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Minderjährige Islamisten in Frankreich
Jung, radikal und immer zahlreicher

Die Gefahr ist für die französischen Sicherheitskräfte kaum zu überblicken: Immer mehr muslimische Jugendliche radikalisieren sich immer schneller. Oft geschieht das über die sozialen Netzwerke. Und es sind längst nicht mehr nur Jugendliche aus den sozial schwachen Vororten der Großstädte, die den Gewaltaufrufen der Islamisten folgen.

Von Marcel Wagner | 20.09.2016
    Französische Soldaten patrouillieren am 15. August 2016 vor der Pariser Kathedrale Notre Dame.
    Französische Soldaten patrouillieren vor der Pariser Kathedrale Notre Dame. (afp / Alain Jocard)
    Die Schüler des Gymnasiums im 20. Pariser Arrondissement wollen es gar nicht richtig glauben. Einer ihrer Klassenkameraden ist von einer Spezialeinheit der Polizei festgenommen worden. Er soll einen Anschlag geplant haben. Unmittelbar, wie es aus Ermittlerkreisen heißt.
    Das hat mich umgehauen, sagt ein Mitschüler. So kannte ich ihn überhaupt nicht. Manchmal hat er von Religion geredet, aber das war nichts Schlimmes. Er hatte die besten Noten, wollte immer seinen Eltern gefallen, immer der Erste sein, sagt ein anderer.
    Die Spur führt zu Rachid Kassim, einem Propagandisten des IS
    Nicht nur die Klassenkameraden, ganz Frankreich fragt sich, was da aktuell im Gange ist. Der Schüler im 20. Arrondissement war bereits der dritte Jugendliche innerhalb nur einer Woche, den die Polizei wegen akuter Anschlagspläne festgenommen hat. Alle drei waren gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Alle drei haben sich offenbar schnell radikalisiert. Und bei allen führt die Spur zu Rachid Kassim, einem der führenden Propagandisten des sogenannten Islamischen Staates. Über den verschlüsselten Nachrichtendienst Telegram, so die Ermittler, nehmen er und andere gezielt und persönlich Kontakt zu Jugendlichen in Frankreich auf. Was dann abläuft, erzählt der Anwalt eines der drei festgenommenen Jugendlichen:
    "Der Junge ist diesem Kanal von Rachid Kassim beigetreten. Der hat ihn dann gezielt beeinflusst, er ist quasi abhängig von ihm geworden und hat in dieser virtuellen Sphäre eine Besessenheit für die Sache des Islamischen Staates entwickelt."
    Für die Sicherheitskräfte ist diese Bedrohung kaum mehr zu überblicken. Immer schneller werden die Jugendlichen in immer größerer Zahl radikal. In den letzten Monaten wurde gegen mindestens 56 Minderjährige wegen Terrorverbindungen ermittelt. Und sie sind immer schneller bereit, sofort zur Tat zu schreiten, erläuterte die ehemalige Anti-Terrorismus-Richterin Béatrice Brugère kürzlich im französischen Fernsehen:
    Jugendliche seien leichte Beute
    "In der Strategie des Islamischen Staates sind die Jugendlichen zur leichten Beute geworden – anfällig, auf der Suche und leicht zu beeinflussen, das Ganze beschleunigt durch die Sozialen Netzwerke, denen die Jugendlichen sowieso zugetan sind."
    Besondere Probleme, so Brugère, bereite dabei die Tatsache, dass es längst nicht mehr ein Profil gebe, dem die radikalisierten Jugendlichen entsprächen. So stammen zwar viele Terrorverdächtige immer noch aus den sozial schwächeren Vororten französischer Großstädte und fühlen sich aufgrund ihres Migrationshintergrunds und ihres muslimischen Glaubens diskriminiert.
    Immer mehr Jugendliche aus der Mittelschicht
    Aber es werden immer mehr Jugendliche auch aus der Mittelschicht radikalisiert, die ganz andere, oft persönliche Brüche erlebt haben. Und es sind mittlerweile auch viele junge Frauen, die selbst Attentate verüben wollen. So stand etwa eine 19-jährige Terrorverdächtige, die kürzlich mit Komplizinnen versucht haben soll, in der Nähe der Kathedrale von Notre Dame in Paris ein Auto in die Luft zu sprengen, laut Ermittlern ebenfalls in Kontakt mit Rachid Kassim.
    Lassen sich solche Anschläge vorhersehen – oder gar verhindern? "Das ist nicht kompliziert," antwortet Terrorismus Expertin Béatrice Brugère, "das ist schlicht nicht möglich! Und das müssen wir akzeptieren."