Prekäre, Pragmatiker, Weltverbesserer

Die neuen deutschen Wählerstämme

29:21 Minuten
Vier Wahlplakate v.l.n.r. der Parteien: SPD mit der Aufschrift: Kanzler für bezahlbares Wohnen - Wahlplakat der Partei Bündnis 90/Die Grünen mit der Aufschrift: Annalena Baerbock - Zukunft passiert nicht. Wir machen sie. - Wahlplakat der Partei Die Linke mit der Aufschrift: Für Millionen, nicht für Millionäre - Wahlplakat der FDP (mit der Aufschrift: Freiheit hat Verbündete.
Es gibt kaum noch Stammwähler, dafür aber immer mehr Wählerstämme. © picture alliance / dpa / Revierfoto
Von Ulrike Köppchen · 13.09.2021
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Wahlprognosen sind schwierig geworden: Die alten Großmilieus haben sich aufgelöst. Dafür gibt es neue Wählergruppen. Verschiedene Forscher machen verschiedene Grundtypen aus. Sie bilden sich entlang kultureller Konfliktlinien.
Deutschland wenige Wochen vor der Wahl. Sie hätte die langweiligste aller Zeiten werden können, so klar schien der Vorsprung der Union lange Zeit. Doch dann stolpert die Konkurrenz und die Umfragewerte des SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz schießen nach oben – und mit ihm die der SPD. 25 Prozent oder mehr, damit hätten vor einigen Monaten wahrscheinlich nicht einmal die eingefleischtesten und optimistischsten Sozialdemokraten gerechnet.
"Derzeit ist die Situation sicherlich so volatil wie noch nie vor einer Bundestagswahl", sagt der Politik- und Meinungsforscher Richard Hilmer, Chef des Politikforschungs- und -beratungsinstituts "policy matters". Zuvor war er viele Jahre lang Geschäftsführer von infratest dimap. Eine Prognose über den Ausgang der Bundestagswahl wagt er nicht.
Es ist schwierig geworden für Meinungsforscher: Die alten gesellschaftlichen Großmilieus wie Arbeiterschaft oder Katholiken sind weitgehend verschwunden. Bei denen konnte man zuverlässig vorhersagen, wen sie wählen. Überhaupt gibt es kaum noch Stammwähler, dafür aber immer mehr Wählerstämme, die einander spinnefeind gegenüberstehen: Veganer, Dieselfahrer, Ausländerhasser, Querdenker, Klimaschützer.
Wie aber lässt sich eine Gesellschaft der Singularitäten sortieren? Zum Beispiel, indem man sie anhand bestimmter sozialpsychologischer Dispositionen wie Moralvorstellungen oder Autoritarismus in Gruppen einteilt und so "verborgene Stämme" – identifiziert.
Mit diesem Instrumentarium hat 2018 erstmals die US-Studie "Hidden Tribes" gearbeitet – ein Versuch, die Dynamik der enormen Polarisierung in der amerikanischen Gesellschaft zu verstehen. Konzipiert und durchgeführt hat sie der Thinktank More in Common. Inzwischen liegt auch für Deutschland eine solche Studie vor.
"Wir sind in der Gipsstraße in Berlin-Mitte, in einem kleinen dreieckigen Park, der wie ein Dorfplatz fungiert: für die Nachbarschaft und für die Menschen, die hier arbeiten. Ein hochpreisiger Dorfplatz!", erklärt die Geschäftsführerin von More in Common Deutschland, Laura-Kristine Krause. Wir treffen uns, in Berlins schicker Mitte, alles saniert, alles schöngemacht. Andererseits: Auf dem Platz liegt ziemlich viel Müll herum, und die wenigen Frauen, die so früh schon mit ihren Kindern auf dem Spielplatz sind, sind keineswegs die sprichwörtlichen Latte-Macchiato-Muttis.
"Ehrlicherweise war das sogar eine relativ bewusste Entscheidung, hier zu sein und jetzt nicht in so nem Bezirk wie Kreuzberg oder so und wir wollten auch nicht direkt beim Bundestag um die Ecke sitzen, sondern wir wollten schon in einer Gegend sitzen, wo es durchmischt ist."

Sechs Grundtypen in der deutschen Gesellschaft

Laura-Kristine Krause ist Politikwissenschaftlerin und hat die Deutschlandstudie von More in Common geleitet. Sie hat in der deutschen Gesellschaft sechs Grundtypen identifiziert: Offene, Wütende, Pragmatische, Enttäuschte, Involvierte und Etablierte.
Buntes Balkendiagramm, das die Verteilung der gesellschaftlichen Typen in Deutschland verdeutlicht.
Von "offen" bis "wütend": Sechs gesellschaftliche Typen hat die Studie von More in Common ausgemacht - und alle Gruppen sind fast gleich groß.© More in Common (2019)
Autorin: "Mit wem habe ich es hier eigentlich zu tun? Also welche Typen unterhalten sich denn jetzt hier gerade? Man kann ja auf Ihrer Website einen Onlinetest machen, den habe ich natürlich gemacht."
Laura Krause: "Ich versuche das eigentlich immer nicht zu sagen, um die Leute nicht zu beeinflussen."
Autorin: "Ich fände es aber gut, wenn wir das jetzt mal beide sagen würden, weil das vielleicht schon ein Problem deutlich machen könnte. Okay. Wer zuerst?"
Laura Krause: "Sie!"
Autorin: "Ich bin der offene Typ und Sie?"
Laura Krause: "Liegt sehr nah dran."
Autorin: "Warum haben wir das voneinander erwartet?"
Laura Krause: "Die Offenen sind – das wissen wir aus unseren Daten – sind akademisch gebildet, eher städtisch, sind progressiv orientiert, und es ist einfach ein Milieu, was man in Berlin durchaus häufig vorfindet."
Autorin: "Warum sagen Sie es über sich selber nicht so gern?"
Laura Krause: "Weil mir total wichtig ist, in dieser Arbeit den Perspektivenwechsel zu machen und den Schritt von mir selber wegzugehen, und das ist ja im Grunde das, wozu wir versuchen, alle anderen auch zu motivieren: dass man seine eigene Weltsicht, seine eigene Werteprägung zur Kenntnis nimmt und sich bewusstmacht, dass man auf eine gewisse Art und Weise geprägt ist, aber sich klarmacht, dass andere Menschen die Dinge durchaus durch eine andere Brille betrachten."

Fast jeder Fünfte zählt zu den Wütenden

Vor allem die Wütenden. Zu denen zählt laut der Studie fast jeder Fünfte.
"Die Wütenden haben eigentlich ein ganz unauffälliges Einkommensprofil, die sind aber wirklich wütend aufs System, die sind wütend auf die Politik und die lehnen das System im Ganzen ab."
Das sind dann alles AfD-Wähler? Sie wählen schon am häufigsten die AfD, sagt Laura-Kristine Krause. Aber sie warnt davor, von dieser Typeinteilung auf Wahlverhalten zu schließen. Auch die Offenen seien keineswegs alle bei den Grünen zu finden, betont sie. sondern da sind genauso gut zum Beispiel FDPler dabei. Und auch die Wut kann in viele Richtungen gehen und viele Gestalten annehmen.
Berlin, Leipziger Platz. Es ist mal wieder Protestwochenende in der Hauptstadt. Aus allen Teilen der Republik sind sie gekommen, um ihren Unmut herauszuschreien: über Impfzwang, darüber, dass sie gezwungen werden, Masken zu tragen, dass ihre Kinder nicht in die Schule dürfen – und über eine Regierung, die ihnen das Demonstrieren verbietet. Doch die "coronakritische" Partei "Die Basis" hat sich das Recht zum Abhalten dieser Kundgebung vor dem Verwaltungsgericht erstritten.
Ein buntes Volk hat sich hier auf der Wiese vor der "Mall of Berlin" zusammengefunden: Esoterikerinnen, Friedensfreunde, junge Sachsen mit schwarzen T-Shirts, auf denen steht "Lockdown bis zum Endsieg". Eine ältere Frau verteilt christliche Erweckungsliteratur, eine andere spielt auf der Blockflöte "Die Gedanken sind frei". Hier sieht zwar alles erstmal ganz friedlich aus. Eine Frau hat für ihre Kinder und zwei kleine Terrier eine Picknickdecke auf dem Rasen ausgebreitet. Zwischen den Teilnehmern wuseln Videostreamer herum, die die Veranstaltung ins Internet übertragen. Andere Medienvertreter sind dagegen nicht so gern gesehen.

Coronaprotestler – rechts, links, oder ganz woanders?

Eine Gruppe junger Leute, die Fotos macht, wird von einen Coronaprotestlern weggescheucht, und auch die Frau mit der Picknickdecke ist plötzlich gar nicht mehr so nett und brüllt in Richtung Journalisten: "Geht doch in die Rigaer Straße und spielt mit euren Corona-Puppen." Rigaer Straße, das ist in Berlin ein Synonym für die linksradikale Szene, denn in dieser Straße gibt es nach wie vor besetzte Häuser.
Der Ton ist rau, nicht nur im Publikum. Der Redner auf der Bühne kündigt an, die Bundesregierung zu verklagen, da die Freiheitseinschränkungen durch die Coronamaßnahmen ein Verfassungsbruch seien. Und natürlich geht es immer wieder um die Gefahren des Impfens. Was ist das hier? Eine radikale Bürgerrechtsbewegung, kombiniert mit einer Art Aufstand von Bürgerwissenschaftlern, die in Internetforen Studien zu Corona zu alternativen Erkenntnissen debattieren und zu alternativen Wahrheiten verarbeiten. Ist das rechts? Ist das links? Oder ist es etwas ganz anderes?
Mehrere Menschen stehen vor einer Musikbox und tanzen ausgelassen.
Politisch nicht leicht einzuordnen: Demonstrierende gegen die Coronamaßnahmen in Berlin im August 2021.© imago images / epd
"Ich kenne keine Rechten bei uns. Also ich habe nicht einen Rechten bislang kennengelernt, und ich war bei vielen Veranstaltungen, und ich bin mit vielen vernetzt", erklärt Elena Krug. Sie ist Mitte 40, Mutter von acht Kindern und im Bezirksvorstand der Partei "Die Basis" im Bezirk Berlin-Mitte.
Daneben betreibt sie ein Geschäft für Handarbeitsartikel. Zwischen Kleiderpuppen, Strick- und Nähzeug aller Art zeigt sich Elena Krug im Vergleich zu anderen Mitgliedern der maßnahmenkritischen Szene relativ entspannt, was Corona betrifft: Ihre Kinder würde sie zwar keinesfalls impfen lassen, sagt sie. Sich selbst aber vielleicht schon. In fünf Jahren oder so, wenn es dann wissenschaftliche Beweise gebe, dass das notwendig sei. In ihren Augen sind die Coronamaßnahmen sowieso nur der Auslöser für die Gründung der "Basis".

Skepsis gegenüber repräsentativer Parteiendemokratie

"Eigentlich ist unser großes Ziel, Politik für alle zu machen, auch für die Leute, die denken, ach, mit Politik kann man sowieso nichts machen, sondern jeder soll sich angesprochen fühlen. "
Durch Basisdemokratie etwa nach Schweizer Vorbild. Nur dass bei der "Basis" nicht abgestimmt werden würde, sondern "konsensiert", wie es heißt.
"Konsensieren ist mit Widerstandspunkten arbeiten zum Beispiel. Wenn ich jetzt eine Frage stelle, und dann ist die Frage dazu auch, wie viel Widerstand habt ihr dagegen und zehn sind die maximalen Widerstandspunkte und null ist, wenn man komplett einverstanden ist und so würden, werden dann alle Widerstandspunkte quasi zusammengezählt. Und daraus ergeben sich ganz andere Ergebnisse, als wenn man nur Ja oder Nein sagen würde."
Der repräsentativen Parteiendemokratie steht Elena hingegen sehr kritisch gegenüber.
"Ich bin halt diese Generation, die so krass mit diesem Altparteiending aufgewachsen ist. Meine Tante, meine Großtante, war immer SPD. das war so ein typischer SPD-Haushalt. So, dann hat sie immer ihre Urkunden bekommen für die jahrelange Mitgliedschaft. Und deswegen hat für mich dieser Begriff Altparteien auch so dieses Altbackene, irgendwie dieses so aus irgendwelchen Strukturen nicht rauskommen."

Corona als neuer Spaltpilz der Gesellschaft?

Rechtsbruch, die Bundesregierung verklagen – solche Töne erinnern an die Situation 2015, als die Aufnahme von etwa einer Millionen Flüchtlingen und Migranten tiefe Gräben in der Gesellschaft aufriss und sich zwei große Lager unversöhnlich gegenüberstanden. Ist Corona der neue Spaltpilz der Gesellschaft?
Ein Konfliktfeld ist es schon, sagt der Meinungs- und Sozialforscher Richard Hilmer, der die Stimmungslage der Bevölkerung bezüglich Corona in einer Studie für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales im vergangenen Jahr untersucht hat. Aber mit ganz anderen Kräfteverhältnissen als 2015. Denn es ist nur eine Minderheit, die die Coronamaßnahmen als massive Einschränkung ihrer Individualität und ihrer bürgerlichen Rechte empfindet, sagt Hilmer.
"Das Problematische ist, dass sich sozusagen diese Anti-Establishment-Haltung der Rechtspopulisten bei der AfD teilweise verbindet mit denen der Querdenker, die auch so ein bisschen aus einer ganz anderen Motivation heraus, so eine gewisse Distanz zu der etablierten Politik haben, zu den Medien und sich eben auch nicht in ausreichendem Maße gehört fühlen und die durchaus ja auch in der Lage sind, sich Gehör zu verschaffen. Das sind ja zum Teil dann viele studierte Leute, Ärzte auch vielfach darunter. Das macht das Ganze natürlich schon sehr brisant."

Verhältnis zu großen Grundkonflikten der Gesellschaft

Eine Möglichkeit, Gesellschaft zu sortieren, ist auch, Gruppen danach zu bilden, wie sie sich zu den großen Grundkonflikten verhalten, die moderne Gesellschaften durchziehen. Hier hat die Forschung zwei große Konfliktachsen ausgemacht: Die eine bezieht sich auf sozioökönomische Fragen, kurz gesagt: Marktfreiheit versus Regulierung und staatliche Umverteilung von Wohlstand.
Das ist die klassische Links-Rechts-Achse, die aber inzwischen von einer zweiten Konfliktlinie überlagert wird: der Frage nach kulturellen Werten und Identität. Hier reicht das Spektrum vom Wunsch nach der offenen, liberalen Gesellschaft bis zu autoritären Vorstellungen. Anhand dieser beiden Achsen lassen sich Gruppen im politischen Raum verorten.
Aufnahme zweier Frauen von hinten. Beide tragen bedruckte T-Shirt mit der Aufschrift 'für unsere Kinder.' und 'Freiheit'.
Fast jeder Fünfte zählt zu den "Wütenden": Zwei Teilnehmende während eines Protests gegen die Coronamaßnahmen.© imago images / epd
Da gibt es dann solche, die kulturell offen und gleichzeitig marktorientiert sind, aber auch solche, bei denen kulturelle Offenheit mit Forderungen nach Marktregulierung einhergeht. Und natürlich auch kulturell konservative Gruppen, die gleichzeitig ökonomische Umverteilung fordern. Denn mit einem einfachen klassischen Links-Rechts-Schema lässt sich Gesellschaft heute nicht mehr erklären.
"Insofern tun sich die politischen Akteure sicherlich einen guten Gefallenen, auch selber sich mal kurz zurückzulehnen und die Dinge mal aus einer anderen Perspektive auch vielleicht zu betrachten und etwas ernster zu nehmen. Denn die gesellschaftlichen Veränderungen sind schon gravierend", sagt Richard Hilmer.

Forscher haben neun politische Milieus identifiziert

Neun politische Milieus haben die Forscher so für Deutschland identifiziert. Diese lassen sich wiederum in Untergruppen zusammenfassen, sortiert zum Beispiel nach ihrer grundsätzlichen Zufriedenheit mit dem politischen System und der gesellschaftlichen Entwicklung.
"Dann gibt's eben Typen, die sind mit den Gegebenheiten insgesamt sehr oder mehr oder weniger zufrieden. Das ist insgesamt insbesondere das engagierte Bürgertum", sagt Hilmer – das mit 18 Prozent auch die relativ größte Bevölkerungsgruppe ist: in der Regel gutsituierte Menschen, die sich als Garant der offenen Gesellschaft verstehen, aber nur mäßig Interesse an sozialer Umverteilung haben. Dieses Milieu ist ein Reservoir für die Volksparteien, vor allem für die CDU, aber inzwischen auch für die Grünen.
Ebenfalls grundsätzlich zufrieden mit den Verhältnissen ist die sogenannte "Kritische Bildungselite", mit 9 Prozent der Bevölkerung deutlich kleiner. Großstädtisch und akademisch geprägt, neigt sie politisch sehr stark der "Linken" und den Grünen zu. Und dann gibt es als dritte Gruppe noch die "Zufriedene Generation Soziale Marktwirtschaft".
"Das ist eher die ältere Generation, die eben sozusagen diese Erfolge der deutschen Marktwirtschaft nach dem Aufbau nach dem Kriege erlebt haben, die eben grundsätzlich positive Erfahrungen auch mitgenommen haben", so Hilmer weiter.
Politisch neigt diese Gruppe stark zu den Volksparteien, vor allem zur Union. Im Gegensatz zu den anderen zufriedenen Gruppen sind sie allerdings nicht eindeutig kosmopolitisch orientiert, sondern ihr Bezugsrahmen ist auch die Nation.

"Verunsicherte" stehen zufriedenen Milieus gegenüber

Diesen zufriedenen Milieus stehen drei Milieus gegenüber, die Hilmer als "Verunsicherte" charakterisiert: gesellschaftsferne Einzelkämpfer, verunsicherte Leistungsindividualisten und Konservative Besitzstandswahrer. Alle drei Milieus sind stark marktwirtschaftlich orientiert und ihr Bezugsrahmen ist der Nationalstaat. Politisch neigen sie dem liberalen bis rechten Spektrum zu. Und mit den Konservativen Besitzstandswahrern findet sich hier auch die finanziell am besten gestellte Gruppe der Gesellschaft.
"Da kann man sich hier ganz gut vorstellen, so das quasi Establishment in einer Kleinstadt durchaus auch mittleren Staat, der eben Apotheker, Ärzte, Unternehmer, Handwerker, auch ganz besonders Leute, die eben sozusagen sich sehr stark über Leistungen definieren. Die in der Gesellschaft auch tragende Rollen ausüben, die es natürlich auch in den Großstädten gibt und den Veränderungen der letzten Jahre durchaus etwas skeptisch gegenüberstehen, weil sie sozusagen fürchten, dass die Bedingungen ihres Wohlstands durchaus auch darunter leiden könnten. "
Noch 2006 seien 60 Prozent der Konservativen Besitzstandswahrer Unionsanhänger gewesen, sagt Richard Hilmer. 2018 dann nur noch 39 Prozent.
"Und daran merkt man schon, dass eben diese Verunsicherung dann durchaus auch ganz unmittelbaren Einfluss auf die Parteienlandschaft hat. – Wo sind die denn dann hingegangen? – Ja, da gab's Bewegungen seinerzeit, diejenigen, die sich insbesondere wegen der Migrationsfrage von der Union abgewandt haben, die waren ja durchaus auch in Teilen bereit, zur AfD zu gehen. Also da gab es schon eine gewisse Verschiebung, die allerdings jetzt wieder deutlich gestoppt wird, zum Teil sogar rückläufig war. Gerade in der Pandemie haben viele dieser Wähler sich wieder in der ganz praktischen Politik der Bundesregierung, auch gerade in der Merkelschen Politik wiedergefunden und sind zum Teil reumütig wieder zurückgekehrt. Allerdings wir haben auch gesehen, die letzten Erhebungen, das ist nach wie vor extrem volatil."

AfD-Wahlkampf in Gegenden mit hoher Arbeitslosigkeit

Jörg Schneider, mittelgroß, drahtig, mit blauem T-Shirt und Jeans, hat das hellblaue Käppi mit dem AfD-Logo aus dem Rucksack gekramt und aufgesetzt und geht mit einem Packen Flyer auf Wahlkampftour. "Deutschland. Aber normal" steht in dicken Buchstaben auf dem Titel, danach wird auf mehreren Seiten erklärt, was "normal" ist, zumindest aus Sicht der AfD: Mehr netto vom brutto, Grenzen schützen, ein Staat, in dem Recht und Ordnung herrschen.
Die Häuser, in deren Briefkästen Jörg Schneider seine Flyer wirft, sind schmucklos und bescheiden. Kleine Reihenhäuser und Wohnblocks, Stadthäuser, von deren Wänden zum Teil der Putz bröckelt. Gelsenkirchen hat den Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie nie verkraftet und ist heute eine der ärmsten Städte der Republik. Hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Pro-Kopf-Einkommen.
Und es ist eine migrantisch geprägte Stadt. Von den 260.000 Einwohnern haben 60.000 keinen deutschen Pass, weitere 35.000 sind Deutsche mit Migrationshintergrund. Eine alte SPD-Hochburg, in der die Sozialdemokraten seit vielen Jahrzehnten regieren. Noch bei der Bundestagswahl 2013 kam die SPD in Gelsenkirchen auf fast 50 Prozent. 2017 dann der Absturz um mehr als zehn Prozentpunkte. Und die AfD erzielte mit 17 Prozent der Zweitstimmen eines ihrer besten Ergebnisse in den alten Bundesländern.

AfD-Anhänger: "Man muss ja Protest wählen"

In der Fußgängerzone beim Bahnhof hat die AfD einen Wahlkampfstand aufgebaut: Ein weißer Plastik-Stehtisch mit einem blauen AfD-Sonnenschirm, ein Aufsteller mit dem Plakat "Integration braucht Leitkultur" und ein wackliges Holzpodest, auf dem Flyer liegen, an die Kugelschreiber mit AfD-Logo angeklemmt sind. Außerdem ein Haufen Einkaufschips in Gestalt von 1-DM-Stücken aus Plastik. Ein älterer Mann mit halblangen weißen Haaren kommt zum Stand, nimmt sich einen Flyer und lässt den Stift liegen.
Passant: "Ich wollte eigentlich nur so’n Ding haben."
AfD-Wahlkämpfer: "Nehmen Sie doch einen Stift!"
Passant: "Was soll ich mit nem Stift?"
AfD-Wahlkämpfer: "Was für den Einkaufswagen?"
Passant: "Was ist denn das? Ach so, die alte Deutsche Mark. Ja, die brauchen wir. Ich wähle euch ja sowieso schon ein paar Jahre. Das geht nicht so weiter hier bei uns."
AfD-Wahlkämpfer: "Ja, in Gelsenkirchen sind wir gut aufgestellt. Wir haben elf Leute im Rat, stärkste Oppositionskraft."
Passant: "Immer beide Stimmen mache ich. Man muss ja Protest wählen, das geht ja nicht so weiter. Die kommen hier alle rein. Und dann stehst du da. Gerade hier in Gelsenkirchen. Du kannst nicht mal fünf Meter laufen, und schon wirst du überfallen."

Kritische Haltung zur Europäischen Union

Auch Jörg Schneider ist am Wahlkampfstand. Er ist der Direktkandidat der AfD für Gelsenkirchen und sitzt für seine Partei seit 2017 im Bundestag, gewählt über Landesliste.
"Jörg Schneider, 57 Jahre alt, geboren gar nicht so weit von hier, in Solingen, nach dem Abitur bin ich dann zur Bundeswehr gegangen, habe dort Maschinenbau studiert, habe die Bundeswehr dann als Offizier, als Hauptmann verlassen, habe dann lange in der IT-Branche gearbeitet, und bin ungefähr vor zehn Jahren hier im Seiteneinstieg Lehrer an einem Berufskolleg geworden, ich war gerade mit dem Referendariat fertig, da wurde die AfD gegründet und habe mich dort von Anfang an auch engagiert und habe es dann 2017 in den Bundestag geschafft."
Schon als Schüler sei er von Franz Josef Strauß begeistert gewesen, sagt er, und dass er viele Jahre in der CDU gewesen sei. Nur war die dann irgendwann nicht mehr dort, wo er politisch stand. In die AfD trat er ein, sobald es sie gab – mit der Mitgliedsnummer 751.
"Das war noch ne Bernd-Lucke-AfD, aber sie hat ja auch damals schon viele Punkte vertreten, die eigentlich so der Kern unseres Programms sind, das war damals schon eine gewisse kritische Haltung zur Europäischen Union und die Forderung, diese doch zu reformieren, wieder ein Stück weit zurückzuführen zu einer Wirtschaftsgemeinschaft, zu einer Freihandelszone. Das war das klare Bekenntnis zu einer gesteuerten Einwanderungspolitik."

Ältere, einfach Gekleidete am AfD-Stand

Ein junger vermutlich türkischstämmiger Mann streckt den AfD-Wahlkämpfern seinen deutschen Personalausweis entgegen.
Junger Mann: "Ey, Leute, ich bleibe hier. Mit deutschem Pass, ihr könnt gar nichts machen. Ich bleibe hier."
AFD-Wahlkämpfer: "Ist doch schön." – "Ist der neu?"
Junger Mann: "Nee, hab ich schon immer."
AFD-Wahlkämpfer: "Du freust dich trotzdem?
Junger Mann: "Natürlich. Weil Sie nix machen können. Wir bleiben alle hier. Deutschland ist unser Land."
AfD-Typ: "Ja. Das sind so Sachen, wo man sich auch schon mal ärgern könnte."
Szenen wie diese passieren an diesem Nachmittag am Wahlkampfstand nur selten. Die meisten, die zum Stand kommen, sind Ältere, einfach Gekleidete, die ihr Leben wohl eher nicht überwiegend auf der Sonnenseite gestanden haben. Viele Passanten gehen achtlos am Stand vorbei, manche lassen sich einen Flyer in die Hand drücken – darunter auch der eine oder andere mit Migrationshintergrund.
Klar seien das eher nicht ihre Wähler, sagt einer der Wahlkämpfer am Stand: "Ich sag‘s Ihnen mal ganz deutlich. Ich sag‘s mal ein bisschen übertrieben: Der assimilierte Ali – in Anführungsstrichen – und von denen gibt es auch ein paar, aber zu wenige, der ist mir doch zehnmal lieber als ein linksgrüner biodeutscher Deutschlandhasser. Verstehen Sie was ich meine, verstehen Sie? Wer ist mir denn lieber? Jemand, der sagt, ich finde Deutschland zum Kotzen oder ein Einwanderer, der für dieses Land brennt."

SPD und Linke haben bei unteren Milieus verloren

Die AfD ist die neue Arbeiterpartei – mit dieser Einschätzung sorgte der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel 2019 für gehörigen Wirbel. Denn das wollten weder die alte Arbeiterpartei SPD noch viele andere aus dem linken Spektrum hören.
Aber SPD und auch Linkspartei ließen bei den letzten Wahlen bei den unteren sozialen Milieus gehörig Federn: Nur noch 9 Prozent des vor allem im Osten angesiedelten abgehängten Prekariat wählten die Linke. 2006 hatten sich noch 31 Prozent zu Linkspartei bekannt. Die SPD büßte bei der Wahl 2017 bei der "Desillusionierten Arbeitnehmermitte" und den sogenannten "missachteten Leistungsträgern" – zwei vor allem aus Arbeitern und einfachen bis mittleren Angestellten bestehenden Milieus – jeweils 16 Prozentpunkte ein. Und in diese Milieus brach die AfD massiv herein.
"Mittlerweile wählt so etwa die Hälfte des Prekariats eben AfD, aber auch missachtete Leistungsträger, also da sieht man schon da ist ein bisschen was auseinandergebrochen. Wichtig ist allerdings eben auch – das zeigen ja auch unsere Daten – das sind Leute, die sind jetzt nicht im Kern rechtsradikal oder antisemitisch oder eben fremdenfeindlich eingestellt, sondern es sind Leute, die eben sich durchaus auch im Verhältnis zu den Zugewanderten vernachlässigt fühlen."
Und die sich von der AfD vor allem eine kulturelle Heimat erhoffen. Denn alle drei unteren sozialen Milieus sind auf kulturellen Konfliktachse eher im konservativen Bereich angesiedelt, das Prekariat sogar sehr deutlich.

Wählerstämme uneins bei kulturellen Fragen

Wenn die deutschen Wählerstämme uneins sind, geht es heute fast immer um kulturelle Fragen: Wie offen soll die Gesellschaft sein? Brauchen wir Gendersternchen? Ist es okay, wenn man Zigeunerschnitzel sagt? Ist Migration eine Bereicherung oder eine Belastung? Wie viel Nation und wie viel Europa soll es sein? Über solche Fragen wird erbittert gestritten, viel heftiger als über Steuerpolitik und soziale Gerechtigkeit.
"Die gespaltene Gesellschaft ist ja in aller Munde und uns ist es da immer wichtig, ein bisschen die Zwiebelschichten abzuziehen und zu schauen, was ist an Spaltung jetzt wirklich da, wo sind veränderte Wahrnehmungen und wo hat sich vielleicht einfach auch der Fokus verändert? Was wir schon hören von allen unseren Typen und das ist wirklich unisono das Gefühl, es ist schwieriger mit Menschen ins Gespräch zu kommen, die andere Weltanschauungen und Meinungen haben als man selber, und dass der gesellschaftliche Ton rauer wird."

Typologie zeigt neue Dynamik in der Gesellschaft

Zurück bei Laura-Kristine Krause und ihrer Gesellschaftstypologie von Offenen, Etablierten, Pragmatischen, Wütenden, Enttäuschten, Involvierten.
"Diese sechs Typen haben uns ermöglicht, eine Dynamik in der Gesellschaft zu sehen, die in Teilen eben neu war, nämlich zu sehen, dass es eine Dreiteilung in der Gesellschaft gibt. Es gibt einmal die gesellschaftlichen Pole. Das ist das, was wir oft wahrnehmen: Es gibt eben eine Spaltung in links-rechts, dass das der Konflikt ist, der unsere Gesellschaft prägt", sagt sie.
"Das ist eigentlich was, was wir nur bei zwei der sechs Typen gefunden haben, nämlich die Offenen und die Wütenden, das Spannende eigentlich zwischen den Offenen und den Wütenden ist: Die brauchen sich gegenseitig als Feindbild. Die haben sich auch gegenseitig als Feindbild. In der Fokusgruppe der Wütenden ging es mit am meisten um die Grünen, andersherum ging es dann bei den Offenen – ehrlicherweise nicht ganz so stark – zum Beispiel um die AfD. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte. Für die meisten Menschen in unserem Land ist das nicht das Thema."

Laute Stimmen der "Wütenden" und der "Offenen"

Aber wenn man den Fernseher einschaltet oder Twitter, gewinnt man leicht den Eindruck, als sei die ganze Gesellschaft heillos über diese Punkte zerstritten. Stimmt aber gar nicht, meint Laura Krause:
"Wir nehmen das wahr, was laut ist. Die Wütenden sind laut, die Offenen sind laut, die wollen was. Menschen, die das für sich gar nicht unbedingt als ihre Rolle betrachten, die vielleicht auch sagen, ich kenne mich gar nicht so aus mit Politik, die stellen sich auch nicht hin und formulieren politische Forderungen…"
… sondern sind zum Beispiel – wie ein weiteres Drittel der Gesellschaft – einfach sehr zufrieden mit den Verhältnissen.
Auf einem Platz erstrecken sich viele Laternenmaste in die Höhe, an denen viele Wahlplakate hängen.
Wahlplakate zur Bundestagswahl: Laura Krause hat gelernt, dass viel auf die richtige Ansprache ankommt.© imago images / penofoto
"Und last but not least haben wir zwei Typen gefunden, für die all das nicht gilt, sondern für die vor allen Dingen gilt, dass sie sozial schlecht eingebunden sind und auch politisch nicht so gut eingebunden sind, also häufig nicht wählen. Das sind die Pragmatischen und die Enttäuschten, die in sich durchaus unterschiedlich sind, aber in der Form was gemeinsam haben: Eigentlich sind die unsichtbar. Über die reden wir nicht, die kommen politisch nicht vor, und die haben wir das unsichtbare Drittel genannt, weil die zusammen eben ein Drittel der bundesdeutschen Gesellschaft ausmachen."
Die sieht man weder im Fernsehen noch bei Twitter. Aber zivilgesellschaftliche Organisationen, die zum Beispiel in Sachsen vor Ort mit der Bevölkerung arbeiten, sehen sie.

Auf die richtige Ansprache kommt es an

Und da hat Laura Krause außerdem gelernt, dass viel auf die richtige Ansprache ankommt: "Zum Beispiel schon der Begriff Vielfalt. Oder wenn Sie jetzt auf die Wahlplakate schauen, da stehen Begriffe drauf, die für manche Menschen ein unglaublich positiver Begriff sind und für andere eher nicht so", sagt sie.
"Zum Beispiel haben wir die Typen auch gefragt, wie sie sich Deutschland wünschen, und die Offenen heißen auch deshalb Offene, weil sie der einzige Typus sind, der vehement den Begriff der Weltoffenheit eingefordert hat in unseren Befragungen. Die Enttäuschten und die Wütenden können mit dem Begriff nichts anfangen, da spielen andere Dinge eine viel größere Rolle. Und deswegen ist ganz oft unsere Empfehlung, sich von diesen Begriffen auch ein Stück weit zu lösen. "
Das heißt ja nicht, dass man sich von dem dahinterstehenden Ziel lösen müsse. Aber wer Gesellschaft breit erreichen wolle, dürfe nicht nur in Richtung der eigenen Basis kommunizieren, sondern müsse auch Menschen erreichen, die anders ticken als man selber.
"Keiner unserer sechs Typen hat eine gesellschaftliche Mehrheit, das macht mich auch bescheiden, denn ich bin ja nicht in der Mehrheit, kein Typ kann für sich in Anspruch nehmen, das Volk oder die Menschen hinter sich zu haben, sondern es geht immer darum, den Brückenschlag oder die Klammer zu schaffen zwischen Menschen, die unterschiedlich sind, und dafür ist es eben wichtig, nicht nur nach innen zu kommunizieren, sondern auch zu überlegen, was andere umtreibt."

Es sprachen: Ulrike Köppchen, Philipp Lind
Ton: Christiane Neumann
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Martin Hartwig

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