Essay

Jenseits der Denkpfade

Miteinander verkabelte Schuhe liegen auf dem Boden einer Museumshalle. Ein schwarz gekleideter Mann läuft durchs Bild.
Die Installation "Master of Arguments" des Hongkonger Künstlers Paul Chan in der Ausstellung "Selectes Works" im Schaulager Basel. © picture alliance / dpa/ Walter Bieri
Von Carmela Thiele · 27.05.2014
Was Kenner an dem Künstler Paul Chan schätzen, ist die intellektuelle Verbindung von Kunst und Reflexion, die sich in vielen Texten des Autors niederschlägt. Diese Schriften liegen nun erstmals auf Deutsch vor.
In New York zeichnen sich Trends früh ab, vor allem in der Kunst. Dies bestätigt auch der Band ausgewählter Schriften von Paul Chan, Aktivist, Autor und Künstler in einer Person. In seinen Texten, die meist auf Anfrage renommierter Zeitschriften wie "October", "Frieze" oder "e-flux journal" entstanden sind, analysiert er den Zustand der zeitgenössischen Kunst. Für ihn gibt es keine starren Grenzen mehr, weder zwischen den künstlerischen Disziplinen noch zwischen Politik, Wissenschaft, Philosophie und der Kunst. Mit bewundernswerter Leichtigkeit nutzt Chan die unterschiedlichsten Quellen für seine Reflexionen: die Bibel, Platon, Hegel, Nietzsche, aber auch Sentenzen von Außenseiter-Künstlern wie Henry Drager.
2010 wurde er in Europa bekannt
In Deutschland ist Paul Chan höchstens Kunstexperten ein Begriff. Er wurde 1973 in Hongkong geboren und wuchs in Nebraska, USA auf. 1996 schloss er sein Studium an der Art Institute of Chicago School ab, 2002 folgte der Master am Bard College, New York. Im selben Jahr reiste er mit dem "Iraq Peace Team" nach Bagdad, um mit friedlichen Mitteln den Angriff der USA auf den Irak zu verhindern. Doch erst 2010 wurde er in Europa bekannt, als die Schweizer Kunstzeitschrift "Parkett" Texte von und über Paul Chan publizierte. 2013 nahm er an der Documenta in Kassel teil, derzeit widmet ihm das Baseler Schaulager eine monumentale Einzelausstellung.
Der Stiftung Schaulager ist auch die Publikation der Texte Chans zu verdanken, hervorragend übertragen von Suzanne Schmidt, Tarcisius Schelbert und Nikolaus G. Schneider. Ohne sie sind die komplexen, von de Sade und Samuel Beckett inspirierten Videoanimationen, Zeichnungen und Installationen des Amerikaners nicht zu verstehen. Allerdings soll man sie auch gar nicht verstehen, sondern als Störung empfinden. "Ein Werk funktioniert, wenn es überhaupt nicht funktioniert", schreibt Chan in seiner antithetischen Logik. Der bürgerlichen Vorstellung, Kunst diene zur persönlichen Erbauung, erteilt er unmissverständlich eine Absage. Chans Kunst ist provokativ und aggressiv, er überzeichnet die gesellschaftlichen Zustände. Kunst in seinem Sinn ist gegen umfassende Deutungen immun.
Offenheit und Liebe zu Menschen und Dingen
Eigentlich wollte sich Chan 2009 aus der Kunstszene zurückziehen, wie es schon Marcel Duchamp getan hatte. Er gründete mit Freunden den Verlag "Badlands Unlimited", in dem er eigene Texte, aber auch Gedichte von Yvonne Rainer oder Gespräche mit Duchamp herausgab. Dann kam die Einladung der Stiftung Schaulager zur Ausstellung. Dennoch ist Paul Chan eher ein Mann des Buches und die Sprache sein intimstes Ausdrucksmittel. In Texten drückt er seine Offenheit und Liebe zu Menschen und Dingen aus, auch seine Verzweiflung angesichts einer sich seiner Meinung nach zur Technokratie wandelnden USA.
Meist kreist Chans Denken um die Frage: Wie soll ich leben? In einem Text zu Sigmar Polkes Kirchenfenstern für das Großmünster in Zürich wird ihm das Christentum mit seinen zehn Geboten zu einer Art angewandter Lehre Platons - beides sei aus ethischen Erwägungen heraus entstanden. In den aus Achatscheiben zusammengesetzten Fenstern sieht Chan zugleich Urknall und Genesis verkörpert. Gegensätze schließen sich für ihn nicht aus, sie sind vielmehr der Motor seiner letztendlich romantischen Wahrheitssuche. Das sorgfältig edierte Buch ist eine unerschöpfliche Fundgrube für all jene Leser, die gern eingetretene Denkpfade verlassen.

Paul Chan: Selected Writings 2000-2014
Aus dem Englischen von Suzanne Schmidt, Tarcisius Schelbert und Nikolaus G. Schneider
Laurenz Foundation Schaulager und Badlands Unlimited, 2014
412 Seiten, 19,80 Euro

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