Ein kleiner Junge kennt das Glück

08.04.2011
In 65 kleinen Geschichten wird hier eine magische Kinderwelt voller Geborgenheit zum Leben erweckt. Sie spielt Anfang der 60er-Jahre in Jugoslawien, als im Vielvölkerstaat Titos noch Frieden herrschte.
Was ist das, eine glückliche Kindheit? Was macht sie aus? Wenn man das kleine Buch "Vorvorgestern" von Dragan Aleksic gelesen hat, weiß man, dass das Glück einer Kindheit mit Selbstverständlichkeiten zu tun hat: mit einer Welt, in der Menschen und Dinge an ihrem Platz sind, unverständlich vielleicht manchmal, aber niemals bedrohlich. Mit einer Mutter, die mütterlich, und einem Vater, der väterlich ist; mit einer großen Schwester und mit kleinen Freunden; mit Nachbarn, die sämtlich Anspruch auf die Anrede Onkel und Tante haben; mit Straßen und Gärten zum Spielen, mit der ganzen Weite eines Armenviertels der sehr kleinen Stadt Bela Crkva. Ein anderes Wort für diese Art Glück wäre Geborgenheit.

Dabei beschreibt Aleksic in seinen 65 episodischen Textminiaturen beileibe keine Idylle. Sie lesen sich nur deshalb so idyllisch, weil sie aus der Perspektive eines kleinen Jungen verfasst sind, der keine Angst hat. Er ist noch sehr klein, geht noch nicht zur Schule, und sein vergittertes Kinderbett steht neben der Nähmaschine, an der die Eltern bis in die tiefe Nacht noch arbeiten. Dass der eine Nachbar, "Onkel" Ziva, ein manchmal gewalttätiger Säufer ist, gehört in die Selbstverständlichkeit dieser Welt ebenso hinein wie die Prügeleien der Kinder, der Dreck und die Armut. Und die Tatsache, dass die einen Zigeuner sind, die anderen Serben, der Opa Rumäne und andere wieder Juden. Aus der Sicht des Kindes sind alle eben irgendwas, einen Unterschied macht das nicht: man ist verwandt, benachbart, befreundet.

Dragan Aleksić, 1958 geboren im jugoslawischen Banat, erzählt aus einer Zeit, Anfang der 1960er-Jahre, als im Vielvölkerstaat Titos Frieden herrschte: ein trügerischer Friede, aber davon kann ein kleiner Junge nichts wissen. Der wundert sich nicht, dass auf der Zuckerdose ein deutsches Wort steht; aber Aleksić’ erwachsene Leser werden den Hinweis verstehen, und feststellen, dass Bela Crkva früher Weißkirchen hieß und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehrheitlich von Deutschen bewohnt war. Aleksić’ spart die große Historie nicht vollständig aus, aber sie ist nicht sein Thema. Sein Buch der Kindheit aber erschien im Jahr 1994, als der Sezessionskrieg in Jugoslawien in vollem Gange war. Deshalb trägt es diesen Titel: "Vorvorgestern".

Aleksić’ Momentaufnahmen von Stimmen und Szenen, Gerüchen und Lichtern sind von einer ansteckenden Sinnlichkeit – und trotz oder wegen des Wissens, dass die in ihnen beschriebene Welt der Selbstverständlichkeiten nur für kurze Zeit existiert hat, sehr gegenwärtig. Denn dieses kleine Werk handelt nicht nur vom Glück, es macht auch seine Leser auf eine besondere Weise glücklich.

Besprochen von Katharina Döbler

Dragan Aleksić: Vorvorgestern. Geschichten, die vom Glück handeln
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann,
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2011
105 Seiten, 14,90 Euro