Sportklettern wird olympisch

Nicht der Gipfel lockt, sondern Medaillen

22:51 Minuten
Christoph Hanke klettert im März 2018 mit einem Seil gesichert an einer Kletterwand. Sein rechtes Bein hängt in der Luft, mit den übrigen Extremitäten hält er sich fest und stützt sich ab.
Der Klettersport ist in den Hallen der Großstädte angekommen und boomt gewaltig. © picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Von Günter Herkel · 28.04.2019
Audio herunterladen
Klettern ist urbaner Trendsport – Prognosen sehen ihn bald gleichauf mit Beachvolleyball. Bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio werden erstmals Kletterer dabei sein. Doch diese Entscheidung hat in der Szene nicht nur Begeisterung hervorgerufen.
Ein Industriepark in Berlin-Schöneberg. Hier wird nicht nur produziert, sondern auch trainiert: Es gibt einen Tennisplatz, eine Beachvolleyballanlage, ein Fitness-Studio. Und Bright Site, das Boulder-Project von Fabian Ludwig. 800 Quadratmeter Indoor-Fläche, dazu ein noch etwas größerer Außenbereich. Jetzt, in den Osterferien, herrscht auch tagsüber im ersten Stock des Gebäudes lebhafter Betrieb. Auf einem Parcours unterschiedlicher Wandformationen erproben Jugendliche und junge Erwachsene in der Halle ihre Kletterkünste.
"Das ist eigentlich so unser Kernstück hier von der Halle. Der Innenbereich, der ist den ganzen Winter über hochfrequentiert."
Fabian Ludwig, Mitinhaber der Halle. Er bouldert seit 16 Jahren und gilt als einer der Pioniere im professionellen Routenbau. Hinter den unterschiedlich großen und farbigen Griffen, so erklärt er, steckt durchaus System.
"Wir geben Schwierigkeitsbereiche für eine Farbe an. Das bedeutet: Bei uns sind die leichtesten Touren, die sind in Gelb geschraubt, die zweite Farbe mit der etwas höheren Schwierigkeit ist dann Blau, dann kommt bei uns Orange, dann kommt Grün, Braun, Rot, Weiß und Schwarz."
Einer von zwei gemeinsam aktiven halbwüchsigen Jungen versucht sich gerade an einer mit roten Griffen gespickten Wand, rutscht ab und klatscht – zur Gaudi seines Gefährten - auf die 30 Zentimeter dicke Bodenmatte.
"Die Abstände sind größer, die Bewegungen sind wesentlich komplexer. Manchmal muss man auch mit Fuß und Hand gleichzeitig was machen. Daraus ergeben sich dann die Schwierigkeiten."

Das Training fordert Körper und Geist

Bouldern ist eine Sparte des Sportkletterns, wahrscheinlich derzeit die beliebteste. Vor allem unter jungen Leuten ist Bouldern in den letzten Jahren sehr populär geworden. Allein in der Hauptstadt existiert fast ein Dutzend Hallen, in denen der Sport ganzjährig betrieben werden kann. Pia Rauschenberger ist seit acht Jahren dabei.
"Ich bin über Freunde dazu gekommen, weil das damals gerade anfing, so'n Trend zu werden, glaube ich."
Bei der 29-jährigen Radiojournalistin dauerte es eine Weile, bis aus Neugier Passion wurde.
"Weil man sich am Anfang eben auch so fühlt wie ein nasser Sack an der Wand. Und nach vielleicht so zehn mal Klettern in der Halle, dann hab' ich irgendwann gemerkt, jetzt langsam fängt das Gefühl an, dass ich mich an der Wand nicht immer so ausgeliefert fühle, sondern dass ich mich agiler fühle und irgendwie weiß, wie ich mich bewegen muss und wie ich mich drehen kann. Und ab dann hat’s eigentlich richtig Spaß gemacht."
Inzwischen geht sie jeweils einmal pro Woche bouldern und klettern. Klettern heißt im Fachjargon "Lead". Bei dieser Spielart, die schon etwas mehr Elemente des traditionellen Bergsteigens aufweist, werden mit Hilfe eines Seiles etwa 10 bis 20 Meter hohe Kunstwände erklommen.
Innenansicht der Kletterhalle des Deutschen Alpenvereins in Berlin im Jahr 2016: mehrere Personen trainieren an den Kletterwänden, andere stehen unten auf dem Boden. 
Kletterhalle des Deutschen Alpenvereins in Berlin im Jahr 2016© imago images / Sebastian Wells
"Beim Bouldern feilt man oft eher so an der Technik und auch Kraft, aber die Bewegungen, die man beim Bouldern macht, die sind oft 'n bisschen abgefahrener, sag ich jetzt mal, als beim Klettern. Dafür ist man beim Klettern halt länger in einer Route, und da geht’s dann vielleicht mehr um Ausdauer und Kondition.
Klettern – damit verband man früher vor allem selbstkasteiende Ausflüge in die Berge. Oder sportliche Höchstleistungen von Gipfelstürmern à la Reinhold Messner. Doch seit der Sport von den Berghängen der Alpen und Mittelgebirge abgestiegen und im Tal angekommen ist, in den Hallen der Großstädte, boomt er gewaltig. Im immer enger getakteten Alltag der Menschen bietet das Klettern die Möglichkeit, nahe der eigenen Wohnung jederzeit kurzfristig ein intensives, Körper und Geist forderndes Training zu erleben.
"Klettern galt ja immer als Risikosportart. Und vor allem für die Freaks, die dann verrückte Sachen ohne Sicherung in den Bergen gemacht haben. Da haben ja ganz viele schon gesagt: Oh, Klettern – nee, das ist mir 'ne Spur zu krass. Das hat sich ja total verschoben. Und heute kann das halt jeder ausprobieren mit maximaler Sicherheit."
Pia Rauschenberger: "Mich fasziniert eigentlich vor allem, dass das so ne Sportart ist, die viel Präzision erfordert, weil man eben sehr genau sein muss damit, wie man seine Füße setzt, und auch seine Hände, und wie man sich dann dreht. Diese Kombination aus Kraft und Technik und Balance, innerlicher Ruhe – die finde ich so spannend…"

Maximal vier Sportler eines Landes können sich qualifizieren

Längst hat sich das Klettern zum urbanen Trendsport gemausert. Allein in Deutschland, so schätzen Experten, erproben rund die 500.000 Menschen in Hallen und offenen Anlagen Geschick und Kraft an künstlichen Wänden. Wenn dieser Trend anhält, könnte dieser Sport bald eine ähnliche Rolle spielen wie Beachvolleyball. Das ist auch dem Internationalen Olympischen Komitee nicht verborgen geblieben. Ebenso wie Skateboarder und Surfer werden daher auch die Kletterer bei den kommenden Olympischen Spielen 2020 in Tokio ihr Debüt geben.
"Der Internationale Verband hat da natürlich schon lange dran gearbeitet, dass Klettern olympisch wird. Deswegen kam das für die Mehrheit der Kletterer sicherlich nicht ganz so überraschend."
Leistungssportdirektor Martin Veith:
"Natürlich musste dann mit der Entscheidung, dass das olympisch ist, im Alpenverein auch 'ne entsprechende Entwicklung angeschoben werden."
Veiths Dienstherr ist der Deutsche Alpenverein, der dieser Tage seinen 150. Geburtstag feiert. Seit 1984 gehört das Sportklettern offiziell zum Aktivitäten-Spektrum des DAV. Die Aufwertung zur olympischen Disziplin stellt den Verband vor einige Herausforderungen.
"Insgesamt ist natürlich das Leistungssportsystem professionalisiert worden, also nicht nur im Leistungssportpersonalbereich, sondern auch in den ganzen Maßnahmen, die vorgenommen werden. Also gerade Lehrgangssystem usw., die Anbindung an Leistungssportsysteme in Deutschland generell, Fördersysteme wie Olympiastützpunkte usw. – das wurde alles angegangen und strukturiert."
Innerhalb kürzester Zeit wurde ein Perspektivkader nominiert. Maximal vier Sportler eines Landes haben die Chance, sich in diesem Jahr für die Spiele zu qualifizieren. Die Auswahl könnte härter nicht sein: Bei der olympischen Premiere dürfen nur jeweils 20 Frauen und 20 Männer mitmachen. Die Zielvorgabe des DAV ist –angesichts der internationalen Leistungsdichte – einigermaßen ambitioniert. Wenn es gut läuft in der Qualfikation, wäre man gern mit zwei Männern und einer Frau dabei. Dafür lässt das federführende Bundesinnenministerium einiges springen, erläutert DAV-Sportdirektor Veith.
"Insgesamt haben wir schon einen ziemlich hohen finanziellen Aufwand. Der speist sich aus Bundesmitteln und aus Eigenmitteln. Und wir reden hier schon von einer Förderung für das Olympische Programm insgesamt von ca. 600.000 Euro."

"Klettern ist wahnsinnig vielseitig"

Für Nicht-Eingeweihte sind die organisatorischen Strukturen dieser jungen Sportart auf den ersten Blick schwer durchschaubar. Dabei unterscheide sich der Wettbewerbsbetrieb gar nicht so sehr von dem anderer Disziplinen, findet Veith.
"Wir haben momentan ein System: Wir haben 'ne Nachwuchswertung auf nationaler Ebene, und darüber hinaus haben wir dann Landesmeisterschaften, Regionalmeisterschaften und Deutsche Meisterschaften, die ein ganz normales Pyramidensystem zu Deutschen Meisterschaften hin darstellen."
Für Romy Fuchs dürften die Spiele in Tokio noch etwas zu früh kommen. Die 18-Jährige ist Mitglied im Jugend-Nationalkader."
"Ich find' beim Klettern – das hört einfach nie auf. Man kann seine eigenen Grenzen immer weiter nach oben bringen. Es ist vieles möglich. Es gibt den Wettkampfsport, es gibt das Felsklettern, es ist einfach wahnsinnig vielseitig."
Romy Fuchs, Mitglied im deutschen Nationalkader Klettern, zeigt ihr Können an einer Kletterwand. 
Romy Fuchs gehört zum deutschen Nationalkader Klettern und ist im März 2018 bei einer Pressekonferenz in München zur Olympia-Premiere der Sportart 2020 in Tokio dabei.© picture alliance / dpa / Sven Hoppe
Schon als Kind verbrachte sie mit den Eltern viel Zeit in den Bergen. Mit fünf Jahren probierte sie sich erstmals in einer Kletterhalle in München aus. Seitdem ist das Klettern ihre große Leidenschaft.
"Am Fels bin ich immer so in meiner Freizeit. Früher während der Schule in den Ferien. Oder wir haben auch im Bayern-Nationalkader immer Felsausfahrten gemacht. Weil ich mein, das ist ja schon irgendwo der Ursprung, und das ist auch 'ne gute Ergänzung zum Training, muss ich sagen."
Wer in die Leistungsspitze aufrücken will, muss einiges an Energie und Zeit investieren.
"Ich trainiere sowas wie 20 Stunden die Woche, würde ich sagen, mit Ausgleich und Laufen und solchen Sachen. Gerade liegt mein Fokus auf jeden Fall in der Halle, also Indoor-Klettern, weil für die spezielle Vorbereitung auf die Wettkämpfe ist das einfach notwendig."
Der Liebe zu den Bergen, zum Klettern in der Natur, bleibt sie dennoch treu. Das heißt, "… dass man auch mal für 'n Wochenende oder für 'ne Woche an den Fels fährt, einfach um den Kopf freizukriegen, um wieder ein bisschen andere Bewegungen zu machen und den Körper und die Seele zu stärken."

Erster dokumentierter Wettkampf 1986

Die verstärkte Hinwendung des Deutschen Alpenvereins zum Leistungssport ist in der Kletter-Community durchaus nicht unumstritten. Traditionelle Bergsteiger empfinden die zunehmende Wettbewerbsorientierung als wesensfremd. Sportverband oder Naturschutzverband? Noch 1948 beantwortete der damalige Vorsitzende der Sektion Hochland im DAV, Konrad Klärner, diese Frage so:
Sprecher: "Sport hat für mich immer den Beigeschmack von Rekord. Gibt es denn beim Bergsteigen einen Rekord? Ich glaube nicht. Die Höchstleistung ist wohl beim Bergsteigen immer vorhanden, doch ist hier das Wort Rekord nicht damit verwandt. Der Bergsteiger freut sich an den Blumen, die am Weg stehen, an den grünen Alm-Matten und nicht zuletzt an den bizarren Gipfeln, die ihn umgeben. Über Grate und Wände erreicht er nach hartem Kampf und äußerster Kraftanstrengung sein Ziel, den Gipfel. Sein Herz ist frei und all seine Wünsche sind in Erfüllung gegangen."
Lang ist’s her. Um den Anschluss an die Moderne nicht zu verlieren, trat der DAV 1995 dem Deutschen Olympischen Sportbund bei. Inzwischen zählt er fast 1,3 Millionen Mitglieder. Ein nicht geringer Teil der Neuzugänge stammt aus der urbanen Kletterszene, aus Enthusiasten, die in Hallen und städtischen Kletteranlagen ihrem Freizeitsport nachgehen. Eine unaufhaltsame Entwicklung, bemerkt Bundestrainer Urs Stöcker. Der 43-jährige Schweizer übernahm vor zwei Jahren die Aufgabe, die größten Klettertalente Deutschlands auf die Spiele vorzubereiten.
"Der erste Kletterwettkampf dokumentiert war 1986 in Italien. Dann hat’s schon in den 90er-Jahren weit fortgeschrittene Wettkämpfe gegeben, auch mit Weltmeisterschaften. Insbesondere in den letzten zehn Jahren hat es schon eine rasante Entwicklung eingenommen. Die künstlichen Kletterwände und auch der ganze Breitensport dort, und jetzt natürlich auch in der Ausbildung der Spitze. Man merkt auch den Zug so Richtung Olympia zur Zeit."
Zurück in der Schöneberger Boulderhalle. Fabian Ludwig erläutert eine spezielle Schikane.
"Hier haben wir 'ne 40 Grad überhängende Wand, wo alle 15 Zentimeter ein Griff sich befindet. Man klettert hier nicht an einer Farbe. Hier befinden sich Klebebandstücke an den Griffen, Hier haben sich Leute selber Parcoure bzw. Routen ausgesucht. Das ist ein Trainingsmittel, um sich in den Schwierigkeitsgraden voran zu bewegen."
Beim Bouldern müssen keine großen Höhen bezwungen werden. Dafür haben es die technischen und akrobatischen Anforderungen auch auf kurzen Strecken in sich. Freizeitsportlerin Pia Rauschenberger:
"Wenn man verbrauchte Arme hat nach 'nem Tag klettern, dann hat man eigentlich falsch geklettert, weil eigentlich sollte man die Technik so einsetzen, dass man mit Armen und Beinen klettert und dann die Armkraft eben nicht so schnell verbraucht wird. Aber ich glaube, das geht den meisten Leuten so, dass sie am Ende von so 'nem Kletterabend ziemlich dicke Arme haben oder dichte Arme, sagt man auch."

Training für fast alle Muskeln

Klettern ist ein demokratischer, für jeden zugänglicher Sport. Man benötigt kein spezielles Outfit – lediglich gut passende Schuhe. Ansonsten tut es bequeme Kleidung. Und ein Chalk-Bag - so nennen die Kletterer den Beutel, in dem sie Magnesium zur Vermeidung schwitzender Hände mitführen.
"Wir haben auch Hanteln, allerdings werden die nicht so häufig genutzt. Beim Klettern arbeiten wir ja immer mit unserem eigenen Körpergewicht und deswegen ist auch das Training meistens körpereigengewichtsbasiert. Man hat so genannte Fingerboards zur Stärkung der Finger, dann haben wir ein Campus-Board zur Stärkung der Finger und Arme."
Klettern trainiert nahezu jeden Muskel. Und dank der teilweile komplizierten Drehungen lernt der Sportler, seinen Körper besser zu beherrschen. Voraussetzung ist allerdings höchste Konzentration.
Pia Rauschenberger: "Man hat eigentlich gar keine Zeit, noch über irgendwas anderes nachzudenken. Beim Joggen oder Schwimmen kann ich immer noch über was anderes nachdenken, aber beim Klettern geht das überhaupt nicht. Da muss man wirklich sich zu 100 Prozent konzentrieren und auch noch auf das Material achten, teilweise, nicht nur auf die Route. Und das tut einfach gut, ab und zu komplett abzuschalten."
Ein wenig Psychologie steckt auch im Klettern. Die Konzentration auf den Körper, die Fokussierung auf die Lösung eines konkreten Problems kann, wenn es gut läuft, auch auf den Alltag abstrahlen.
"Je stärker man davon überzeugt ist, desto sicherer wird man da auch stehen können, weil je mehr man den Fuß belastet, desto mehr wird der einen auch halten – allein technisch. Und das kann man natürlich gut auch auf das andere Leben übertragen, wenn man so will."
Die Entscheidung, das Sportklettern in den Rang einer olympischen Disziplin zu erheben, fiel 2016. Das IOC folgte damit dem Antrag der Organisatoren von Tokio 2020. Seit einigen Jahren dürfen die Ausrichter der Spiele die eine oder andere von ihnen gewünschte Sportart zusätzlich vorschlagen – zumindest für eine zeitweilige Aufnahme in den olympischen Reigen. Das Echo darauf fiel widersprüchlich aus. Bundestrainer Urs Stöcker:
"Klar gab’s in der Szene bisschen ein Raunen durch die Menge. Eben IOC, die große Krake, nicht nachhaltig. Wir sind an sich ein Natursport usw. Diese Kritik mag vielleicht berechtigt sein. Ich stell' mir diese Frage nicht unbedingt."
Kletter-Bundestrainer Urs Stöcker steht im Januar 2019 mit verschränkten Armen in einer Kletterhalle in München.
Kletter-Bundestrainer Urs Stöcker bei der Vorstellung des Kletter-Auswahlkaders für Olympia 2020 im Januar 2019© picture alliance / dpa / Tobias Hase
Als leistungsorientierter Kletterer gibt sich Stöcker pragmatisch:
"Unser Ziel ist, dort anzutreten und womöglich erfolgreich auch die Olympischen Spiele zu bestreiten."

"Run aufs Bouldern in letzten zwei Jahren verstärkt"

Jetzt, wo die Vorbereitungen auf Tokio voll im Gange sind, sind die kritischen Stimmen weitgehend verstummt. Jugendnationalkader Romy Fuchs freut sich jedenfalls auf diesen sportlichen Höhepunkt.
"Im Großen und Ganzen finde ich’s super, weil ich finde, Olympia ist der Traum für jeden Leistungssportler. Und wenn man sich entscheidet, so hart zu trainieren und Leistungssport zu betreiben, dann ist das auf jeden Fall das oberste Ziel – würde ich sagen."
Auch Freizeitsportlerin Pia Rauschenberger blickt den Spielen erwartungsvoll entgegen.
"Ich find das eigentlich an sich gut. Ich kuck auch ganz gern immer mal so Kletterwettkämpfe oder sowas an. Ich find das eigentlich ganz spannend. Ich denk mal, wenn es olympische Disziplin wird, dann wird da ja auch noch mal mehr Geld investiert."
Wir sind jetzt im Außenbereich der Bright Site in Berlin-Schöneberg. Bei angenehmen Frühlingstemperaturen tummeln sich rund 40 Kletterer an Wänden, die mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden gespickt sind.
"Der Run aufs Bouldern hat sich die letzten zwei Jahre schon verstärkt. Ich persönlich würd' das aber nicht der olympischen Auswahl zuschreiben. Das ist willkommenes Beiwerk, dass wir jetzt 'n bisschen mehr öffentliche Beachtung bekommen für den Sport.
Einige Boulderaktivisten bewegen sich an der Wand. Andere stehen in kleinen Grüppchen beieinander, begutachten die Anstrengungen der Kletterer oder diskutieren vertrackte Routenprobleme. Nicht zuletzt der gemütliche Biergarten sorgt für eine entspannte Stimmung. Das Publikum ist international. Es überwiegen jungen Menschen von 20 bis 35.
"Man hat sofort ein Gesprächsthema, man kann sich direkt über irgendwas austauschen: Ah hier, hast du den linken Fuß da hoch auf den Tritt genommen oder bist du unten stehen geblieben? Gehst du mit der linken oder der rechten Hand dran? Das ist glaube ich so, was Bouldern primär ausmacht."

Kontroverse Reaktionen auf olympisches Format

Bouldern wird bei den Spielen in Tokio allerdings nur einen Teil des Wettkampfs ausmachen. Das dort vorgesehene Format heißt "Olympic Combined". Es setzt sich zusammen aus den drei Einzeldisziplinen Lead, Bouldern und Speed. Auch diese Entscheidung wurde in der Szene durchaus kontrovers aufgenommen, berichtet Ludwig.
"Vor allem als Combined-Wertung. Das wär so wie: Man nimmt Laufen mit hinein und macht 'ne Kombi-Medaille aus Marathon und Sprint. Deswegen etwas umstritten."
Bundestrainer Stöcker verteidigt den beschlossenen Wettkampfmodus:
"Das war eine politische Entscheidung, das Olympic Combined zu machen. Die Kombination gab’s früher schon, auch in Weltmeisterschaften gab’s die Kombination aus allen drei Disziplinen. Ich finde, als kompletter Kletterer muss man auch alle drei Disziplinen beherrschen."
Eine Auffassung, die von Nachwuchskletterin Romy Fuchs geteilt wird.
"Ich find', wenn man so hohe Ziele hat, dann muss man sich einfach mit dem Combined-Format abfinden. Es ist ja auch 'ne Möglichkeit, sich selbst weiter zu entwickeln. Die ganzen drei Disziplinen spielen ja auch miteinander sozusagen. Speedklettern bringt einem auch viel für’s Bouldern und auch für’s Leadklettern."
Reza Alipourshenazandifar (IRI/1.Platz) (vl.) und Bassa Mawem (FRA/2.Platz) hängen am oberen Ende der Kletterwand in den Seilen und schauen auf die Zeitanzeigen.
Finale des Speed-Wettbewerbs der Herren bei der Kletter-Weltmeisterschaft im September 2018 in Innsbruck© picture alliance / APA/ picturedesk.com / Barbara Gindl
Verwirrung gab es anfangs um die Modalitäten der olympischen Wertung. Früher wurden die Ergebnisse aus den einzelnen Disziplinen addiert. Zur Ermittlung der Rangfolge im Olympic Combined werden die Ergebnisse bzw. die Plätze der Starter aus den verschiedenen Disziplinen jedoch multipliziert.
"Ich glaub', das war der Hintergrund dieses Gedankens, dass man, wenn man in einer Disziplin exzellent ist, dass man dann auch wirklich vorne mitspielen kann. Also sprich: dass man auch den besten Boulderer, den besten Lead-Kletterer, den besten Speed-Kletterer dabei hat und die sich dann wirklich auch um die olympischen Medaillen streiten können."
Speziell die Aufnahme der Teildisziplin Speed in den olympischen Wettkampf löst jedoch keine ungeteilte Begeisterung aus. Beim Speedklettern ist der Name Programm: Die Geschwindigkeit entscheidet über den Sieg. Natürlich gepaart mit hoher Griff- und Trittpräzision. Dabei treten in der Regel zwei Athletinnen oder Athleten gegeneinander an. Mittlerweile gibt es eine standardisierte Speedwand mit einer festen Abfolge von Griffen, an der nun auch Weltrekorde möglich sind.
Fabian Ludwig: "Da ist halt dieser Competition-Gedanke, der beim regelmäßigen Klettern gar nicht so weit verbreitet ist. Man misst sich ja eher an sich selbst und nicht an jemand anderem. Und sobald zwei Leute nebeneinander starten und nach oben rennen und es gibt einen Sieger und einen Verlierer, das ist beim Klettersport eigentlich normalerweise nicht so gegeben."
"Wenn jemand sagt, da sehen sie nicht mehr die Seele des Klettersports repräsentiert, das kann ich durchaus verstehen. Ich glaub nur, dass das Klettern wie jede Sportart auch gewisse Entwicklungen durchmacht, und jetzt haben wir halt hier 'ne gewisse olympische Entwicklung. Das heißt ja nicht, dass es die andere Seite des Kletterns nicht mehr gibt."

Ziel: zwei Männer und eine Frau in Tokio

Freizeitsportlerin Pia Rauschenberger hat mit Rekordjagden auf Speed nichts am Hut.
"Ich hab auch noch nie Speedklettern ausprobiert, weil das für mich auch was qualitativ ganz anderes ist, 'n ganz anderer Sport ist für mich. Reizt mich überhaupt nicht, find ich total langweilig, würde ich mir auch nicht ankucken, ehrlich gesagt, Speed geht ja auch so schnell, dass die da oben sind. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sich das als Sportart auch medial so gut vermarkten lässt."
Der DAV hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst mit zwei Männern und einer Frau bei den Spielen in Tokio dabei zu sein. Die dürften sich aus dem guten Dutzend Athletinnen und Athleten rekrutieren, die derzeit den Perspektivkader bilden. Welche Fähigkeiten benötigen potentielle Olympiakandidaten? Bundestrainer Urs Stöcker:
"Wille, Commitment, die Überzeugung, wirklich auch alles zu geben für dieses Ziel, auch über die eigenen Grenzen hinweg oder die zumindest mal zu erfahren – ich glaub, das ist das entscheidende Charaktermerkmal eines jeden erfolgreichen Sportlers."
Einige fühlen sich berufen, aber nur wenige werden auserwählt.
"Es können nur maximal zwei deutsche Athleten und zwei deutsche Athletinnen nach Olympia gehen. Und von dem her – der Kreis ist eng, aber wir nehmen natürlich die Besten."
Was die konkreten Medaillenchancen deutscher Sportler angeht, so gibt sich Stöcker vorsichtig optimistisch. Vor allem bei den Herren sieht er den deutschen Verband gut aufgestellt.
"Natürlich rede ich hier von Favoriten, von Jan Hojer, der jetzt auch schon letztes Jahr in der Kombinationsweltmeisterschaft in Innsbruck die bronzene Medaille geholt hat. Oder Alex Megos, der ein hervorragender Felskletterer ist und sich jetzt vor knapp einem Jahr entschieden hat, Richtung Olympia zu gehen und diesen Weg auch sehr konsequent angeht."
Bei den Frauen ruhen die Hoffnungen vor allem auf der erst 18-jährigen Hannah Meul. Immerhin ist sie die einzige deutsche Kletterin, die bereits Erfahrungen bei Olympischen Spielen und mit dem neuen Combined-Format sammeln konnte: Bei den Jugendspielen in Argentinien im Oktober 2018 verpasste sie nur ganz knapp einen Podestplatz und belegte einen hervorragenden vierten Rang.
"Bei den Damen haben wir nicht gerade zwei Super-Favoritinnen im Feld, aber ich glaube, auch dort können wir es schaffen, eine Dame nach Olympia zu bringen."
Die nächste Möglichkeit, das Olympia-Ticket zu lösen, gibt es bei der Weltmeisterschaft in Tokio im August dieses Jahres. Später findet noch eine spezielle Olympia-Quali im französischen Toulouse statt. Auf dem allerletzten Drücker werden bei den Europameisterschaften im Olympic Combined im Frühjahr 2020 noch Startplätze vergeben. Auch Romy Fuchs gehört zum aktuellen Perspektivkader. Falls es mit Tokio 2020 nicht klappen sollte – die nächste Chance bietet sich in fünf Jahren in Paris.
"Das wär so der Traum, ja. 2024 ist ja jetzt auch Klettern wieder dabei. Bis dahin ist auf jeden Fall noch die Möglichkeit da, sich weiter zu entwickeln und immer besser zu werden und den Schritt in diese Richtung zu gehen."
Mehr zum Thema