschein genommen und nichts gesehen außer Leinenbinden und Schweißtücher. Anscheinend sehen alle drei dasselbe, aber nur Maria begreift, worum es sich in Wirklichkeit handelt. Und als Thomas eine Woche später sagt, das glaube er erst, wenn er's mit eigenen Augen gesehen habe, geht es ihm weniger ums das Sehen an sich, sondern um die "eigenen" Augen. Kurz: Er misstraut seinen Freunden."

Glenn Most ist Professor, unterrichtet Griechische Philologie in Pisa und Sozialwissenschaften in Chicago und hat im Münchner C.H.Beck-Verlag ein Buch veröffentlicht, das sich 315 Seiten lang akribisch mit einem einzigen Kapitel des Johannes-Evangeliums beschäftigt: Der Geschichte von den Reaktionen der Jüngerinnen und Jünger auf die Auferstehung Jesu.

""Rühr mich nicht an!" hatte Jesus zu Maria Magdalena am Gartengrab gesagt. Jetzt erscheint Jesus dem Thomas in einem verschlossenen Raum und fordert ihn genau dazu auf: "Sieh meine Nägelmale, berühre meine Seitenwunde!" Ein Mensch geht nicht durch Wände und ein Gott hat keine frischverschorften Wunden. Was, besser, wer ist dann dieser Auferstandene? Berührt Thomas Jesus nicht, bleibt von Jesus der Eindruck einer Geist-Erscheinung und die Auferstehung war nicht mehr als eine religiöse Vision. Berührt er ihn aber, zerbricht die Logik des Erzählers Johannes an einem inneren Widerspruch, denn er will uns doch die Auferstehung Jesu argumentativ glaubhaft machen."

Hat Thomas also den Finger so selbstverständlich in die Wunde gelegt, dass es Erzähler Johannes nicht extra erwähnt? Oder hat er ihn gerade nicht in die Wunde gelegt, weil es nach jüdischen Reinheitsvorschriften verboten und obendrein ekelhaft gewesen wäre, weil ihn die Erscheinung Jesu, weil ihn der vertraute Friedensgruß, das persönliche Angesprochenenwerden und das nachsichtige Eingehen auf seine überhebliche Forderung längst überwältigt hatten ? "Mein Herr und mein Gott!" ruft der nun nicht mehr ungläubige Thomas aus.

""Thomas sieht einen Menschen und er bekennt einen Gott" hat Kirchenvater Augustinus über diese Szene gesagt. Martin Luther verwirft alle Legendenbildungen über das Tun und Lassen des Jüngers Thomas als "erstunken und erlogen" und konzentriert sich auf das, was Jesus tut : Er offenbart sich dem ehrlichen Zweifler als wahrer Mensch und wahrer Gott."

Das Buch "Der Finger in der Winde" von Glenn W. Most fügt solchen spannenden exegetischen, sprach- und erkenntnistheoretischen Erörterungen eine ebenso detailversessene Untersuchung der sogenannten "apokryphen" Textquellen hinzu. Jener Texte also, die zeitgleich entstanden, aber nicht in die Bibel mit aufgenommen wurden. Nach der Zusammenfassung von Thomas-Legenden aus 1500 Jahren Kirchengeschichte folgen Bild-Interpretationen der Thomas-Szene aus ebenso vielen Jahrhunderten Kunstgeschichte. Das, mit Verlaub, erfordert viel guten Leserwillen, bis man zu Mosts Schluss- und Kernsatz gelangt ist:

"Wir wissen, dass wir sterben werden und dass alle, die wir lieben, ebenfalls sterben werden. Das hindert uns nicht daran, zu leben und zu lieben. In diesem Sinne sind wir alle – gescheiterte Skeptiker. Wie Thomas."

Glenn W. Most: Der Finger in der Wunde - Die Geschichte des ungläubigen Thomas
C.H. Beck Verlag
315 Seiten, gebunden, 26, 90 Euro