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Kartographen der Seele

Es war ein Meilenstein der Hirnforschung und die Geburt einer großen Vision. Vor 100 Jahren veröffentlichte der deutsche Anatom Korbinian Brodmann den ersten Atlas der Großhirnrinde. Fein säuberlich hatte er 52 Regionen des Cortex unterschieden und durchnummeriert. Was bisher eher vage "Seele" hieß, schien nun in Hirnregionen verortet.

Von Martin Hubert | 02.08.2009
    Ein großformatiges Buch von ehrwürdigem Alter, die Seiten leicht angegilbt. Blättert man darin herum, stößt man auf feinste Schwarzweißzeichnungen eines plastischen Gebildes. Die Zeichnungen zeigen die unterschiedlichen Felder des Gehirns. Sie sind sorgfältig durchnummeriert: Areal eins, zwei, fünf, sieben a, sieben b, achtzehn, fünfunddreißig. Auf dem Buchdeckel ist zu lesen: "Vergleichende Lokalisationslehre der Großhirnrinde in ihren Principien dargestellt auf Grund des Zellenbaues". Von Korbinian Bordmann.

    Die erste vollständige Karte des Kortex, genau 100 Jahre alt. Ein Meilenstein der modernen Hirnforschung.

    "Wenn wir heute verschiedene Hirnregionen unterscheiden stützen wir uns auf das mikroanatomische Wissen, auf den geschulten Blick von Korbinian Brodmann."

    Brodmanns Hirnkarte war nicht nur ein anatomisches Meisterstück. Sie war auch mit einer gewaltigen Vision verbunden.

    "Die Idee,das Programm, das Fantasma ist, wenn die Forschung weit genug voranschreitet, dann haben wir den vollständigen Zugriff auf die intellektuelle, psychische Natur des Menschen."

    Die Entladung von Nervenzellen, künstlich hörbar gemacht. Ist das die Sprache der Seele?

    Die Hirnforschung boomt. Bildgebende Verfahren scheinen immer besser enthüllen zu können, was unter welchen Bedingungen im Nervengeflecht des Gehirns geschieht. Für manche Forscher ist es deshalb nur noch eine Frage der Zeit, wann die alte Vision aus Brodmanns Zeiten verwirklicht wird: die Idee vom exakt vermessenen Gehirn und dem mit ihm verbundenen Geist. Aber es gibt auch viele Skeptiker. Sie fragen: Lässt sich alles Seelische wirklich vollständig auf das Gehirn zurückführen? Ist da nicht Vorsicht angebracht, gerade wenn man die Entwicklung von Brodmanns Hirnatlas bis heute Revue passieren lässt?

    Brodmanns Karte ist auch deshalb so brisant, weil sie einen uralten Streit zu entscheiden hilft.

    "Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gab es eine Auseinandersetzung drüber, ob das Gehirn. insbesondere die Hirnrinde, bei bestimmten Aufgaben wirklich lokal spezifisch an bestimmten Stellen reagiert oder ob die Leistung, die wir beobachten, ob das eine Leistung der gesamten Hirnrinde ist."

    Karl Zilles, Cecile-und-Oskar-Vogt-Institut für Hirnforschung der Universität Düsseldorf:

    "Und Brodmann lag mit seiner Hirnkarte in der Tendenz richtig."

    In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelingt es Wissenschaftlern zunehmend, geistige Leistungen in bestimmten Hirnregionen zu lokalisieren. Der französische Forscher Pierre Paul Broca etwa findet einen Patienten, der nicht mehr sprechen kann, weil ein gut eingrenzbares Areal in seinem Gehirn gestört ist: das sogenannte Broca-Areal. Der deutsche Hirnanatom Oskar Vogt ist von diesen Belegen des Lokalisierungskonzepts begeistert. Gleichzeitig ist er Anhänger einer noch viel älteren Idee: dass man Persönlichkeitseigenschaften im Gehirn verorten könne. Cornelius Borck, Wissenschaftshistoriker an der Universität Lübeck:

    "Oskar Vogt war derjenige, der noch einmal ganz forciert am Beginn des 20. Jahrhunderts gesagt hat: Wir können mit anatomischen Mitteln, also indem wir mikroskopisch uns die Gestalt von Nervenzellen angucken und feststellen, dass die eben an verschiedenen Orten des Gehirns kleine, minutiöse Unterschiede haben, dann können wir tatsächlich eine Korrelation herstellen zwischen der Ausprägung dieser kleinen Organellen im Gehirn und den Charaktereigenschaften der Person."

    Vogt gründet deshalb in Berlin ein Institut, das systematisch die einzelnen Felder der Großhirnrinde identifizieren soll. Er selbst untersucht dabei in hauchdünn geschnittenen und angefärbten Hirnscheiben die langen Faserverbindungen zwischen den Nervenzellen. Einer seiner Mitarbeiter dagegen soll feststellen, wo im Gewebe der Nervenzellen selbst Unterschiede auszumachen sind: der junge Anatom Korbinian Brodmann.

    Obwohl Brodmann seine eingefärbten Hirnscheiben nur unterm Mikroskop betrachtet, nimmt er deutliche Dichteveränderungen in der Zellverteilung wahr. Er definiert sie als Grenzen zwischen verschiedenen Hirnarealen. Das Verblüffende dabei: Manchmal stimmen seine Grenzziehungen ziemlich gut mit klinischen Befunden überein. Etwa mit der Entdeckung, dass jemand keine Wörter mehr artikulieren kann, wenn das Broca-Areal geschädigt ist. Borck:

    "Und das war natürlich ein ganz ganz harter Beleg, dass dieses Forschungsprogramm an sich auf dem richtigen Gleis ist. Sie müssen sich mal vorstellen, was das für ein rasantes Programm ist: also hier hat man ein paar harte klinische Daten und dann kommt jemand, verfeinert eine eigentlich unwiderlegliche Methode der reinen Beobachtung und diese Methode deckt sich so exakt mit den klinischen Befunden, dass man jetzt meint, dass man das Gehirn entziffern wird."

    Davon ist aber vor allem Oskar Vogt überzeugt. Zwar gesteht er zu, dass sich keineswegs immer eindeutige Querverweise zwischen Hirn und Geist herstellen lassen. Trotzdem zieht er des öfteren voreilige Schlüsse. Berühmt – und berüchtigt – wird er zum Beispiel, als er 1924 Lenins Hirn seziert: er findet in manchen Schichten von dessen Großhirn vergrößerte Zellen und interpretiert sie als Beleg für die Genialität des Sowjetführers. Diese Neigung zur Spekulation führt schon früh zu Differenzen mit Korbinian Brodmann. Andere Unstimmigkeiten kommen hinzu, letztlich scheiden beide im Streit voneinander. Borck:

    "Also Brodmann geht es darum, die vorfindliche phänomenale Vielfalt zu sortieren und immer dabei im Kopf zu haben, dass sie noch feiner sein kann als man sie sich jetzt zurechtgelegt hat. Und dieses Projekt ist von Anfang an darauf angelegt, mehr Differenzierung aus sich selbst freizusetzen. Während Vogts Projekt zwar verwandt ist, deshalb hat ja Brodmann bei ihm gearbeitet, aber ihm geht es letztendlich um Identifikation, wie man eine konkrete Relation zwischen dieser einzelnen vergrößerten Nervenzelle – um das bekannteste Beispiel eben zu nehmen - und Lenins besonders starkem Assoziationsvermögen herzustellen. Und das ist mit Sicherheit eine Aussage gewesen, die Brodmann nie hätte machen wollen."

    Korbinian Brodmann war nicht der große Theoretiker: Sein Beitrag zur modernen Hirnforschung besteht eher darin, als Kartograph der Zellen und der Seele sehr genau hingeschaut zu haben – und dabei vorsichtig geblieben zu sein. Ihm war klar, dass geistige Leistungen wie Sprechen oder Intelligenz nicht vom ganzen Gehirn vollzogen werden. Aber er hütete sich auch davor, sie eindeutig einzelnen Regionen zuzuordnen. Andere dagegen - wie Oskar Vogt – orientierten sich immer schon an der großen Vision, Hirn und Psyche eindeutig aufeinander abbilden zu können. Auch heute noch?

    Ein blendend weiß gestrichener Raum, in dem es nach Chemie riecht: das Histologielabor des Forschungszentrums Jülich. Ein schmales Gerät beginnt seine Arbeit: Auf Schienen fährt ein fest fixiertes Gehirn durch eine scharfe Klinge hindurch und wieder zurück. Hier, im Medizinischen Institut des Jülicher Forschungszentrums arbeitet man seit Ende der 70er Jahre an einer neuen, wesentlich verbesserten Karte des gesamten Gehirns, nicht ohne die Verdienste Brodmanns zu würdigen. Katrin Amunts, Professorin am Jülicher Institut:
    "Also, Brodmanns Arbeit, das ist unglaublich, wenn man also heute als Forscher vor einem ganzen Gehirn sitzt und 100, 500 Schnitte vor sich hat und durch diese ganze gefaltete Oberfläche hindurch muss, um Gehirne zu kartieren, dann kann man das eigentlich nur bewundern, dass er das geschafft hat, wirklich eine vollständige Karte eines menschlichen Gehirns darzulegen."

    Brodmann verfügte lediglich über einfache Mikroskope. Und es gab nur zwei Methoden, um die Hirnzellen einzufärben und dadurch Muster zu erkennen - heute sind es über 100. Außerdem untersuchte Brodmann wohl überhaupt nur zwei oder drei Gehirne. Seine Karte beruht daher nicht wirklich auf einem Vergleich verschiedener Individuen. Schließlich konnte er das dreidimensionale Gehirn auf Papier nur zweidimensional abbilden. Seine Methode, Hirnregionen zu unterscheiden, beruhte daher zwar auf großer Erfahrung, blieb aber letzen Endes unzureichend. Das hat sich auch nach Brodmann lange Zeit nicht entscheidend geändert. Der Blick der Hirnkartographen blieb oft recht willkürlich. Amunts:

    "Und Sie finden deshalb heute Karten, die haben eine Einteilung in vier Grundprinzipien, das ist die Karte von Bonin und Bailey, die unterscheidet wirklich nur vier grobe Prinzipien und sonst alles nur fließende Übergänge. Und die Hirnkarte von Economo zum Beispiel, die hat 150 verschiedene Einheiten oder Entitäten. Und diese Frage, wie detailliert muss eine Karte sein und ist die Grenze hier oder ist sie einen halben Millimeter weiter links oder rechts, die kann man eigentlich nur lösen, wenn man quantitative, statistische Verfahren dann mitnimmt."

    Das Gerät mit der scharfen Klinge im Jülicher Institut heißt Mikrotom. In gleichmäßigem Rhythmus fährt das fixierte Gehirn immer wieder durch die Klinge hindurch. Dabei wird jedes Mal butterweich eine hauchzarte Scheibe aus dem Zellgewebe abgetrennt. 6000 bis 8000 solcher Schnitte fertigt die Maschine von jedem einzelnen Gehirn an.

    Da sich menschliche Gehirne stark unterscheiden, vergleichen die Forscher in Jülich zehn Gehirne miteinander, um die Grenzen eines einzigen Areals zu bestimmen. Normalerweise dehnt und streckt man in der Forschung die Areale individueller Gehirne, um einen einheitlichen Standard zu gewinnen. Das führt zur Karte eines zwar eindeutig definierten, aber künstlichen "Standardgehirns". In Jülich folgt man einer anderen Philosophie. Karl Zilles, der auch Direktor des Jülicher Instituts für Neurowissenschaften ist:

    "Meiner Meinung nach kann es keine dogmatische Hirnkarte mehr geben, das ist nicht state of the art! Unter der Berücksichtigung der interindividuellen Variabilität kann es nur noch probabilistische Hirnkarten geben!"

    Soll heißen: die Jülicher Forscher geben nur noch Wahrscheinlichkeiten dafür an, wo ein bestimmtes Areal gefunden werden kann. Dabei orientieren sie sich an so genannten Voxels, an winzig kleinen Raumeinheiten, in die man das Gehirn aufteilt.

    "Das absolut positive an diesen probabilistischen Vorhersagen ist aber, dass wir eben die Wahrscheinlichkeit definieren und nicht sagen, vielleicht ist da was, vielleicht auch nicht, nein, wir sagen: mit der und der Wahrscheinlichkeit finden wir in diesem Voxel, einem Voxel von ein mal ein mal ein Millimeter, finden wir dieses Areal und mit der und der Wahrscheinlichkeit finden wir in diesem selben Voxel das andere Areal."

    Die Jülicher Gehirnkarte legen also sozusagen den Möglichkeitsraum fest, in dem bestimmte Regionen im Gehirn existieren können. Das Gehirn wird so als flexibles Organ kartographiert, das sich auch verändern kann. Die Karte vom Gehirn wird dynamisch.

    Eine Kamera über dem Jülicher Mikrotom macht vor jedem Schnitt eine Fotografie der Hirnfläche. Die abgetrennten Scheiben wandern dann auf einem Transportband weiter und werden als zusammenhängende Serie gesammelt. Eine Auswahl dieser Schnitte wird eingefärbt und mitsamt der erkennbaren Muster digitalisiert. Mit Hilfe der Fotografien werden die Daten dann wieder in ein dreidimensionales Modell des Gehirns verwandelt. Das Ergebnis wandert zur freien Nutzung für die Wissenschaftlergemeinde ins Internet.

    200 Strukturen haben die Jülicher Forscher inzwischen erfasst, das sind etwa 50 bis 60 Prozent aller Hirnregionen. Um ein Areal zu kartieren, braucht ein Wissenschaftler in Jülich durchschnittlich ein ganzes Jahr. Der Aufwand ist auch deshalb so groß, weil die Forscher nicht nur die Dichteunterschiede des Zellgewebes untersuchen. Sie fahnden auch nach so genannten Rezeptoren. Das sind Ankerplätze an den Nervenzellen, an denen bestimmte Botenstoffe wie die Transmitter Dopamin oder Adrenalin andocken können. Transmitter und Rezeptoren sind für den Signalverkehr im Gehirn sehr wichtig. Deshalb meinen die Jülicher Forscher: Durch sie wird die Hirnstruktur entscheidend mitbestimmt. Doch die Suche nach der Seele im Gehirn wird dadurch noch viel komplizierter. Zilles:

    "Wir möchten gerne wissen, wie die verschiedenen Hirnareale als System zusammenwirken, wir möchten wissen, wie die verschiedenen Transmitter und Rezeptoren zusammenwirken, und wir möchten wissen, wie Struktur und Funktion zusammenhängen auf der Basis von Konnektivitätsstudien und funktioneller Bildgebung."

    Das Klackern eines Magnetresonanztomographen, von denen es mehrere im Jülicher Forschungszentrum gibt. In die lange Röhre dieser Geräte werden Versuchspersonen hineingeschoben. Sie müssen eine bestimmte Aufgabe erfüllen: Gegenstände auf Bildern erkennen, Texte lesen oder sprechen. Das Gerät zeichnet dann auf, welche ihrer Hirnareale dabei stärker aktiv werden. Solche Studien nutzen die Jülicher Kartographen zusätzlich, um herauszufinden, welche Funktion die kartographierten Areale besitzen.

    Die bisherigen Ergebnisse des Jülicher Projekts zeigen: Die Muster des Zellgewebes und der Rezeptoren passen meist gut zueinander. Sie lassen sich oft auch erfolgreich mit bestimmten Funktionen in Verbindung bringen, zum Beispiel beim Hören oder Tasten. Immer wieder werden die Forscher aber auch dazu gezwungen nachzubessern. Ein Beispiel ist das Sehsystem:

    Ein Auto fährt auf Sie zu. Die Informationen, wo sich dieses Auto gerade befindet, werden in einer weiter oben gelegen Arealkette des Gehirns verarbeitet. Das ist der sogenannte "Wo-Strom" im Gehirn. Die Information dagegen, dass es sich um ein ziemlich gefährliches Geschoss namens "Auto" handelt, entsteht in weiter unten gelegenen Arealketten: dem "Was-Strom". In Jülich, so Katrin Amunts, lassen sich nun diese Verarbeitungsströme im Gehirn genauer differenzieren.

    "Wir finden natürlich viele Areale, die so genau an der Grenze liegen und von denen wir erst einmal keine Ahnung hätten, ob die nun in dem Wo- und in den Was-Strom reingehören würden. Und wir können nun eine Hypothese aufstellen aufgrund unserer Ähnlichkeiten und Unterschiede und können dann aber testen mit Bildgebung, ob dieses Areal nun eher mit Orts- oder mit Was-Verarbeitung zu tun hat."

    In Bezug auf die Sprache ist es den Jülicher Wissenschaftlern bereits gelungen, mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie ein altbekanntes Areal zu differenzieren: das Broca-Areal. Korbinian Brodmannn hatte es in seiner Hirnkarte in zwei Gebiete unterteilt : in Areal 44 und 45 . Die Unterscheidung hatte aber nur formale, kein inhaltlichen Gründe. In Jülich führte man zusätzliche Tests im Hirnscanner durch:

    Die Testpersonen hörten mehrfach einen Satz: "Ein Auto fährt auf Sie zu, das ist gefährlich." Mal sollen sie sich auf die Bedeutung des Satzes konzentrieren, mal auf seine Gliederung oder die Lautgebung. Ergebnis: Wenn es um die Bedeutung von Sprache geht, ist das Broca-Areal 45 aktiv, bei Grammatik und Lautanalyse dagegen Areal 44.

    Ist das das Modell der Zukunft? Karl Zilles versteht die Jülicher Hirnkarte tatsächlich als eine Art globaler Dienstleistung für den Fortschritt in der Hirnforschung. Zilles:

    "Bei der Hirnkarte geht es darum, die Basis für Erkenntnisfähigkeit zu legen, das heißt, wir erarbeiten ein gemeinsames räumliches Referenzsystem, das angefüllt ist und ständig weiter angefüllt wird mit strukturellen Informationen über das Gehirn. Und das ist eine Erfolgsgeschichte ohnegleichen. Mittlerweile haben wir so viele Anfragen hinsichtlich Kooperationen, dass wir die alle gar nicht mehr erfüllen können und gar nicht mit allen Leuten kooperieren können, die uns in ihre funktionellen bildgebenden Projekte mit einbeziehen möchten."

    Der Siegeszug der bildgebenden Verfahren scheint unaufhaltsam. Beispiel Magnetresonanztomographie. Sie gilt als wichtigstes bildgebendes Verfahren für die so genannte kognitive Neurowissenschaft, die geistige Leistungen untersucht. Im Jahr 1991 wurde sie zum ersten Mal angewandt. Seitdem sind über 19.000 solcher Studien in begutachteten Fachzeitschriften erschienen. Das bedeutet: Pro Jahr werden über 1000 Studien publiziert, Tendenz steigend. Doch was hat man durch all diese Arbeiten wirklich verstanden?

    Das Träumen. Vielleicht. Forscher wissen heute, dass der Mensch dann in den Traumschlaf sinkt, wenn tief gelegene Areale in seinem Gehirn eingeschaltet werden. Es zeigte sich: Diese uralten Hirngebiete haben mit Emotionen, Wünschen oder Vorstellungen nichts zu tun. Also hieß die Losung: Freuds Traumtheorie ist tot. Die Vorstellung, dass im Traum verdrängte Wünsche aus der Tiefe unserer Seele aufsteigen, schien selbst nur eine schöne Illusion zu sein. Dann jedoch entdeckten andere Forscher, dass Menschen nicht mehr träumen können, wenn Nervenverbindungen gestört sind, die mit Triebimpulsen zu tun haben. Hat der Traum also doch etwas mit Triebverdrängung zu tun? Eine neue wissenschaftliche Gesellschaft entstand, die Psychoanalyse und Hirnforschung zusammenbringen will.

    Eine Erfolgsgeschichte. Manchmal allerdings lassen sich die Forscher auch verführen. Sie ziehen vereinfache Schlüsse - wie zu Beginn der modernen Hirnforschung.

    Vor einigen Jahren jubelten die Hirnforscher. Per Bildgebung hatten sie ein Areal im Gehirn entdeckt, das immer dann aktiv wurde, wenn Testpersonen ein Gesicht erkannten. Dieses Areal, der so genannte Gyrus fusiformis wurde daher zum "Gesichtserkennungs-Areal ernannt.

    Kurz darauf untersuchten andere Forscher das Gehirn begeisterter Sammler von Schmetterlingen oder Briefmarken. Als sie diese im Scanner mit dem Objekt ihrer Begierde konfrontierten, wurde neben anderen Hirnarealen auch ein alter Bekannter aktiv: der Gyrus fusiformis. Offenbar ist dieses Areal nicht allein für Gesichtserkennung zuständig, sondern immer beteiligt, wenn Menschen etwas sehen, was sie gut kennen und sie stark interessiert.

    Es gibt viele solcher Beispiele, die immer wieder aufs Neue bestätigen: Korbinian Brodmann hatte Recht mit seiner Zurückhaltung eindeutigen Zuordnungen gegenüber. Die Beziehung zwischen Geist und Gehirn ist sogar noch viel komplizierter, als es sich Brodmann wohl vorstellen konnte. Je komplexer eine geistige Leistung ist, desto komplexer das Nervennetzwerk, das dafür zuständig ist. Eine Erkenntnis, die manchmal überfordert.

    "Diese Zusammenhänge werden leicht zu komplex, dass sie eigentlich nicht mehr so gut darstellbar sind. Und das ist natürlich unser Problem."

    Hauke Heekeren, Professor für affektive Neurowissenschaft an der FU Berlin. Er hat sich auf das Thema Empathie spezialisiert, das Einfühlungsvermögen. Und er weiß: Es gibt zwar für die Empathie wichtige Areale wie etwa die so genannte anteriore Insel, aber sie ist keineswegs allein entscheidend.

    "Also, wenn wir das einerseits sichtbar publizieren möchten, auch so publizieren möchten, dass die interessierte Öffentlichkeit das wahrnimmt, müssen wir diese Aussagen sehr stark verkürzen. Und dann bleibt eben so etwas hängen wie ,die anteriore Insel ist das Empathiezentrum‘. Und das sind Aussagen, die kein ernst zu nehmender Empathieforscher so machen würde, sondern sie entstehen natürlich dann in der ,stillen Post‘ vom wissenschaftlichen paper zu Schlagzeile."

    Aber auch die wissenschaftlichen paper pflegen mit dem komplexen Datenwust der Bildgebung nicht immer den besten Umgang. In manchen Studien, so wurde kürzlich bekannt, wurden Messungen in unzulässiger Weise vereinfacht. Statt zwei mal unabhängig voneinander erhobene Hirndaten zu analysieren, werteten einige Forscher zwei mal dieselben Daten aus. Das führte dazu, dass Daten mehr Gewicht bekamen und letztlich zu einer falschen Interpretation führten. Hauke Heekeren wehrt sich allerdings gegen den Vorwurf, dass das in vielen Studien geschehen sei, und erst recht wehrt er sich gegen den Vorwurf der Fälschung.

    "Das stimmt einfach so nicht. Der letztliche Streitpunkt ist ein sehr stark methodischer im allerkleinsten Detail, wo man wirklich darüber streiten kann."

    Und dann gibt es noch die prinzipiellen Probleme der Bildgebung, die im Verfahren selbst begründet sind.

    Die funktionelle Magnetresonanztomographie, abgekürzt fMRI, misst das so genannte BOLD-Signal, den Sauerstoffgehalt im Blut. Fühlt sich zum Beispiel im Scanner jemand in den Gesichtsausdruck einer anderen Person ein, dann benötigen entsprechende Areale in seinem Gehirn mehr Sauerstoff zum Arbeiten. Der wird über das Blut herangeschafft und gemessen. Das Problem: Der Sauerstoffanstieg kommt erst circa sechs Sekunden nach der Hirnaktivierung in Gang.

    Das Verfahren misst die Aktivität der Hirnzellen also sehr spät und daher nur indirekt. Außerdem gibt es neuerdings im Tierversuch Hinweise, dass der Blutfluss im Gehirn auch ohne regionale Aktivitätsänderung steigen kann. Wie gehen Forscher mit diesem Fallstrick um? Hauke Heekeren:

    "Ich würde sagen, es steht und fällt eben mit der Operationalisierung, also in dem Moment, wo wir eine gute Vorstellung darüber haben, welche Teilprozesse beteiligt sind, also sagen wir zum Beispiel an der Empathie kognitive Anteile und eher emotionale Anteile, dann kann ich schon sehr klare Hypothesen aufstellen, dass ich sage: für den affektiven Teil sollten eher limbische Hirnregionen zuständig sein und für den eher kognitiven Anteil eher kognitive Hirnregionen beziehungsweise Hirnregionen, von denen wir wissen, dass sie mit so etwas wie Perspektivenübernahme zu tun."

    Empathie wird portioniert. Ist das der Weg, um Empathie in all ihrer Komplexität zu verstehen?

    "Selbst auch unsere Aufteilung, die zunächst mal ein gutes Modell ist, in kognitive und affektive Anteile, ist selbstverständlich auch wieder vereinfacht."

    Um die ganze Komplexität des Gehirns zu erfassen, nutzen Hirnforscher wie Hauke Heekeren heute alle methodischen Möglichkeiten. Sie kombinieren zum Beispiel zunehmend verschiedene Verfahren wie fMRI, PET oder das EEG miteinander, um genau festzustellen, wo und wann Aktivitäten in den Nervenzellen stattfinden. Mit Hilfe anderer Techniken untersuchen sie, welche Nervenfasern zwischen den verschiedenen Arealen überhaupt existieren. Oder sie analysieren, welches Areal früher als ein anderes aktiv ist und schließen so auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Im Idealfall entsteht dann eine komplexe Netzwerkkarte für Empathie im Gehirn: Sie enthält Informationen Struktur, über elektrischen und chemischen Signalfluss, über Faserverbindungen und über Ursache-Folge-Beziehungen. Heekeren:

    "Das wäre dann natürlich eine mehrdimensionale Landkarte."

    Die Frage ist nur: was hat man eigentlich von einer Karte des Gehirns, in der ein riesiges Gewirr von Beziehungen zwischen unterschiedlichsten Arealen verzeichnet wäre. Würden Geist und Psyche nicht in diesem unübersichtlichen Dschungel an Verbindungen, Signalflüssen, Rückkoppelungsschleifen, Parallelschaltungen und Zeittakten verschwinden? Heekeren:

    "Selbstverständlich muss man das Ganze eigentlich noch einen level höher bringen, dass wir mit der berühmten unified theory über den Gesamtzusammenhang mal etwas erklären können. Also, es kann ja nicht sein, dass wir Hirnsysteme haben für 100.000 verschiedene Funktionen, so wird es ja nicht sein, sondern Sie können es wahrscheinlich herunterbrechen auf eine Anzahl von viel weniger Systemen, die dann aber relativ flexibel zusammengeschaltet werden - aber da sind wir noch nicht."

    Das wäre also die neue Vision der Hirnforschung: Eine einheitliche Theorie des gesamten Gehirns, seiner Signalcodes und seines hierarchischen Aufbaus, mit der man die komplexe Datenflut wieder in übersichtliche Bahnen lenken und nachvollziehbare Aussagen darüber machen kann, wie etwa Empathie neuronal erzeugt wird. Gesetzt den Fall, das wäre machbar - hätte man Empathie – Mitgefühl - dann endlich erklärt? Karl Zilles vom Forschungszentrum Jülich ist skeptisch.

    "Die Hirnfunktion kann einfach nicht ,Empathie‘ sein. Das Gehirn ist nicht gebaut, um Empathie zu ermöglichen, das Gehirn ist gebaut, um das Überleben einer Art zu ermöglichen. Und dass beim Überleben einer Art Empathie eine nützliche Rolle spielen kann, das steht außer Zweifel. Nur: Das Gehirn ist sozusagen nicht komplett getunt auf Empathie, das Gehirn ist getunt auf eine möglichst generalisierte Funktion, die es erlaubt, auch Empathie zu ermöglichen."

    Für Karl Zilles bleibt eine Erklärungslücke: Seele und Gehirn sind nicht wirklich deckungsgleich.

    "Ich denke schon, dass wir verstehen können, was denn die notwendigen Voraussetzungen sind, um Empathie verstehen zu können, dass wir also die neurobiologischen Grundlagen für die Fähigkeit, Empathie zu empfinden, herausfinden können. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass wir dann immer noch nicht komplett verstanden haben, was Empathie ist. Wir kennen also den wirklichen Gehirncode nicht, wir haben ihn nicht verstanden. Wir können zwar messen Aktionspotenziale und Muster von Aktionspotenzialen, dann haben wir sozusagen das Morsealphabet untersucht. Aber wir haben immer noch nicht verstanden, was in der Morsebotschaft wirklich drin steht. Und das bedeutet also, dass wir bei jeder Interpretation von bildgebenden Verfahren, denen wir Funktionen unterlegen, vorsichtig sein müssen. Denn die Funktionsbeschreibung ist eine neuropsychologische, die Ergebnisse der Bildgebung sind Repräsentationen von molekularen Prozessen und diese beiden Kategorien sind nicht notwendigerweise identisch"

    Der Weg der modernen Hirnforschung ist noch lange nicht zu Ende. Im Rückblick jedenfalls lehrt das Beispiel Korbinian Brodmanns: die Neurowissenschaft braucht nicht nur gute Kartierungsmethoden. Zilles:

    "Auch, wenn man so will, eine Kritikfähigkeit, die man nie verlieren sollte."